Asset-Herausgeber

Vernachlässigung des Selbstverständlichen

Infrastrukturen als unerlässliches Gerüst für Staat und Gesellschaft

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Infrastrukturen sind für Staat und Gesellschaft die unerlässliche Basis unseres Zusammenlebens. Auf ihr Bestehen und Funktionieren vertraut jeder wie selbstverständlich. Werden sie vernachlässigt, leidet das gesamte Gemeinwesen. Fehlen sie vollständig, zerfallen Gesellschaften, brechen Märkte ein, gerät der innere Frieden in Gefahr. Der Abbau erfolgt schleichend, ohne anfangs wahrgenommen zu werden. Dieser Beitrag möchte auf Fehlentwicklungen in Deutschland hinweisen, denen frühzeitig zu begegnen ist, um die Chance zu eröffnen, für die Zukunft gerüstet zu sein.

Die Gesundheitsverwaltung steht derzeit besonders im Blick der Öffentlichkeit. Die Coronakrise hat deutlich gemacht, dass in diesem Bereich nachjustiert werden muss, denn zeitgenaue Meldeketten fehlen, die Digitalisierung lässt zu wünschen übrig und konkrete Eindämmungsvorschläge lassen oft auf sich warten. In der Energieversorgung werden für den Klimaschutz die Atom- und Kohleenergie künftig ausgeschlossen, obwohl eine belastbare Ausstattung mit Photovoltaik oder Windenergie noch fehlt. Die Verkehrsinfrastruktur von Straßen und Schienen ist überlastet; sie bedarf der Sanierung und des Ausbaus. Die Rentenversicherung richtet sich allein an der aktuellen Versorgung aus, ohne die Generationengerechtigkeit zu berücksichtigen.

Diese wenigen Beispiele zeigen, dass gewaltige Infrastrukturmaßnahmen erforderlich sind, um unseren Staat wieder fit und aktionsfähig zu machen.

Erforderlich ist eine grundlegende Neuausrichtung der Politik, die neben situationsbezogenen Lösungen akuter Einzelprobleme die strukturelle Kontinuität des Gemeinwesens als Schwerpunktaufgabe ins Visier nimmt. Das ist freilich weniger spektakulär als schnelle Lösungen in einer Krise, verspricht aber auf Dauer größeren Gewinn für Staat und Gesellschaft.

 

Gefährdete Finanzstrukturen

 

Staaten und Zentralbanken bestimmen über die Entwicklung des Euros. Er ist wegen unterschiedlicher Geldpolitiken ins Schlingern geraten. Während die Nordschiene der Eurostaaten auf Geldwertstabilität pocht, gewinnen die südlichen Euroländer mit ihrer Politik des billigen Geldes und niedriger Zinsen zurzeit die Oberhand. Als Währung einer Geldunion ist das Euro-System organisatorisch recht labil, bedarf aber straffer supranationaler Regelungen. Wenn sich allerdings die Staaten entgegen der Vertragsbedingungen zu günstigen Konditionen bei der Europäischen Zentralbank (EZB) refinanzieren, häufen sich immer höhere Schulden auf. Zudem mutiert die Europäische Union (EU) selbst allmählich zur Schuldenunion. Dass dieses Währungssystem nicht stabil bleiben wird, dürfte abzusehen sein.

Artikel 110 Grundgesetz (GG) verlangt vom Bund, alle Einnahmen und Ausgaben in einem einjährigen Etat zusammenzufassen. Ziel ist ein Gesamtplan, der dem Parlament das gesamte Finanzgebaren des Staates transparent darlegt. Private Gesellschaften in Staatshand, öffentliche Sondervermögen und aus vergangenen Haushaltsjahren übergeleitete Kreditreste unterlaufen diese Haushaltseinheit. Zwar werden Nebenhaushalte zuweilen notwendig; wo ihnen aber ein Sachgrund für die Separierung vom Gesamtplan fehlt, kann der Staatsetat seinen verfassungsrechtlichen Zweck nicht demokratiegerecht erfüllen.

In diesem Punkt Abhilfe zu schaffen, fällt allerdings schwer. Ein Mehr an direkter Demokratie, etwa durch obligatorische Referenden für gravierende Änderungen, wie für Schuldenaufnahmen oder Novellierungen der EU-Verträge, könnte dem verantwortlichen Gesetzgeber wieder neuen Elan verleihen.

Meist verändern sich Infrastrukturen unbemerkt, vor allem bei technischen Einrichtungen. Nach ihrer Errichtung wird ihrem Bestand nicht mehr die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. Ihr aktuelles Funktionieren gilt unbedenklich als Garant künftiger Verfügbarkeit. Technische Infrastrukturen sind jedoch besonders vulnerabel. Brücken, Schienen, Straßen und Kraftwerke haben eine begrenzte Haltbarkeit und bedürfen steter Unterhaltung. Für sie zu sorgen, bringt wenig politische Popularität, denn sie gilt als selbstverständliche Alltagsaufgabe. Technische Infrastrukturen sind deshalb vorrangig in den Blick zu nehmen.

Um Abhilfe zu schaffen, sind in erster Linie die Medien gefragt, die den Fokus ihrer Berichterstattung auf solche Entwicklungen lenken könnten. Aber auch die Verwaltung ist gefordert; sie müsste, statt zu schweigen, mit eigenständigem Beamtenethos mehr Aufmerksamkeit von der Politik und den Parlamenten einfordern.

 

Vertrauen in den Markt

 

Wir gehen zu Recht davon aus, dass sich freie Märkte hinreichend selbst organisieren. Die Nachfrage der Kunden bietet den Unternehmen ein klares Ziel, ihr Gewinnstreben sorgt für effiziente Versorgung und günstige Preise. Ihnen kann der Staat die notwendigen Infrastrukturen dafür überlassen. So versorgen sie ohne Probleme die Bevölkerung in privater Organisation mit Lebensmitteln. Eingreifen muss der Staat allerdings in Oligopolstrukturen und Notsituationen, wie etwa in der Containerkrise beim Abreißen globaler Lieferketten für eine „Just-in-time“-Produktion. Wo private Infrastrukturen dennoch Risiken für die Versorgung bergen, genügen staatliche Regulierungsaufsicht, private Eigensicherung, gesetzliche Betreiberpflichten oder „Stresstests“ bei Banken gegen Ausfall. Solche Märkte kann der Staat im berechtigten Vertrauen in der Regel der freien Wirtschaft überlassen, denn sie funktionieren aus Eigeninteresse ihrer Betreiber von selbst. Voraussetzung ist allerdings immer, dass sie sich für den privaten Betreiber lohnen; sonst steigt er aus.

Ursprünglich funktionsfähige Infrastrukturen können mit der Zeit untauglich werden oder sogar ausfallen. Die schiere Quantität ihrer Benutzung überfordert sie. Regelmäßige Staus auf der Autobahn, eine in Personal und Gerätschaften unzureichende Ausstattung von Krankenhäusern, eine Deutsche Bundesbahn, deren Fahrplan aus den Fugen gerät, belegen die Misere.

Abhilfe können die Berechnung der Nutzungsdauer und eine Prognose ihrer zukünftigen Auslastung schaffen. Dazu wären aber zeitumfassende Masterpläne gefordert.

Solche Überlastungen bestehen auch in der Rechtsetzung. Nach Artikel 12 des Vertrags über die Europäische Union (EU-Vertrag, EUV) beteiligen sich die nationalen Parlamente „aktiv“ an der europäischen Rechtsetzung und bringen mitgliedstaatliche Belange in das europäische Recht ein. Artikel 23 GG verlangt vom deutschen Parlament die Mitwirkung in Angelegenheiten der Europäischen Union, der Bundestag erhält Gelegenheit zur Stellungnahme zu ihren Rechtsetzungsakten. Ein fundiertes Eingehen auf europäische Normentwürfe dürfte in der Praxis jedoch nicht vorhanden sein: Die schiere Masse der ihm zugesandten EU-Dokumente verhindert eine effektive Prüfung. Dem Bundestag sind beispielsweise zwischen Oktober 2013 und Oktober 2016 insgesamt 64.285 EU-Dokumente übermittelt worden. Diese Menge konnte er wohl kaum mit eigenen Verwaltungskräften sorgfältig durchforsten. Gerade die Gesetzentwürfe und Planungen der Europäischen Union bedürfen aber einer vorausschauenden und sorgfältigen Prüfung, um nationale Interessen in den europäischen Willensbildungsprozess wirksam artikulieren zu können.

Dieser Informationsfluss zwischen Europäischer Union und deutschem Mitgliedstaat bedarf größerer Aufmerksamkeit; der Bundestag muss dafür besser ausgestattet werden. So würde auch der öffentliche Diskurs über EU-Vorhaben angeregt und die Öffentlichkeit besser in die politische Diskussion eingebunden.

 

Generationenübergreifende Nachhaltigkeit

 

Eine weitere Frage ist die Stabilität aktuell gut funktionierender Infrastrukturen in der mittel- und langfristigen zeitlichen Perspektive. Rentensysteme müssen schon heute ihre monetäre Situation für künftige Generationen einbeziehen, die Staatsverschuldung hat bereits jetzt die Zins- und Tilgungsbelastung in kommenden Haushaltsjahren zu beachten, der Klimaschutz muss schon heute den völligen Ausstieg aus der fossilen Energie anstreben. Im Klimaschutz geht es zurzeit zwar deutlich voran. Aber wo bleiben ein Generationenfaktor in der Rentenversicherung und eine Bremse für ausufernde Staatskredite, die künftigen Generationen ihre finanzielle Freiheit sichert? Lebt die Gegenwart auf Kosten der Zukunft, kann von sicherer Infrastruktur kaum noch die Rede sein.

Abhilfe würden vermutlich nur deutlich konturierte Verfassungsregeln mit intertemporaler Wirkung schaffen, welche die Tagespolitik fester an die Nachhaltigkeit binden.

Aus den unterschiedlichsten Gründen werden lebenswichtige Strukturen der Gesellschaft vernachlässigt. Der Trend geht dahin, lieber Neues politisch zu planen, als den Bestand zu erhalten. Den Wähler interessieren eher tatkräftige Aktionen als die Unterhaltung bestehender Grundausstattungen. Die Medien belohnen spektakuläre Aktionen mit mehr Aufmerksamkeit als das sorgfältige Verwalten und Erhalten staatlicher Einrichtungen. Das führt zu einer Tendenz der Schwächung von Infrastrukturen, obwohl sie jeder als selbstverständlich voraussetzt und sie für Gesellschaft und Staat lebenswichtig sind. Es ist an der Zeit, den deutschen Staat fit für die Zukunft zu machen. Er muss sich wieder mehr dem „starken langsamen Bohren dicker Bretter“ zuwenden, anstatt in der Tagespolitik zu verharren. Bürger und Gesellschaft haben einen Anspruch auf einen Staat, der sichere und strapazierfähige Infrastrukturen aufweist. Wer für die Zukunft gewappnet sein will, muss auch in seinen Infrastrukturen stark sein und Reserven bilden.

Ferdinand Kirchhof, geboren 1950 in Osnabrück, Jurist, Rechtswissenschaftler, ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts.

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