Asset-Herausgeber

Warnung vor pazifistischen Blütenträumen

von Patrick Keller

Zum 50. Jahrestag des Atomwaffensperrvertrags

Asset-Herausgeber

Am 12. Juni 1968 nahm die Vollversammlung der Vereinten Nationen den Text des Atomwaffensperrvertrags, des bis heute wichtigsten internationalen Vertrags zur Rüstungskontrolle, an. Am 1. Juli 1968 unterzeichneten die Vereinigten Staaten von Amerika, die Sowjetunion und Großbritannien den „Treaty on the NonProliferation of Nuclear Weapons“, kurz: Non-Proliferation Treaty (NPT). Zu diesem Zeitpunkt fehlten vierzig weitere Staaten, um den Vertrag in Kraft treten zu lassen – das wurde am 5. März 1970 erreicht. Ursprünglich auf 25 Jahre befristet, wurde der NPT 1995 mit offenem Zeithorizont verlängert.

Der Abschluss dieses Vertrags war ein Meisterstück internationaler Diplomatie, weil er einen Beitrag zur Einhegung der zerstörerischsten Waffe, die die Menschheit jemals entwickelt hat, leistete – der Atombombe. Die Entstehung des NPT markierte den Endpunkt einer Bedrohungslage, die im Erschrecken der Welt über den Einsatz amerikanischer Atomwaffen gegen Japan ihren Anfang nahm. Nachdem erste diplomatische Initiativen zur Begrenzung nuklearer Rüstung 1946 an den Interessengegensätzen der Supermächte gescheitert waren, nahm die Bewegung 1953 mit der Idee von US-Präsident Dwight D. Eisenhower, „Atoms for Peace“, neuen Schwung auf: 1957 wurde die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) gegründet, die die Nutzung der Nukleartechnologie für ausschließlich zivile Zwecke bewerben und überwachen soll. 1962 verdeutlichte die Kubakrise die Gefahren nuklearer Bewaffnung und zeigte, wie unübersichtlich die Eskalationsdynamik der Abschreckung bereits zwischen zwei Nuklearwaffenstaaten ist und wie groß die Risiken eines Unfalls oder Missverständnisses sind. Dem setzte die internationale Staatengemeinschaft den NPT entgegen.

Im Kern verbrieft der NPT einen Handel zwischen den Nuklearwaffenstaaten (NWS) – also Staaten, die bis zum 1. Januar 1967 eine Nuklearwaffe gebaut und getestet haben: USA, Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich, China – und den Nicht-Nuklearwaffenstaaten. Die Nicht NWS erklären, weiterhin auf eine nukleare Bewaffnung zu verzichten, dürfen aber die Atomenergie für zivile Zwecke nutzen und müssen dabei von den NWS unterstützt werden. Zugleich verpflichten sich die NWS, auf die Beendigung nuklearer Rüstungswettläufe und die Abrüstung ihrer Atomwaffen hinzuwirken.

Erfolgreiche Nichtverbreitung

Heute haben 191 Staaten diesen Vertrag unterzeichnet, seit 1992 auch die Atommächte China und Frankreich. Mit dem Ende des Kalten Krieges und des Apartheidregimes in Südafrika kam es zur letzten großen Beitrittswelle. Südafrika verzichtete auf sein (kleines) Nukleararsenal, und frühere Staaten der Sowjetunion wie die Ukraine gaben im Gegenzug für die Sicherheitsgarantien des Budapester Memorandums die auf ihrem Territorium stationierten Nuklearwaffen an die Sowjetunion beziehungsweise Russland ab. So haben heute nur vier Staaten den NPT nicht unterzeichnet: Indien, Pakistan, Israel und Südsudan. Nordkorea, das 1985 beigetreten war, machte 2003 von der Ausstiegsklausel Gebrauch.

Mit Ausnahme des nichtnuklearen Südsudan sind dies die einzigen Staaten, die sich seit Beginn des NPT-Regimes nuklear bewaffnet haben – Indien 1974, Pakistan 1984 und Nordkorea 2006. (Israel, das vermutlich seit 1963 über Nuklearwaffen verfügt, hat sich nie offiziell zu diesen bekannt.) Gemessen daran, dass beispielsweise John F. Kennedy 1963 noch öffentlich die Meinung vertrat, dass sich im Laufe der 1970erJahre bis zu 25 Staaten Nuklearwaffen beschaffen und damit die internationale Stabilität in Gefahr bringen würden, war die nukleare Nichtverbreitung erstaunlich erfolgreich.

Unter Fachleuten ist umstritten, ob dieser Erfolg dem NPT oder nicht vielmehr den Sicherheitsgarantien der USA für ihre Verbündeten in der NATO und der Asien-Pazifik-Region zuzuschreiben ist, die deren kostspielige nukleare Bewaffnung überflüssig machten. Sicher ist jedoch, dass der NPT die völkerrechtliche Grundlage für Inspektions- und Sanktionsregime bildet, die beispielsweise die Nuklearwaffenprogramme Irans und Libyens verlangsamt beziehungsweise beendet haben.

Zudem haben der NPT und seine im Fünf-Jahres-Rhythmus stattfindenden Review-Konferenzen internationale Aufmerksamkeit auf die nukleare Nichtverbreitung fokussiert und weitere, diesbezügliche Instrumente wie den Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen (seit 1996 in der Ratifizierung) und das Zusatzprotokoll der IAEO (1997) ermöglicht.

Fortwährende Schwächen

Die Schwachstellen des NPT bieten dennoch immer wieder Anlass zur Kritik. Insbesondere der Fall Nordkorea zeigt die beschränkte Wirksamkeit des Vertrages: Diesem Staat ist es gelungen, die Voraussetzungen für seinen Nuklearmachtstatus zu erwerben, während er dem Vertrag noch verpflichtet war. Als die Ermahnungen und legalistischen Bedenken lästig wurden, trat Nordkorea aus dem Vertrag aus. Heute ist Pjöngjang im Besitz von Nuklearwaffen, die es regelmäßig testet und mit deren Einsatz es droht. Auch andere Staaten entwickelten sich während ihrer Mitgliedschaft im NPT zu Nuklearmächten und konnten, wie zum Beispiel Irak und Syrien, nur durch militärische Präventivschläge außerhalb des NPT-Regimes von der nuklearen Bewaffnung abgehalten werden. Jeder Vertrag kann verletzt werden; aber der NPT begünstigt verschleierte Aktivitäten, die seinem Geist zu widerlaufen, weil er explizit für die zivile Nutzung der Nuklearenergie wirbt und zu wenige Kontrollmechanismen vorhält, die den Sprung zur militärischen Nutzung rechtzeitig anzeigen und verhindern.

Eine andere, oft geäußerte Kritik am NPT betrifft die unzureichende Einwirkung auf die NWS, ihren im Vertrag fest gehaltenen Abrüstungsverpflichtungen stärker nachzukommen. Dazu gehört auch der häufig gehörte Vorwurf, dass die USA mit ihrer Politik der nuklearen Teilhabe – also der Stationierung eigener Atomwaffen auf dem Territorium verbündeter Staaten, die im Gegenzug im Ernstfall dabei helfen, diese Waffen ins Ziel zu bringen – gegen das NPT-Prinzip der Nichtweitergabe nuklearer Waffen verstoßen. Dem setzen die USA entgegen, dass sie – wie auch die Sowjetunion und später Russland – seit dem Ende des Kalten Krieges mehr als achtzig Prozent ihres nuklearen Arsenals abgebaut haben und die nukleare Teilhabe keine Weitergabe von Atomwaffen bedeutet, da die Waffen (bis zu einem etwaigen Kriegsfall, in dem die Bedingungen des NPT ohnehin hinfällig wären) unter amerikanischer Kontrolle stehen. Während der NPT-Review-Konferenzen sind es derartige, oft ideologisch gefärbte Streitigkeiten, die einstimmige Schlussdokumente und konsequente Schritte zur Bekämpfung der Weiterverbreitung von Nuklearwaffen und entsprechender Technologie verhindern und damit die Wirksamkeit des NPT weiter einschränken.

Die Grundprobleme der Nuklearpolitik kann der NPT nicht lösen. So bleiben Nuklearwaffen für viele Staaten beziehungsweise ihre Machthaber attraktiv, weil sie einer Überlebensversicherung gleichkommen. Zumindest haben sie eine hohe abschreckende Wirkung auf Interventionen von außen und insbesondere auf Aggressionen, die lediglich vom Wunsch nach regime change getrieben sind. Atomwaffen helfen zudem, den Machtanspruch und den Selbstbehauptungswillen eines Staates zu unterstreichen.

Der NPT kann ebenfalls nichts daran ändern, dass das Wissen um nukleare Waffen in der Welt ist. Das bedeutet, dass jederzeit unter Aufwendung ausreichender Ressourcen neue Nuklearwaffen gebaut werden könnten. Die völlige, weltweite Überwachung zur Verhinderung solcher Rüstung, gerade unter der Bedingung der legalen zivilen Nutzung der Kernenergie, ist unmöglich.

„Renaissance“ der Nuklearwaffen

Aktuell befinden wir uns in einer Zeitphase sich verschärfender zwischenstaatlicher Konflikte. Die Beispiele reichen von Russlands völkerrechtswidriger Annexion der Krim über Chinas Muskelspiele im Südchinesischen Meer bis zum metastasierenden Krieg in Syrien. Die Ursachen dieser neuen Konfliktfreudigkeit liegen in langfristigen Machtverschiebungen im internationalen System sowie in den Folgen technologischer Entwicklungen für die Globalisierung sowie für gesellschaftliche und internationale Ordnungsfragen. So unterschiedlich die einzelnen Konflikte in ihren Ausprägungen sind, tragen sie dennoch insgesamt zu einer „Renaissance“ der Nuklearwaffen bei. Das zeigt sich etwa in der umfassenden russischen Modernisierung und in den strategischen Überlegungen der Nuclear Posture Review der USA aus dem Februar 2018.

Es ist verführerisch, auf diese neue Komplexität einfache Antworten zu geben, die zudem einen beglückend moralischen Beigeschmack haben. Das kündigte sich mit Barack Obamas „Global Zero“ Initiative zur Abschaffung aller Atomwaffen weltweit an, die zwar an den politischen Realitäten zerschellte, dem amerikanischen Präsidenten jedoch allein für die bloße Ankündigung einen Friedensnobelpreis eintrug. Noch einen Schritt weiter ging die ebenfalls mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Kampagne zum weltweiten Nuklearwaffenverbot (International Campaign to Abolish Nuclear Weapons, ICAN), auf deren Betreiben die Vollversammlung der Vereinten Nationen im Juli 2017 den Vertrag zum Verbot von Nuklearwaffen in Kraft setzte.

Das Ziel der Abschaffung aller Nuklearwaffen ist ehrwürdig, und dass es nun auf so plakativem Wege angestrebt wird, zeigt die Unzufriedenheit mit den Unzulänglichkeiten des NPT. Allerdings wird das angestrebte Nuklearwaffenverbot keinen Beitrag zur weiteren Abrüstung leisten – im Gegenteil. Alle Nuklearwaffenstaaten haben sich der Beteiligung am Verbotsvertrag verweigert, ebenso alle NATO-Staaten – mit Ausnahme der Niederlande, die sich enthalten haben. Denn das Verbot ignoriert nicht nur die machtpolitischen und nuklearstrategischen Realitäten, sondern es verschiebt den Fokus von der dringend nötigen Nichtverbreitung von Nuklearwaffen an gefährliche Regime auf die Abrüstungsverpflichtung gerade der zuverlässigen und demokratisch regierten NWS.

Nukleare Abschreckung muss neu gedacht werden

Es ist daher kein Wunder, dass auch die Bundesregierung gerade aufgrund ihres traditionellen Eintretens für (nukleare) Abrüstung nicht zu den Unterstützern des Verbots zählt: Dieses nimmt den Druck von den tatsächlichen Gefährdern und richtet ihn auf die Arrangements, die Stabilität und Freiheit schützen. Dadurch verfehlt der Verbotsvertrag die Abschaffung der Nuklearwaffen und vertieft die Spaltung zwischen NWS und nuklearen Habenichtsen. Erschwert werden damit die pragmatischen Fortschritte, die im NPT zumindest angelegt sind.

In der gegenwärtigen Situation sind jedoch pragmatische Schritte anstelle der ideologischen Verschärfung, wie sie ICAN betreibt, notwendig. Dazu gehören weitere, wechselseitige Einschnitte in die Nuklearwaffenarsenale insbesondere Russlands und der USA, eine verbesserte Transparenz über die tatsächlichen nuklearen Fähigkeiten sowie wechselseitige Maßnahmen zur Vertrauensbildung und Verhinderung von Unfällen. Mindestens ebenso wichtig wäre ein gemeinsames Vorgehen der NWS zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Nuklearwaffen an andere Staaten oder gar Terrororganisationen. Beides wären wichtige Vorhaben für die nächste NPT-Review-Konferenz im Jahr 2020.

Allerdings sind derartige pragmatische Schritte nicht wahrscheinlich, solange zwischen führenden Nuklearstaaten wie den USA, Russland und China eine intensive Konkurrenz besteht. Die Dynamik dieser Konkurrenz wurzelt nicht nur in innenpolitisch-systemischen Gegensätzen, sondern auch in einer internationalen machtpolitischen Ordnung, in der immer unklarer wird, für welche Interessen und Überzeugungen welche Akteure welche Risiken zu tragen bereit sind. Das ermuntert vor allem die russische Führung, ihr nukleares Blatt auszureizen und ihre Nuklearwaffen nicht nur zu modernisieren, sondern auch offensivere Strategien zu ihrer Stationierung und ihrem Einsatz zu entwickeln. Ein Beispiel dafür ist Russlands kaum noch bestreitbare Verletzung des russisch-amerikanischen INF-Vertrages zur Abschaffung aller nuklearen Kurz und Mittelstreckenwaffen.

Der Westen wäre daher gut beraten, weniger Kraft auf die Blütenträume einer nuklearwaffenfreien Welt zu verwenden und stattdessen über eine zeitgemäße nukleare Abschreckung nachzudenken. Das betrifft, durch NATO-Mitgliedschaft und nukleare Teilhabe, auch Deutschland. Welche nuklearen Waffen braucht das Bündnis? Wie sind sie zu stationieren? Unter welchen Umständen wäre mit ihrem Einsatz nicht nur zu drohen? Und wie wäre es im Ernstfall möglich, die nukleare Eskalationsleiter auch wieder hinabzuklettern, ohne sich einem rücksichtslosen Aggressor zu ergeben?

Das sind unbequeme Fragen, die strategisches Denken und besonderes Fach wissen erfordern, das in Deutschland weitgehend verloren gegangen ist – nicht zuletzt, weil dies seit Ende des Kalten Krieges an den Universitäten kaum noch gelehrt wird. Der Preis dafür ist hoch, weil damit Hysterie und gefährlichem Unsinn (vom nuklearen Pazifismus bis zu Vorschlägen zur nuklearen Bewaffnung Deutschlands) der Weg geebnet wird.

Es wäre ein wichtiger Beitrag zur oft beschworenen strategischen Kultur des Landes, wenn die Bundesregierung das öffentliche Nachdenken über die Rolle des Nuklearen in der internationalen Sicherheitspolitik vorantreiben würde. Der NPT, mit seinen vielschichtigen Impulsen aus Nichtverbreitung, Abrüstung, ziviler Nutzung und Anerkennung der Existenz der Nuklearwaffenstaaten, bietet dafür auch nach fünfzig Jahren mehr als einen Ausgangspunkt.

-----

Patrick Keller, geboren 1978 in Bonn, Koordinator für Außen- und Sicherheitspolitik, Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit, Konrad-Adenauer-Stiftung.

comment-portlet