Das Jahr 2014 stand im Zeichen wichtiger Erinnerungen: Vor hundert Jahren brach der Erste Weltkrieg aus, vor 75 Jahren begann der Zweite Weltkrieg, vor 25 Jahren fiel die Berliner Mauer, vor zehn Jahren wurden die Staaten Mitteleuropas Mitglieder der Europäischen Union. Das Jahr 2014 war zudem geprägt von Ereignissen, deren Auswirkungen kaum unterschätzt werden können: Mit der Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine veränderte Russland erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg auf aggressive Weise europäische Grenzen. Islamistische Terrorformationen forderten vor den Toren Europas in Syrien und dem Irak die Weltgemeinschaft in einer Weise heraus, der eine neue Qualität zugesprochen werden muss und die ethnisch und religiös motivierte Vertreibungen mit der Tendenz zum Völkermord umfasst. Fragile Staaten südlich des Mittelmeers befördern massive Flüchtlingswellen, destabilisieren die Region aber auch durch ihre Waffenarsenale, die längst in nicht berufene Hände gelangt sind. Territorialkonflikte, Versuche zur Sicherung von Einfluss und exklusiven Gebieten zur Rohstoffnutzung finden sich im Süd- und Ostchinesischen Meer, aber auch anderswo. Seuchen wie der Ausbruch von Ebola in Westafrika führen der Welt zudem ihre Verwundbarkeit durch Pandemien vor Augen.
Diese Aufzählung ließe sich problemlos erweitern. Und sie stellt Fragen für die Zukunft. Könnte es heute, dem Buchtitel von Christopher Clark folgend, neuerlich „Schlafwandler“ geben, die ihre Staaten in Kriege und Konflikte großen Stils führen, deren Auswirkungen unabsehbar sind? Sind die Mechanismen der Konfliktschlichtung und internationalen Zusammenarbeit heute tatsächlich besser gerüstet, frühzeitig deeskalierend und entspannend zu wirken? Sind Muster wie die vom „Kalten Krieg“ wirklich überholt angesichts der Tatsache, dass alte Großmächte ebenso wie Aufsteiger im globalen Wettbewerb auf Mechanismen klassischer Großmachtpolitik zurückgreifen? Ist der „Westen“, so es ihn denn heute noch gibt, zu kraftvollen, wertebasierten Antworten und zu eigener Selbstbehauptung im internationalen Systemwettbewerb willens und fähig? Sind nicht zuletzt die deutsche und die Politik der Europäischen Union „auf Ballhöhe“ der Herausforderungen, vor die sie gestellt sind? Gibt es dafür glaubwürdige Strategien? Und nicht zuletzt: Wie kann eine Organisation wie die Konrad-Adenauer-Stiftung hier ihren Beitrag leisten?
Mehr Europa, wo es Mehrwert bringt
2015 ist mit einigen Marksteinen versehen, die auch bei der Beantwortung der anderen Fragen als Orientierung dienen können. Mit der Übernahme der G7-Präsidentschaft beim Gipfel in Brüssel im Juni 2014 hat Deutschland die Möglichkeit, Tagesordnungen mit zu beeinflussen. Man geht sicher nicht fehl in der Annahme, dass einmal mehr Fragen der aktuellen Krisenbewältigung den Gipfel 2015 in Elmau bestimmen werden, vor allem die Suche nach gemeinsamen Antworten westlicher Führungsmächte bei Abwesenheit Russlands. Die Bundesregierung hat zudem Fragen nachhaltigen Wirtschaftens und Wachstums für Deutschland als besonders wichtig definiert, darüber hinaus aber auch eine anspruchsvolle klima- und entwicklungspolitische Prioritätensetzung. Krisen möglichst kurzfristig zu bewältigen und durch effiziente Krisenprävention mittel- und langfristig vermeiden zu helfen, das dürften die Pole der Doppelstrategie sein.
Die neue Europäische Kommission ist dabei, ihre Arbeit aufzunehmen. Im Zusammenspiel mit Parlament und Rat wird sie zeigen müssen, dass sie Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden weiß und die richtigen Akzente setzt. Die Forderung nach mehr Europa da, wo es einen Mehrwert bringt, und mehr subsidiärer Verantwortung bei Regionen und Nationalstaaten, wo dies nicht der Fall ist, scheint ein guter Leitgedanke – auch mit Blick auf den inneren Zusammenhalt der Union und Szenarien wie in Großbritannien. An einer intensivierten Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik aber führt kein Weg vorbei, auch wenn die Zeichen aus den Nationalstaaten darauf hindeuten, dass man sich gerade auf diesem Feld nur ungern europäisch einbinden lässt.
Europa wird in einer multipolaren Welt auf Dauer nur gemeinsam ein Akteur sein, auf den man hört, auf den man Rücksicht nimmt und der den Unterschied machen kann. Dazu ist es nötig, Harmonie in der Union nicht als gegeben hinzunehmen: Die Art, wie mancherorts der zurückliegende Europawahlkampf geführt wurde, lässt die Alarmglocken schrillen. Investitionen in die deutsch-französische Freundschaft, in die Beziehungen zu Polen und Großbritannien, aber auch zu Italien und zu den anderen Ländern im Süden der Union sind gut angelegt.
Sorgen um europäisches „free riding“
Europa wird gerade in seiner unmittelbaren Nachbarschaft sicherheitspolitische Aufgaben übernehmen müssen, aus denen sich die USA tendenziell zurückziehen. Die sich anbahnende Energieunabhängigkeit der Vereinigten Staaten und der Konflikt mit Russland führen den Europäern ihre Verwundbarkeit einmal mehr vor Augen. Exportabhängige EU-Mitglieder wie Deutschland haben zum Beispiel ein existenzielles Interesse an sicheren Seewegen, die auch durch unsichere Gebiete führen. Der europäische Pfeiler der NATO – aktuelle Erkenntnisse zu Ausstattung und Einsatzfähigkeit nationaler Armeen und Verteidigungskomponenten geben Anlass zu Besorgnis – macht dabei keinen besonders soliden Eindruck. Das Stirnrunzeln auf der anderen Seite des Atlantiks über das immer wieder verfehlte Zwei-Prozent-Haushaltsziel der NATO-Partner und Sorgen über europäisches „free riding“ sind ernst zu nehmen. Natürlich sind militärische Einsätze außerhalb des Bündnisgebiets immer nur ein letztes Mittel, ausschließen aber kann man sie immer weniger: Humanitäre Katastrophen wie im Inneren Afrikas fordern sie in ähnlicher Weise heraus wie unmittelbare Sicherheitsinteressen der Europäer vor ihrer Haustür. Der Afghanistan-Einsatz – ISAF endet, die „Resolute Support Mission“ beginnt, die Art ihres Endes scheint fraglich – hat die Bereitschaft zu entsprechendem Engagement in der Zukunft nicht gerade erhöht. Es ist sogar in hohem Maße unpopulär, wie Umfragen in Deutschland zeigen. Gerade deshalb bedarf es einer nationalen Debatte und der Bewusstseinsveränderung in einem Umfeld, in dem sich der deutsche Bürger „von Freunden umzingelt“ sieht und ein Bedrohungsszenario nur schwer zur Kenntnis zu nehmen bereit ist – eine Aufgabe für politische Führung und politische Bildung.
Und nicht nur hier gilt: Die transatlantischen Beziehungen und die enge Verbindung mit den USA müssen wieder den Stellenwert bekommen, der ihnen gebührt, unabhängig von Themenkonjunkturen, die dieses Verhältnis belasten. Ein erfolgreicher Abschluss des Freihandels- und Investitionsabkommens TTIP könnte das Signal sein, das dieser Wertepartnerschaft neue Impulse verleiht und im Rest der Welt deutlich macht, dass hier ein starkes, politik- und weltwirtschaftsgestaltendes Bündnis am Werke ist. Dafür muss geworben werden! Einer fortschreitenden Entfremdung, die nicht selten auch auf Unkenntnis und undifferenziertem Überlegenheitsgefühl beruht, kann nur mit einer verstärkten Kontaktdichte begegnet werden. Auch geostrategisch wäre ein solcher europäisch-amerikanischer Schulterschluss ein starkes Signal, wird doch der Wettbewerb zwischen den USA und China die kommende Zeit nachhaltig prägen – und da sollten Deutschland und Europa nicht versuchen, sich als Wanderer zwischen den Welten zu positionieren.
Entwicklungspolitik und die „Millennium Development Goals“
Das Jahr 2015 wird auch unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten ein besonders wichtiges. Es stehen nicht zuletzt Entscheidungen über die Post-2015-Agenda und die Bestandsaufnahme zu den „Millennium Development Goals“ an. Hier muss es darum gehen, auf die Bedeutung der richtigen Rahmenbedingungen für Entwicklung hinzuweisen. Entwicklung ist kein technisches Problem. Sie hat zentral mit dem politischen Willen und der Bereitschaft von Eliten zu tun, durch Good Governance, Transparenz, Rechtsstaatlichkeit, die Vermeidung von Korruption und angemessene wirtschaftliche Rahmenbedingungen dafür zu sorgen, dass sich die Potenziale der eigenen Bevölkerung entfalten können und eine Standortqualität für inund ausländisches Engagement entsteht.
Dies rückt besonders ins Blickfeld, wenn durch gewaltsame Regimewechsel – auch solche mit Beteiligung von außen – ein Vakuum entsteht, das nicht unmittelbar durch legitimierte, handlungsfähige und adäquat vorbereitete Akteure vor Ort geschlossen werden kann. Entwicklungspolitische Instrumente greifen mittel- und langfristig, hier aber geht es nach der Stabilisierung um die Schaffung von Voraussetzungen dafür, dass entwicklungspolitische Akteure überhaupt wirksam tätig werden können. Damit ist Entwicklungspolitik allein überfordert. Der Begriff „vernetzte Sicherheit“ wird bekanntlich nicht überall geliebt, weist aber in die richtige Richtung und muss weiterentwickelt werden. Das erfordert die Bereitschaft aller Beteiligten, auch aller involvierten Ministerien, den notwendigen Instrumentenkasten gemeinsam zu verbessern und aus Erfahrungen zu lernen.
Bundesentwicklungsminister Gerhard Müller nimmt aus gutem Grund Afrika besonders in den Blick. Die Sonderinitiativen gegen den Hunger und zur Bekämpfung von Fluchtursachen tragen ebenso zur Stabilisierung eines für Europa zentral wichtigen Kontinents bei wie die Initiativen zugunsten der Transformationsländer, die auch für das Auswärtige Amt im Fokus stehen und an denen sich die Konrad-Adenauer-Stiftung intensiv beteiligt. Europa muss dem Norden Afrikas und hier nicht zuletzt Tunesien – dem einzigen verbliebenen „Leuchtturm“ des demokratischen „Frühlingserwachsens“ im nordafrikanischen und arabischen Raum – helfen, sich in Freiheit, Toleranz und wirtschaftlicher Prosperität zu entwickeln. Der Satz: „Wenn Probleme woanders nicht gelöst werden, kommen sie zu uns“, klingt zwar abgenutzt, gilt aber nach wie vor.
Von ähnlich großer Bedeutung ist der arabische Raum. Das Ende der bewaffneten Konflikte ist dort allerdings die Voraussetzung dafür, dass Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit überhaupt greifen und den Menschen eine neue Perspektive eröffnen können. Initiativen des interreligiösen und interkulturellen Dialogs sind aber schon jetzt wichtig, ebenso die humanitäre Hilfe für Millionen von Flüchtlingen. Ein Europa, das zu seinen Werten steht, kann sich hier nicht verweigern. Es kann aber auch nicht überall Reparaturhelfer für innenpolitisches Versagen der Eliten in den Staaten dieser Region sein, zumal diese ihre moralische Verantwortung gern abschieben. Die Wiederbelebung und Stützung autoritärer Systeme ist nicht die angemessene Antwort auf die Erwartungen und Hoffnungen der Bürger des arabischen Raumes. Nicht alles, was kurzfristig Stabilität verspricht, tut dies auch auf mittlere und längere Sicht.
Neue Aufsteiger, gewachsene Verantwortung
Bei all diesen Debatten wird sich dann zeigen, ob speziell die immer wichtiger werdenden neuen Gestaltungsmächte bereit sind, sich auf sie einzulassen und entsprechende Standards in den Absichtserklärungen zu verankern. Ihnen und ihrer Entwicklung muss auch in der nahen und weiteren Zukunft besondere Aufmerksamkeit gelten. Ohne ihre Beteiligung wird die Lösung international zentraler Fragen immer weniger möglich sein. Dies beginnt mit der Rolle Chinas im UN-Sicherheitsrat, setzt sich fort mit der Rolle Indiens in der WTO und endet noch lange nicht bei der besonderen Verantwortung von Ländern wie Brasilien und Indonesien für die Erhaltung von Regenwaldgebieten, die für das Weltklima eine zentrale Bedeutung haben. Reformprozesse in internationalen Organisationen wie der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds müssen ihnen eine angemessene Beteiligung sichern, gleichzeitig aber geht dies nicht ohne Verantwortung für Global Governance und globale Güter. Auch in ihrem Fall fragen sich nicht nur kleinere Nachbarländer, ob diese Aufsteiger des internationalen Systems bereit sind, sich an Regeln friedlich-konsensualer Konfliktlösung zu halten und entsprechend etablierte Verfahren zu nutzen, oder ob man ganz klassisch auf das Recht des Stärkeren setzt.
In der Klimapolitik etwa – der „große“ Klimagipfel mit der Frage einer verbindlichen Nachfolge des Kyoto-Protokolls steht für 2015 in Paris an – wird dies ganz virulent. Hier scheint Europa in jüngerer Zeit in eine Nebenrolle gerückt zu sein; wichtige Akteure des Klimaprozesses beschreiten andere Wege und stehen Verbindlichkeiten negativ gegenüber. Europa muss beweisen, dass engagierte Klimapolitik und wirtschaftlicher Erfolg keine Gegensätze sind – andernfalls werden gerade die aufstrebenden Schwellenländer nicht folgen. Gestärkt werden muss das Gefühl gemeinsamer Verantwortung. In das internationale „burden sharing“ werden sich immer mehr auch die BRICS-, G20- oder „Next-Eleven“-Nationen einbinden lassen müssen. Deutschland und Europa sind insgesamt gut beraten, nach Gleichgesinnten Ausschau zu halten und traditionell gute Verbindungen nicht zu vernachlässigen. Dies gilt, bei aller Virulenz der Probleme im afrikanischen und aller wirtschaftlichen Dynamik im asiatischen Bereich, ganz besonders für die Länder Lateinamerikas.
Insgesamt wird Europa nach außen nur strahlen und ausstrahlen können, wenn es seine internen Probleme in den Griff bekommt. Europa – das beweisen die sehnsuchtsvollen Blicke der (Noch-)Nicht-Mitglieder – hat nach wie vor eine hohe Anziehungskraft. Beitrittswünsche sind immer noch starke Reformmotoren bei den Kandidaten – gleichwohl erlahmt der Reformwille bisweilen, wenn man einmal die Aufnahme in den „Club“ geschafft hat. Dem zu begegnen, reichen die Instrumente der Union bisher offenbar nicht aus. Es lohnt sich, eine engagierte Debatte darüber zu führen, wie eine zukunftsfeste Europäische Union beschaffen sein muss, wie sich Vertiefung und Erweiterung vertragen, wie wirtschaftliche Dynamik zurückkehren kann, welche Ausgestaltung eine erfolgreiche Währungsunion dauerhaft zusammenhält und wie ihre Legitimation in den Augen der Menschen Europas gesichert werden kann. Europa hat Hausaufgaben zu machen – aber nur ein starkes und einiges Europa sichert die Chance, die hier skizzierten Aufgaben global angemessen zu bewältigen.
Gerhard Wahlers, geboren 1959 in Münster, Stellvertretender Generalsekretär und Leiter der Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung.