Asset-Herausgeber

Wie hältst du’s mit der Religion?

von Janine Ziegler

Laizität und religiöse Wirklichkeit

Asset-Herausgeber

Unter Berufung auf das Prinzip der Laizität wurde im Sommer 2016 zum Schutz der öffentlichen Ordnung an einigen südfranzösischen Badestränden das Tragen eines Ganzkörperbadeanzugs – des sogenannten Burkinis – verboten. Das Verbot galt jedoch nur für kurze Zeit, denn der von Gegnern des Verbots angerufene Staatsrat (Conseil d’État) urteilte, ein Burkini sei keine Störung der öffentlichen Ordnung, sondern Ausdruck individueller Religionsfreiheit und daher mit dem Prinzip der Laizität vereinbar. Wie kann es sein, dass Befürworter und Gegner des Burkinis sich auf die sogenannte französische Laizität berufen und somit ein und dasselbe Prinzip für sich reklamieren?

Ein Blick in die aktuelle französische Verfassung verschafft in dieser Frage keine Klarheit. Er verrät lediglich, „dass Frankreich eine laizistische Republik ist, die ihren Bürgern unabhängig von ihrer Religion Gleichheit vor dem Gesetz zusichert und jeglichen Glauben respektiert“ (Artikel 1)1. Damit ist Laizität seit 1958 eines der wichtigen französischen Verfassungsprinzipien, das jedem Bürger Religionsfreiheit garantiert. Erstmals rechtlich konkretisiert wurde das Prinzip allerdings lange zuvor im „Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat“, dem „Loi concernant la séparation des Églises et de l’État“, das am 9. Dezember 1905 von der französischen Nationalversammlung verabschiedet worden war. Mit ihm endete das napoleonische Konkordat von 1801 und damit die staatliche Anerkennung und Subventionierung des Kultus. Gesellschaftspolitisch war dies ein wichtiger Schritt, denn mit der Einführung der institutionellen Trennung gelang es, den schwelenden Konflikt um das „richtige“ (Macht)Verhältnis von Kirche und Staat in Frankreich zu beenden. Bis heute wird dem Laizitätsprinzip diese Frieden stiftende Wirkung attestiert.

Die festgeschriebene Trennung von Kirche und Staat sollte fortan sowohl die Religionsgemeinschaften vor politischer als auch umgekehrt den Staat vor religiöser Einflussnahme bewahren. In Zentrum stand dabei aber vor allem der Bildungsbereich, der sozusagen „entkirchlicht“ respektive „republikanisiert“ wurde. Realisiert wurde die Entflechtung der Einflusssphären von Kirche und Staat durch die „Privatisierung“ der Religion. Seit 1905 sind alle Religionsgemeinschaften verpflichtet, sich privatrechtlich zu organisieren und eine dezentrale Struktur anzunehmen. Es ging in dem Gesetz aber nicht nur um die Trennung von Kirche und Staat. Artikel 1 richtet sich vielmehr an den französischen Bürger, dem – ganz im Sinne der Ideale der Französischen Revolution – Meinungs- und Glaubensfreiheit sowie die ungehinderte Ausübung seines Kultus im Rahmen der öffentlichen Ordnung garantiert werden.

Neutralität versus Freiheit

Laizität im Sinne des Gesetzes von 1905 bedeutet also die umfassende Garantie individueller Religionsfreiheit bei gleichzeitiger Sicherstellung absoluter religiöser Neutralität des öffentlichen Raumes durch die strikte Trennung von Kirche und Staat. Mit anderen Worten: Das französische Laizitätsprinzip ist seit jeher zweidimensional angelegt und bezieht sich sowohl auf den Staat als auch auf das Individuum. Dieses Konstrukt ermöglicht es, die Staatsziele Neutralität und Religionsfreiheit miteinander zu verbinden. Problematisch ist nur, dass sich beide Ebenen in der Praxis schlecht trennen lassen und da her in der Regel entschieden werden muss, was Vorrang hat – die Neutralität des öffentlichen Raumes oder die Freiheit individueller Religionsausübung.

Bis heute ist diese Frage das Kernstück einer jeden Debatte um die „richtige“ Interpretation des französischen Laizitätsprinzips. Dürfen Schüler in der staatlichen Schule ihre Religion bekunden? Darf der französische Staat religiöse Privatschulen subventionieren? Darf er Religionsgemeinschaften Sonderkonditionen gewähren, zum Beispiel zur Errichtung religiöser Bauten? Seit Jahrzehnten scheiden sich die Geister an Fragen wie diesen, die alle mit berechtigten Argumenten im Sinne des Laizitätsprinzips unterschiedlich beantwortet werden können. Im wissenschaftlichen, aber auch gesellschaftspolitischen Diskurs gibt es im Wesentlichen zwei Lager: zum einen diejenigen, die den Religionsfreiheitsgedanken des Laizitätsprinzips betonen und für eine flexible oder offene Interpretation plädieren; zum anderen Verfechter einer rigiden oder strikten Lesart, die der Neutralität oberste Priorität einräumen.

Bis jetzt verfolgten die verschiedenen französischen Regierungen im Großen und Ganzen eine einheitliche Linie. Danach gilt die 1905 gesetzlich festgeschriebene Religionsfreiheit des Einzelnen lediglich im privaten Bereich in vollem Maße, nicht jedoch für den öffentlichen Raum. Hier ist bis heute Neutralität die oberste Prämisse des Staates. Nur so glaubt der französische Staat, einen öffentlichen Raum konstituieren zu können, in dem jeder Bürger fern jeglicher – besonders religiöser – Privilegien repräsentiert werden kann. Die Bekundung von Religiosität beispielsweise durch das Tragen religiös konnotierter Kleidung, durch die Vermittlung religiöser Inhalte oder das Werben für religiöse Zwecke ist daher im öffentlichen Raum untersagt.

Strikte Lesart des Laizitätsprinzips

Das bedeutet für den Alltag: In Frankreich sind staatliche Räume wie Schulen, Universitäten oder Ämter absolut neutral. Es gibt keinen staatlichen Religionsunterricht, keine theologischen Fakultäten, keine Kirchensteuer und keine Beamtinnen und Beamten mit Kopftuch, Kippa oder Turban. Mit anderen Worten: Seit 1905 das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat verabschiedet wurde, hat sich im öffentlichen Raum eine strikte Lesart des Laizitätsprinzips etabliert, das heißt, die Abwägung zwischen staatlicher Neutralität und individueller Religionsfreiheit fällt zugunsten des Neutralitätsprinzips aus.

Bereits bei der Verabschiedung des Gesetzes einigte man sich jedoch auf bestimmte Ausnahmen, sogenannte Bestandsgarantien, die bis heute Gültigkeit besitzen und in der aktuellen Debatte um die „richtige“ Lesart des Laizitätsprinzips eine wichtige Rolle spielen. Insgesamt etablierten sich sieben sogenannte abweichende Rechtsregime, zum Beispiel in den Überseedepartements und -territorien sowie im ehemals deutschen Verwaltungsgebiet Reichsland Elsass-Lothringen. Sie führen beispielsweise dazu, dass es in Straßburg eine staatliche theologische Fakultät gibt, der französische Staatspräsident Kultusvertreter ernennt und das beim französischen Innenministerium angesiedelte Zentrale Kultusbüro sich mit Fragen der Subventionierung von Gemeinden befasst. Verfechter einer offenen Auslegung der Laizität verstehen diese Ausnahmen als Indiz für die historische Flexibilität des Prinzips und fordern ein offizielles Ende seiner strikten Interpretation. Besonders für die aktuelle gesellschaftspolitische Debatte um die Vereinbarkeit von Islam und Trennungsprinzip ist diese Forderung von immenser Bedeutung.

Verhältnis von Staat und Islam

Fakt ist zunächst, dass auch muslimische Religionsgemeinschaften dem Gesetz von 1905 unterworfen sind und sich daher in privatrechtlichen Vereinen organisieren müssen. Im Umgang mit ihnen verfolgen die französischen Staatsvertreter bisher eine zweigleisige Strategie. Trotz Neutralitätsgebot kooperieren sie mit ihnen und weichen hierdurch das strikte Trennungsprinzip auf – wohl nicht zuletzt, um die muslimischen Religionsgemeinschaften besser kontrollieren zu können. So gibt es inzwischen staatlich besoldete muslimische Seelsorger in der französischen Armee, einen vom Innenministerium initiierten Französischen Muslimrat (CFCM) und diverse Modelle zur Quersubventionierung von Moscheebauten. Die historische Flexibilität des Laizitätsprinzips wird also konsequenterweise auch auf den Islam angewendet.

Richtet man den Blick allerdings weg vom Trennungsgedanken und hin zur individuellen Religionsfreiheit der Muslime, so vertritt der Staat eine alles andere als offene Linie. Seit im Zuge der ersten Kopftuchdebatte 1989 die Frage aufkam, ob es im öffentlichen Raum der staatlichen Schulen erlaubt ist, individuelle Religiosität zu bekunden, blockt der Staat ab. Der Ausdruck individueller Religiosität ist in Frankreich weiterhin auf die Privatsphäre zu beschränken; im öffentlichen Raum ist und bleibt er, im Falle des Kopftuches sogar per Gesetz, untersagt. Der französische Staat zeigt sich also auch dem Islam gegenüber kooperativ, wenn es um organisationsrechtliche Fragen geht. Steht allerdings die individuelle Religiosität im Vordergrund, ist das Land nicht bereit, von seiner Linie der strikten Neutralität des öffentlichen Raumes abzuweichen.

Causa Burkini

Wie aber ist der Burkini am Strand zu beurteilen? Ist der Strand kein öffentlicher Raum? Diese Frage führt zum Kern der jüngsten Laizitätsdebatte vom Sommer 2016 zurück. Zunächst ist die Argumentation der Bürgermeister, die in über dreißig Gemeinden ein Burkiniverbot erlassen haben, zu betrachten: Sie definieren den Strand als einen öffentlichen Raum im Sinne des Gesetzes von 1905 und führen an, mit dem Verbot religiösem Proselytismus, sprich der Gefahr der Zwangsmissionierung, Einhalt gebieten zu wollen. Der Burkini sei Ausdruck eines möglicherweise radikalen Islams und somit eine gezielte Provokation, die im öffentlichen Raum nicht ohne Weiteres akzeptiert werden könne. Wer sich an einem öffentlichen Badestrand aufhalte, habe sich dem Prinzip der Laizität entsprechend religiös neutral zu kleiden. Gegen diese Argumentation, die auch der Bürgermeister der südfranzösischen Gemeinde Villeneuve-Loubet vertrat, reichten die Menschenrechtsliga und das Kollektiv gegen Islamophobie in Frankreich beim Staatsrat Klage ein – mit Erfolg. Das Gericht entschied: In Villeneuve-Loubet bestand zu keinem Zeitpunkt ein erwiesenes Risiko für die Störung der öffentlichen Ordnung. Allein die Vermutung eines solchen Risikos reiche für die Einschränkung der individuellen Freiheitsrechte nicht aus.

Topthema des Wahlkampfes

Die Auslegung des Laizitätsprinzips ist in Frankreich also alles andere als klar und eindeutig: Denn natürlich ist der Badestrand ein öffentlicher Raum, je doch nicht in gleicher Art und Weise wie ein Klassenzimmer, ein Parlament oder ein Gerichtssaal – Orte, an denen eine bestimmte Staatsauffassung vermittelt wird und die im Sinne des Gesetzes als Plätze der Neutralität zu gelten haben. Entsprechend höher wiegt am Strand die individuelle Religionsfreiheit, die es zu schützen gilt. Tatsache ist aber auch, dass die gerichtliche Entscheidung nur die politische Strategie der Gemeinde Villeneuve-Loubet in die Schranken weist, während das Burkiniverbot in anderen Gemeinden weiter hin gilt. Den Grundtenor des gesellschaftlichen Unbehagens an muslimischer Religiosität wird die Entscheidung kaum verändern.

Vielmehr ist vor dem Hintergrund der französischen Präsidentschaftswahlen im April und Mai 2017 zu erwarten, dass „der“ Islam und somit auch „die“ Laizität Topthemen des Wahlkampfes sein werden. Denn in Zeiten, in denen die französische Politik regelmäßig die Ausweitung der Ausnahmegesetze zum Kampf gegen den islamischen Terror debattiert, eignen sich beide Themen hervorragend zur politischen Profilierung, und zwar aller Parteien. Gerade weil diese Gesetze vielschichtig sind, kann jeder, egal welcher politischen Couleur, aus dem Vollen schöpfen: Mit dem Verweis auf die Laizität lässt sich ebenso für mehr Flexibilität und eine offene Politik gegenüber dem Islam argumentieren wie auch gegen den gesellschaftlichen Vormarsch des religiösen Fanatismus und für eine Ausweitung der staatlichen Neutralitätsbereiche.

Neutralität allein ist kein Kitt

Tatsache ist, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in der République une et indivisible bereits seit vielen Jahren bröckelt. Offensichtlich ist auch das Prinzip der Laizität in seiner aktuellen Lesart nicht mehr in der Lage, die entstandene Kluft durch Neutralität zu kitten. Wäre es da nicht an der Zeit, sich flexibler zu zeigen und auf die Frieden stiftende Wirkung einer Neuinterpretation des Prinzips zu setzen? Ein offener Umgang mit „dem“ Islam könnte gesellschaftlichem Unbehagen entgegentreten und somit eine integrative Wirkung auf alle Teile der Bevölkerung haben. Denn noch immer fällt es vielen Franzosen schwer, muslimische Religiosität als möglichen Bestandteil einer französischen Identität zu akzeptieren und offensiv mit ihr umzugehen, anstatt sie ausschließlich ins Private zu verbannen.

Könnte der Radikalisierung von Jugendlichen möglicherweise auch vorgebeugt werden, indem ihrer Religion in der staatlichen Schule ein Platz zugesprochen wird? Eventuell kann eine staatliche Zusammenarbeit mit Religionsvertretern dabei helfen, Bürger zu erreichen, die von der französischen Gesellschaft nichts mehr erwarten.

In jedem Fall ist es lohnenswert, über Vorschläge wie diese zu diskutieren; denn selbst wenn der erste Eindruck oftmals ein anderer ist: Im laizistischen Frankreich hat Religion nach wie vor einen gesellschaftspolitischen Platz, und bislang haben sich alle Seiten, auch der Staat, gut mit dieser Tatsache arrangiert.

Literatur

Conseil d’État: Décision contentieuse – Mesure d’interdiction des tenues regardées comme manifestant de manière ostensible une appartenance religieuse lors de la baignade et sur les plages, 26.08.2016; siehe http://www.conseil-etat.fr/Actualites/Communiques/Mesured-interdiction-des-tenues-regardees-comme-manifestant-de-maniere-ostensible-uneappartenance-religieuse-lors-de-la-baignade-et-sur-les-plages (abgerufen am 10.11.2016).

Observatoire de la laïcité; http://www.gouvernement.fr/observatoire-de-la-laicite.

Ziegler, Janine: „Republik ohne Gott – Zur französischen Vision eines religionsneutralen Staates“, in: Kink, Markus/Ziegler, Janine (Hrsg.): Staatsansichten – Staatsvisionen: Ein politik- und kulturwissenschaftlicher Querschnitt, LIT-Verlag, Münster 2013, S. 319–340.

-----

Janine Ziegler, geboren 1977 in Bad Harzburg, Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Minor, Lehrbeauftragte am Lehrstuhl „Politik und Regieren in Deutschland und Europa“, Universität Potsdam.

comment-portlet