Asset-Herausgeber

Wie ein Sprung von der Klippe

von Amel Saidane

Start-up-Kultur in Tunesien

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„Über die Nachricht, dass Expensya zwanzig Millionen Dollar aufgebracht hat, habe ich mich heute Morgen so gefreut, als hätte ich das Geld für mein eigenes Geschäft akquiriert. Wir werden es schaffen! Wir werden dieses Land aufbauen!“, so Ameni Mansouri. Sie ist die Gründerin von Dabchy, einer in Tunis beheimateten Peer-to-Peer-(P2P)-Plattform für Modeartikel, die kürzlich nach Ägypten expandierte. Expensya ist ein von zwei ehemaligen Microsoft-Ingenieuren entwickeltes Kostenmanagementprogramm.1

Amenis aufrichtige Freude und ihre Hingabe sind typisch für die Start-up-Kultur Tunesiens. Diese junge Kultur ist geprägt von einer Mischung aus Selbstvertrauen, Humor und Einfallsreichtum. Und die braucht es, wenn man improvisiert, wie von Zauberhand in letzter Minute Lösungen findet und trotz aller Widrigkeiten überlebt. Es ist eine Kultur der Offenheit, des Teilens, der gegenseitigen Unterstützung. Kleine und große Erfolge werden genauso gefeiert wie die Standhaftigkeit derer, die sich entschlossen haben, zu bleiben und das Land weiter aufzubauen, obwohl sie doch hätten gehen können. Es ist eine Kultur des gemeinsamen Gestaltens und Entwickelns. Man fällt hin, und man steht wieder auf.

Wenn ich an die tunesische Start-up-Szene denke, dann daran, wie lässig „Untergrund“-Künstler ihre originellen, einfallsreichen und rebellischen Geschichten erzählen und wie mühelos sie sich verständigen. Aber mir fällt auch der unternehmerische Ernst ein, den die Pioniere dieser Szene an den Tag legten. Damals lebten sie häufig noch in der tunesischen Diaspora, sammelten Erfahrungen in der Welt, oft in Europa. Zurückgekehrt sind sie vor oder nach der Revolution, fest entschlossen, zum Wohlstand und zur Entwicklung ihres Heimatlandes beizutragen.

In den vergangenen Jahren wurde die Start-up-Szene für junge Leute immer attraktiver, sahen sie doch, welche reizvollen Möglichkeiten sie bot. Ihre offene, flexible und dynamische Kultur hat die klassische Arbeitswelt abgehängt.

Die tunesische Wirtschaft steht vor großen Problemen. Sie verliert zusehends an Boden. Die COVID-19-Pandemie lässt die Schwächen der Regierung und die Wirtschaftsprobleme deutlicher zutage treten. Das allgemeine Geschäftsklima ist ziemlich düster. Der Mittelstand stirbt aus, und auf der politischen Bühne dominieren Spannungen, Egoismus, Inkompetenz und Kurzsichtigkeit. Ganz anders in der Start-up-Szene: Sie löst Probleme, und sie verbreitet Hoffnung. Vielleicht weil die Start-up-Welt kein Nullsummenspiel ist. Jede ihrer Innovationen schafft einen neuen Markt, und die Wettbewerbsbedingungen werden ständig austariert. Hier kommen Gleichgesinnte zusammen, man hat eine gemeinsame Vorstellung von der Zukunft des Landes und leistet mit seinem eigenen Geschäft oder im Rahmen von Förderprogrammen seinen Beitrag.

Vor einigen Jahren zog die tunesische Start-up-Szene die Aufmerksamkeit internationaler Medien auf sich, und zwar wegen eines Gesetzes, das innovativen, skalierbaren Start-ups Vorteile bietet. Dieses Bottom-up-Gesetz haben die Start-ups gemeinsam mit der Regierung geschaffen. Die Zusammenarbeit hat unter Beweis gestellt, dass eine wirkungsvolle partizipative Politik möglich ist: Unternehmer und Organisationen unterstützen Startups, und gemeinsam hat man die Chance, die Zukunft der Wirtschaft und des Landes mitzugestalten. Das Gesetz trat im April 2019 in Kraft und verlieh der Start-up-Szene einen kräftigen Schub: Es trieb die Neugründungen voran, und in der Folge entwickelten sich neue und belastbare Netzwerke, die das Interesse ausländischer Investoren weckten. Tunesien zeichnet sich in der MENA-Region (Middle East & North Africa, Nahost und Nordafrika) durch sein großes technisches Innovationspotenzial und durch eine aktive Start-up-Community aus, die innovationsfre- undliche Veränderungen in den rechtlichen und wirtschaftlichen Strukturen vorantreibt. Nicht zuletzt verfügt Tunesien über einen einzigartigen Zugang zu den europäischen Märkten.2

Die DNA der Start-up-Landschaft gründet auf der DNA ihrer Unternehmer und Netzwerker. Den typischen tunesischen IT-Unternehmer gibt es nicht: Es ist der Wissenschaftler, der Roboter baut, die die tunesische Polizei während eines Lockdowns unterstützen.3 Es sind Leute, die ein Unternehmen verlassen, um einen Software-as-a-Service (SaaS) zu entwickeln und mit Uber oder mit der Deutschen Telekom zusammenarbeiten. Oder aber KI-Unternehmer, die die Daten der Deutschen Bahn verarbeiten.4

Dann gibt es noch den jungen Unternehmer, der sein Studium abgebrochen hat und das meistgenutzte ERP-System (Enterprise-Resource-Planning) für Mittelständler im Land und bald auch in der Region entwickelt hat. Wir wissen allerdings auch, dass etwa zwei Drittel aller Start-up-Gründer über einen Master oder Doktorgrad verfügen – wenig überraschend angesichts des hohen Bildungsniveaus in der Bevölkerung, auch wenn es oftmals für niedrig gehalten werden mag. Bemerkenswert ist auch die Diversität: Jede vierte Gründung erfolgt durch eine Frau. In Anbetracht der Tatsache, dass in Tunesien sechzig Prozent aller Absolventen der Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik Frauen sind, sind das dennoch zu wenig. Doch verglichen mit der Mehrheit der europäischen Länder kann sich ihr Anteil sehen lassen.

 

Vom Silodenken wegkommen

 

Nach der Revolution haben wir die Redefreiheit entdeckt; wir haben entdeckt, dass wir jeder für sich, aber auch in der Gemeinschaft Projekte entwickeln können, dass selbst Einzelvorhaben ihren Zweck haben und für uns und für die Gesellschaft erfüllend sein können. Wir haben entdeckt, dass wir Einfluss ausüben können in dieser Welt, dass Gemeinschaften machtvoll sind und dass sie Veränderungen vorantreiben können. Unternehmer und ihre Netzwerke begannen, eine gemeinsame Vision zu entwickeln. Das „Ökosystem“ strukturierte sich, und TunisianStartups wurde gegründet: ein Verband, der dem „Start-up-Ökosystem“ eine Stimme verleiht. Die Idee hatten Unternehmer, die sich für die Start-ups verantwortlich fühlten und den Status quo infrage stellten. Sie alle standen vor denselben Herausforderungen, teilten dieselben Geschichten – doch vor allem teilten sie eine Vision.

In den vergangenen Jahren wurde in Tunesien darum gerungen, welcher Schritt auf den nächsten folgen soll. Die Herausforderungen waren groß, aber es war auch vieles möglich. Wir haben gelernt, dass es keine Geheimrezepte gibt. Man muss immer wieder neu an die Dinge herangehen und sich den Gegebenheiten anpassen – eben so, wie ein schlankes Start-up agiert.

Tunesien muss vom Silodenken wegkommen, wir müssen offen und kooperativ kommunizieren. In Tunesien braucht es Widerstandsfähigkeit und die Bereitschaft, die Richtung zu wechseln, wenn klar wird, dass man den falschen Weg eingeschlagen hat. Man muss Rückschläge hinnehmen, und statt sinnlos zu debattieren, hart arbeiten. So, wie die Start-up-Kultur es vormacht. Man könnte dagegenhalten, dass es zu spät ist, dass wir keine Zeit mehr haben, immer wieder loszulaufen und Neues zu probieren. Es stimmt: Wir haben nach der Revolution kostbare Zeit mit Experimenten vertan. Wir haben Zeit verschwendet, in der wir hätten lernen können. Doch der Preis für das Nichtstun ist heute höher als je zuvor.

 

Disruptiver Start-up-Geist

 

In der tunesischen Wirtschaft ist der Wettbewerb sehr traditionell organisiert. Traditionelle Geschäftsmodelle basieren auf Knappheit; Wert entsteht aus dem Verkauf von Produkten oder Dienstleistungen, die nur begrenzt verfügbar sind. Exponentielle Technologien erzeugen einen Überfluss an allem – von Informationen bis zur Energie. Die größte Herausforderung besteht also darin, Geschäftsmodelle zu entwickeln, die auf Überfluss gründen. Klassische Beispiele sind Uber, Airbnb und Alibaba, eine führende Online-Plattform für den globalen Großhandel. Alibaba hat das Geschäft kleiner und mittelständischer Unternehmen in China völlig umgekrempelt – und das in einem Land, das einst wegen seiner unzähligen Handelshemmnisse berüchtigt war.

Was Tunesien braucht, ist der disruptive Geist der Start-ups. Das ist der einzige Ausweg. Schrittweise Änderungen retten das Land nicht mehr. Wir müssen groß denken und mutig voranschreiten. Es sind völlig neue Ansätze notwendig, um Überfluss mithilfe von Modellen wie Plattformen zu schaffen. Tunesiens Wirtschaft und Innovatoren ersticken an einem in den 1940er-Jahren entworfenen und in den 1970er-Jahren angepassten Devisenbewirtschaftungssystem. Start-ups müssen jedoch weltweit konkurrieren, sie müssen die Barrieren des tunesischen Marktes schnell überwinden; die Grenzen sind zu eng. Start-ups gehören in die Welt.

Der veraltete Rechtsrahmen bildet eines der Haupthindernisse bei der Entwicklung von Lösungen für Finanzdienstleistungen, Handel und Export. FinTech-Start-ups bieten nicht nur Lösungen für Firmen, die auf Wachstum und Transformation angewiesen sind; sie sorgen auch für mehr soziale Einbindung und helfen so bei der Bewältigung sozialer Probleme.

Eine Studie der Washingtoner Denkfabrik CGAP (Consultative Group to Assist the Poor, Beratungsgruppe zur Unterstützung der Armen) über das finanztechnische „Ökosystem“ der arabischen Welt schätzt, dass die Hälfte aller tunesischen FinTech-Firmen die finanzielle Inklusion vorantreiben könnte: Sie verbessern für Menschen mit geringem Einkommen und für Mikrooder Kleinunternehmen den Zugang zu Finanzdienstleistungen, aber auch deren Qualität, oder senken die Kosten.

Mithilfe von FinTechs könnte Tunesien für mehr finanzielle Inklusion sorgen und etwa eine Milliarde US-Dollar an zusätzlichen Einnahmen pro Jahr für den Finanzsektor generieren, Arbeitsplätze schaffen und sein Knowhow exportieren – so, wie es andere arabische Länder bereits tun.

Der Rechtsrahmen gründet in Tunesien auf einem Prinzip: „Alles ist verboten, es sei denn, es ist ausdrücklich erlaubt.“ Die rechtlichen Rahmenbedingungen hinken der Technik und der Innovation stets um einen Schritt hinterher. In fortschrittlichen „Ökosystemen“ hat man verstanden, dass Gesetze offen und ermöglichend gestaltet werden müssen. Ein Beispiel ist die Gesetzgebung zur Zahlungsdiensterichtlinie (PSD, Payment Services Directive) in Europa, die das Paradigma des Datenschutzes verändert und damit die Entwicklung eines FinTech-„Ökosystems“ massiv beschleunigt hat.

 

Generation der Tapferen

 

Tunesien ist Gefangener seiner eigenen Regierung, die sich zu einem schwerfälligen Koloss entwickelt hat, der das Land behindert. Rechtliche Probleme werden mittels neuer Gesetze gelöst, die am Ende alles noch komplizierter machen. Statt in den internationalen Wettbewerb investieren die Start-ups ihre Kreativität in Ausweichmanöver. Einer der Trümpfe Tunesiens, seine Jugend, wird zu einem seiner größten Probleme.

In seinem letzten Tunesienbericht hat der Internationale Währungsfonds 2021 konstatiert: „Reformanstrengungen sollten sich darauf konzentrieren, Monopole abzuschaffen, bürokratische Hürden abzubauen und das geschäftliche Umfeld zu verbessern.“ Um die Monopole abzuschaffen, muss man traditionellen Akteure überzeugen, die Start-up-Welt zu akzeptieren. Eine solche Öffnung ist die einzige Möglichkeit, in Zeiten des digitalen Wandels zu überleben. Das Wachstum traditioneller Unternehmen wird beschleunigt und ihre Konkurrenzfähigkeit gestärkt, wenn sie Innovationen und Start-ups gegenüber aufgeschlossen sind. Start-ups wiederum können nur überleben, wenn sie Zugang zu Unternehmen haben, sei es als Kunden, Entwicklungspartner, Investoren oder auch als Exit-Partner. Am Ende ist es für das ganze Land eine Win-win-Situation. Es ist klüger, sich zusammenzutun und nicht wie Goliath darauf zu warten, dass der kleine David alles zerschlägt.

Was Tunesien braucht, ist der Mut einer neuen Generation von Tapferen. Sie sind die Baumeister einer neuen Wirtschaft. Wie der Mitbegründer von LinkedIn, Reid Hoffman, bemerkte: „Die Gründung einer Firma ist wie ein Sprung von der Klippe, aber das Flugzeug baut man sich im Fall zusammen.“

Wir stehen heute am Rand der Klippe, und uns bleibt nichts anderes übrig, als zu springen. Hoffen wir, dass uns ein weiter und kühner Sprung gelingt, in ein neues Tunesien – in ein digitales, innovatives, mutiges Tunesien.

 

Amel Saidane, geboren 1979 in Tunis (Tunesien), Unternehmerin, Ecosystem Builder und Expertin für digitale Transformation; Präsidentin von „TunisianStartups“, dem ersten Verband tunesischer Start-up-Unternehmer; Mitbegründerin und Geschäftsführerin von „BetaCube“, einem Unternehmen für FinTech- und Mobilitätslösungen; Mitbegründerin von „Digital2Value“, einer digitalen Transformationsplattform für kleine und mittelständische Unternehmen.

Übersetzung aus dem Englischen: Wilfried Becker, Germersheim

 

1 Wamda: Expensya raises $20 million, 29.04.2021, www.wamda.com/2021/04/expensya-raises20-million [letzter Zugriff: 06.05.2021].

2 Selma Ribica / Yehia Houry: „Three Reasons Why VCs Should Be Investing in Tunisian Startups“, in: Entrepreneur Middle East, 08.02.2021, www.entrepreneur.com/article/364944 [letzter Zugriff: 06.05.2021].

3  Rana Jawad: „Coronavirus: Tunisia deploys police robot on lockdown patrol“, BBC News, 03.04.2021, www.bbc.com/news/world-africa-52148639 [letzter Zugriff: 06.05.2021].

4 InstaDeep: InstaDeep Wins Competitive Tender With Deutsche Bahn to Develop an AI System to Digitise Railway Operations, 30.10.2019, www.instadeep.com/2019/10/instadeep-wins-competitivetender-with-deutsche-bahn-to-develop-an-ai-system-to-digitise-railway-operations/ [letzter Zugriff: 06.05.2021].

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