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Warum wir Reformen in der Steuer- und Sozialpolitik brauchen

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Die aufgeregten Debatten um Flüchtlinge, Steuern oder Rente erwachsen aus einem gemeinsamen Kern: wirtschaftlichen Zukunfts- und Abstiegsängsten in der gesellschaftlichen Mitte. Trotz neuer Rekorde bei den Beschäftigungszahlen ist es die Angst vor Arbeitslosigkeit, Verdiensteinbußen oder Altersarmut. Das Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik hat sich beispielsweise mit dem Pessimismus im Hinblick auf die Rente beschäftigt: Mehr als ein Drittel der Befragten geht mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit – über siebzig Prozent – davon aus, im Alter auf Grundsicherung angewiesen zu sein. Abstiegsängste haben die Mittelschicht erreicht. Doch warum ist das so?

Ein Erklärungsansatz kann in den Nachwirkungen der Reformen der 2000er-Jahre gefunden werden. In Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und klammen Sozialkassen waren diese nötig geworden. Nur zur Erinnerung: Die Rentenkasse musste 2005 zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte auf die sogenannte Bundesgarantie zurückgreifen. Die Rentenversicherung war also auf einen Kredit des Bundes angewiesen, um die Renten pünktlich auszahlen zu können. Gleichzeitig waren die Empfängerzahlen von Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung auf einem Allzeithoch. Vor diesem Hintergrund wurden maßgebliche Veränderungen an den Sozialsystemen und der Arbeitsmarktregulierung vollzogen. Zur Wahrheit gehört dabei, dass diese in vielen Bereichen mit Einschnitten beim Sicherungsniveau verbunden waren.

In Ost und West wurden dadurch sozioökonomische Existenzängste manifestiert, die in der Mittelschicht zuvor weitgehend unbekannt waren. Während ein signifikanter Teil der Erwerbslosigkeit zuvor in der Sozialhilfe versteckt war und damit breiten Bevölkerungsschichten wenig offenbart wurde, ist dieses Phänomen durch Hartz IV sichtbar geworden. Diese Transparenz, die von der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ausgelöst wurde, hat jedermann, gerade in der wirtschaftlichen Mitte, vor Augen geführt, dass er vor sozialem Abstieg nicht gefeit ist. Heute ist das Hartz-IV-System in breiten gesellschaftlichen Schichten wohlbekannt, sei es aufgrund eigener Erfahrungen oder weil im eigenen Umfeld und den Medien darüber gesprochen wird.

 

Übertriebene Ängste?

Neben diesen nachvollziehbaren Gründen einer neuen Verunsicherung hat sich mit den Renten- und Sozialreformen auch eine Art kollektives Ohnmachtsempfinden in die Köpfe der Mittelschicht eingebrannt, das in vielen Bereichen übertrieben erscheint. Beispiel Altersarmut: Die wiederkehrende Debatte um ein sinkendes Rentenniveau und um niedrige Zinsen verunsichert die Menschen zutiefst. Übersehen wird dabei, dass mit der Grundsicherung gerade ein System vorhanden ist, das vor Armut im Alter schützt. Selbstverständlich soll die Bedürftigkeit im Alter die Ausnahme bleiben, gleichwohl wird der Eindruck vermittelt, dass in Zukunft das Gros der Rentner ins Bodenlose zu fallen drohe. Ein Blick in die Zahlen zeigt jedoch: Altersarmut ist und bleibt kein Massenphänomen. Zwar liegen fünfzig Prozent der Renten unter 700 Euro, doch daraus eine flächendeckende Bedürftigkeit im Alter abzuleiten, wäre weit gefehlt. In dieser Gruppe sind nur etwa drei Prozent auf Grundsicherung angewiesen. Bei allen anderen Altersgruppen zusammen ist es jeder Zehnte. Geringe Renten sind per se kein Indiz für Altersarmut, denn in den meisten Haushalten steht dem eine andere zusätzliche Absicherung gegenüber. Rentenansprüche unter 500 Euro machen laut Alterssicherungsbericht nur zehn bis dreißig Prozent des Gesamt-Haushaltseinkommens aus. Die ausgeprägte Angst vor Altersarmut scheint mindestens in der heutigen Zeit einem Faktencheck also nicht standhalten zu können.

Beispiel Arbeitslosigkeit: Noch immer ist die Angst vor Arbeitslosigkeit, im Speziellen die Angst vor Hartz IV, in der gesellschaftlichen Mitte verbreitet. Daran knüpfen immer häufiger Forderungen an, das Arbeitslosengeld möglichst über einen längeren Zeitraum zu gewähren oder den Anspruch auf Arbeitslosengeld – statt Hartz IV – auszuweiten. Richtig ist, dass im System der Arbeitslosenversicherung die Betroffenen ihre Bedürftigkeit nicht nachweisen müssen. Selbstverständlich ist es angenehmer, wenn die Behörde keine Prüfung der Vermögens-, Einkommens- oder Lebenssituation vornehmen muss. Die Furcht der Menschen, eines Tages in dieses untere Sicherungsnetz zu rutschen – sprich: „die Hosen runterlassen“ zu müssen –, ist jedoch in einem Umfeld von Rekordbeschäftigung und niedrigster Arbeitslosigkeit überzogen. Zum Hintergrund: Die Arbeitslosigkeit unter Akademikern liegt konstant knapp über zwei Prozent und bei Fachkräften mit beruflicher Ausbildung bei 4,9 Prozent. Das kommt der Vollbeschäftigung sehr nahe.

 

„German Jobwunder“

Die Dritte Verunsicherung ist die Inflationsangst. Eng damit verknüpft ist das unterschwellige Empfinden, dass vom Einkommen immer weniger übrigbleibt beziehungsweise spiegelbildlich, dass die Lebenserhaltungskosten rapide steigen. In der Tat kam die Bundesrepublik aus einer Phase des Lohnverzichts. So blieben Löhne in den frühen 2000er-Jahren in Deutschland nahezu konstant. Die Volkswirtschaftslehre stellt in diesem Zusammenhang auf die sogenannte Reallohnentwicklung ab, sprich: die Lohnsteigerungen abzüglich der Inflation. Deren Entwicklung war von 2000 bis 2005 nur moderat positiv und danach bis 2008 sogar im leicht negativen Bereich. Gleichwohl legen die Beschäftigungszahlen wie auch die Löhne seit der Finanzkrise ordentlich zu. Dieser Effekt, der im Vergleich mit den führenden Industrienationen einmalig ist, wird in der internationalen Presse als das „German Jobwunder“ beschrieben.

Die Menschen haben also eigentlich deutlich mehr Geld in der Tasche als noch vor einigen Jahren. Dazu tragen auch die außerordentlich niedrigen Inflationsraten der vergangenen Jahre bei. Woher kommt nun also der gefühlte Kaufkraftverlust? Eine Erklärung könnte sein, dass allgemein Wohlstandsgewinne weniger stark wahrgenommen werden als Wohlstandsverluste. Vielleicht steigen mit den Möglichkeiten auch die Ansprüche? Wie selbstverständlich wird heute hingenommen, dass es mehr Smartphones als Einwohner in Deutschland gibt. Die Zahl der zugelassenen Fahrzeuge steigt jedes Jahr um mehr als ein Prozent. Und so gehört die „Rostlaube“ im Stadtbild zu den aussterbenden Arten. Auch muss man in keinem anderen europäischen Land einen so geringen Anteil des Haushaltseinkommens für Lebensmittel vorhalten wie bei uns. Gleichzeitig ist das Warenangebot im Supermarkt, ja sogar im Discounter, heute so vielfältig wie nie zuvor. Exotische Früchte, europäische Spezialitäten und sogar Feinkost gehören mittlerweile zum Standardangebot. Leider kapriziert sich die öffentliche Debatte allzu gern auf Einkommens- unterschiede in der Gesellschaft, aber dem schrumpfenden Kons- umunterschied wird wenig Rechnung getragen. Dabei ist intuitiv klar: Der Unterschied, ob man früher ein Radio oder einen Fernseher im Haushalt hatte, ist qualitativ wohl kaum mit dem Unterschied vom Röhren- zum Flachbildschirm zu vergleichen. Früher waren Flugreisen nahezu ausschließlich ein Thema der Oberschicht, heute sind sie ein Massenphänomen. Einzig der Economist hat es – zugespitzt – einmal so auf den Punkt gebracht: „Der Unterschied, einen gebrauchten Hyundai Elantra zu fahren oder einen neuen Jaguar XJ, ist im Vergleich mit dem Unterschied zwischen Autofahren oder durch den Schlamm zu stapfen völlig unbedeutend.“

 

Berechtigte Befürchtungen

Neben den belegbar zu relativierenden Abstiegsängsten bleiben auf der anderen Seite bestimmte Strukturen in Deutschland, die tatsächlich Abstiegsängste zu befördern scheinen. Im Steuer- und Transfersystem haben in den letzten Jahrzehnten besonders in den unteren und mittleren Einkommenssegmenten Verschiebungen stattgefunden, die sicher nicht zur Selbstsicherheit der Mittelschicht beigetragen haben. Während die Steuerkurve bei den kleinen Einkommen immer steiler wurde und damit die Belastung dieser Gruppe schneller stieg, wurden gleichzeitig vielfältige Sozialtransfers erdacht oder ausgeweitet. Den Menschen mehr zu nehmen, um ihnen anschließend mehr zurückzugeben, ist aus Sicht des Staates ein „Rechte-Tasche-Linke-Tasche-Spiel“. Das führt aber zu einer Verunsicherung bestimmter Bevölkerungsgruppen durch die provozierte Bedürftigkeit. Wer in Deutschland als Single mit 1.400 Euro gerade den Mindestlohn verdient, der muss dennoch knapp siebzig Euro Steuern abführen. In der Arbeitsmarktordnung definieren wir also darunterliegende Verdienste als zu gering, im Steuerrecht hingegen als hoch genug, dass man davon Steuern schultern kann, und schließlich hält das Sozialrecht das resultierende Nettoeinkommen für zu gering, sodass ein Anspruch auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen oder Wohngeld entsteht. Dieser Beispielverdiener muss selbstredend auch Krankenversicherungsbeiträge abführen und ist von den Zuzahlungen für Gesundheitsleistungen betroffen. Gleichzeitig erfüllt er sehr schnell die Voraussetzungen, um sich davon direkt wieder befreien zu lassen, wenn die Kosten mehr als zwei Prozent des Einkommens übersteigen. Das alles ist verkehrte Welt.

Dieses Grundproblem setzt sich auch bei mittleren Familieneinkommen fort. Vor Kurzem wurde die Wirksamkeit der etwa 160 (!) familienpolitischen Maßnahmen in der Bundesrepublik kritisch hinterfragt. Es existiert also auf der einen Seite ein vielfältiger Blumenstrauß an Familienleistungen und auf der anderen Seite werden die Familien über Doppelprogressionen stark belastet. Derzeit wird deshalb folgerichtig die steuerliche Belastung der Mittelschicht über Parteigrenzen hinweg als problematisch eingestuft. In den meisten Bundesländern sind Familien mit kleinen Kindern über die Staffelungen bei den Kita-Gebühren sogar zusätzlich betroffen. Solche nach Einkommen gestaffelten Gebühren und die weiteren Sozialabgaben verschärfen die Steuerprogression, die dann als Doppelprogression wahrgenommen wird. Auch hier führt der Ansatz „nehmen, um zurückzugeben“ zu einer Verunsicherung der Mittelschicht. Diese muss zunächst die Belastungen stemmen und mutiert dann, durch den Zwang, unterstützende Transfers zu beantragen, vom Leistungsträger zum Bedürftigen.

Ebenso in der Altersvorsorge. Den Menschen wurde gesagt, dass nur durch zusätzliche private und/oder betriebliche Altersvorsorge eine lebensstandardsichernde Rente zu erwarten ist. So weit, so gut. Deshalb wurden Anreize in Form von Steuer- und Abgabenbefreiung, Steuererleichterungen sowie Zuschüssen geschaffen. Doch in einer Zeit, in der immer mehr Verträge in die Auszahlungsphase kommen, folgt die gefühlte „Quittung“. Mit unvorteilhaften Steuerpauschalen, Verbeitragungen, in manchen Fällen sogar einer Doppelverbeitragung – weil sowohl in der Anspar- als auch in der Auszahlphase Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge fällig werden –, fühlen sich viele Rentner in eine Falle gelockt. Dass in diesen Tagen die Riester-Rente pauschal als „gescheitert“ verunglimpft wird, trägt jedenfalls nicht dazu bei, Vertrauen zurückzugewinnen. Hinzu kommt, dass Rentenansprüche derzeit bei der Grundsicherung im Alter voll angerechnet werden. Doch wer das Risiko vor Augen hat, dass er im Alter auf die Grundsicherung angewiesen sein könnte, kommt häufig zu dem Schluss, dass sich der Abschluss einer betrieblichen oder privaten Vorsorge für ihn nicht rechnet. Ein Effekt, der zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung führen kann.

 

Warum Umsteuern wichtig ist

Deutschland kommt aus einer Phase, in der das politische Augenmerk berechtigterweise auf der Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit gelegen hat. Dabei wurde die Mittelschicht allerdings allzu oft vernachlässigt. Schlimmer noch: So manche Reform hat Abstiegsängste erst geschürt. Deshalb sollte nun eine Phase folgen, in der die Mitte der Gesellschaft stärker ins Zentrum rückt. Ein erster, großer Schritt wäre schon damit getan, den Dschungel verschiedener und konkurrierender Regelungen zu bereinigen. So sollte das Auftreten von Steuer- und Abgabenpflicht bei gleichzeitigem Anspruch auf Sozialtransfers eine Ausnahme bilden. Dafür müsste auch der sogenannte Mittelstandsbauch im Steuerrecht abgeflacht, das heißt die stark steigende Belastung der unteren und mittleren Einkommen zurückgefahren werden.

Zudem sind strukturelle Reformen der Sozialsysteme nötig, die auf die Effizienz der Systeme abzielen und weniger der Utopie einer flächendeckenden Einzelfallgerechtigkeit nachhängen. Die Fehlanreize, wie sie hier beispielsweise bei den Familienleistungen oder im Rentensystem beschrieben sind, sollten stärker in den Fokus rücken als der Wunsch nach neuen Leistungen.

Die Politik muss dem mündigen Bürger wieder mehr Vertrauen entgegenbringen, denn er weiß selbst am besten, wie er mit seinem Geld umgeht. Im Zentrum der Sozialen Marktwirtschaft stand der berühmte Satz von Ludwig Erhard: „Ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal verantwortlich sein. Sorge du, Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin.“ Eine politische Rückbesinnung auf dieses Leitbild könnte eine Menge dazu beitragen, dass die Verunsicherung der Mittelschicht zurückgeht.


Thomas Köster, geboren 1982 in Paderborn, Volks- und Betriebswirt, Koordinator Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in der Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.


Literatur

Böhmer, Michael / Ehrentraut, Oliver / Heimer, Andreas / Henkel, Melanie / Ohlmeier, Nina / Poschmann, Katharina / Schmutz, Sabrina / Weisser, Johannes: „Gesamtevaluation der ehe- und familienbezogenen Maßnahmen und Leistungen in Deutschland“, Auftraggeber: Bundesministerium der Finanzen und Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bonn/Berlin 2014, siehe https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/gesamtevaluation-der-ehe-und-familienbezogenen-massnahmen-und-leistungen-in-deutschland-96084 [13.09.2016].

Bundesregierung: Alterssicherungsbericht 2012. Ergänzender Bericht der Bundesregierung zum Rentenversicherungsbericht 2012, Berlin 2012.

Gasche, Martin / Lamla, Bettina: Erwartete Altersarmut in Deutschland: Pessimismus und Fehleinschätzungen – Ergebnisse aus der SAVE-Studie, MEA Discussion Papers, 264, Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, München 2012.

Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB: Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten. Aktuelle Daten und Indikatoren, 12/2015, Nürnberg 2015, http://doku.iab.de/arbeitsmarktdaten/qualo_2015.pdf [13.06.2016].

Kahneman, Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken, Siedler Verlag, München 2012.

The Economist: „The new (improved) Gilded Age”, 19.12.2007, London, www.economist.com/node/10328935 [13.06.2016].

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