Der österreichische Publizist Klaus Zeyringer hat in seiner gerade erschienenen „Kulturgeschichte“ den Fußball „in seinen vielfältigen, bisweilen komplexen Beziehungen zu Politik, Wirtschaft, Medien und insgesamt zu gesellschaftlichen Zuständen als kulturgeschichtliches Phänomen“ beschrieben – „von der Moderne der einen Jahrhundertwende bis zum Neoliberalismus der anderen“.
Der Fußball in seiner multidisziplinären Reichweite bis in die Sphären der Musik, des Films, der Literatur und der Philosophie habe die Grenzen der Alltags- und Populärkultur längst überschritten: „Das anfangs elitäre Spiel gelangt vom Populären wiederum in die Hochkultur.“ Doch damit nicht genug der Verklärung; mit seinen multiethnischen Teams liefere er „das sichtbarste Zeichen der Globalisierung, einer Art Postmoderne sowie des Neoliberalismus“. Seit das Kicken zum schier endlos boomenden Bestandteil der Eventkultur avancieren konnte, leistet eine Fußball-WM die größte Verdichtung des globalen medialen Raums.
Unlängst kommentierte Michael Hanfeld in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das angekündigte Sende-Aus des zuvor alle Zuschauerrekorde brechenden TV-Klassikers „Wetten, dass …?“: „Von dem Gedanken, alle erreichen zu müssen, sollten sich die Fernsehmacher verabschieden, es sei denn, sie produzieren einen ‚Tatort‘ oder zeigen Fußball.“
Die sich überschlagenden Superlative werden analytisch getoppt von der FIFA-Forscherin Christine Eisenberg, die dem Fußballsport einmal attestierte, als weltumspannende Kultur mittlerweile keiner Politisierung mehr zu bedürfen: „Der moderne Fußball [...] hat sich längst zu einem Kulturgut sui generis entwickelt. Eine Verstärkung durch außersportliche Sinnzusammenhänge benötigt er nicht mehr, da er für seine Anhänger selbst einen Sinnzusammenhang darstellt.“
Protestbewegung von Fußballverrückten
Wenn es denn so schlüssig wäre! Die Realität um die WM, die FIFA und die Politik schaut indes wesentlich düsterer aus, als alle gigantomanischen Verklärungen es wahrhaben wollen. So wurde das im Juni beginnende XX. Weltturnier in Brasilien schon im Vorfeld von vielen politischen Problemen belastet. Eine Anti-WM-Protestbewegung machte sich ausgerechnet in dem vermutlich fußballverrücktesten Land der Erde breit, um auf die fehlenden Investitionen in die Infrastruktur aufmerksam zu machen. Armut, Korruption und Drogenhandel haben zu enormen Sicherheitsproblemen geführt, welche die „Befriedung“ der Favelas ebenso betreffen wie grassierende Mord- und Diebstahlsdelikte und mafiöse Strukturen in Politik und Verwaltung.
Als die Protestbewegung ausschwärmte, die Stadionbauten ins Stocken gerieten und sich der Konflikt zwischen FIFA, der brasilianischen Regierung und dem dortigen Fußballverband erstmals zuspitzte, kam Staatspräsidentin Dilma Rousseff auf die Idee, die Fußball-Legende Pelé zum Ehrenbotschafter der WM zu ernennen. Doch der dreifache Fußball-Weltmeister tauchte aus allen Entscheidungsgremien ab und mied lange Zeit den Umgang mit korrupten Funktionären und umstrittenen Politikern, um sein „ethisches TÜV-Siegel“ nicht zu beschädigen. Denn Edson Arantes do Nascimento, genannt Pelé, ist politisch ein gebranntes Kind: Er stand 1970 nach dem WM-Gewinn der Seleção im Mittelpunkt eines Empfangs bei Militärdiktator Médici in Rio, was ihm damals Regimegegner übel nahmen.
Auch über Brasilien 2014 hinaus zeigen sich schon jetzt politische Problemfelder: Die Weltmeisterschaften 2018 in Russland sind nach einer möglichen Wiederwahl Wladimir Putins für sich betrachtet schon eine Horrorerwartung! Bereits im Februar dieses Jahres verstand der Kreml-Chef die Olympischen Winterspiele in Sotschi für sein politisches Prestige in Russland zu nutzen. Vom Turnier 2022 in Katar gar nicht erst zu reden, das sich schweren Vorwürfen der Menschenrechtsorganisationen ausgesetzt sieht: Unwürdige Behandlung von Arbeitsmigranten beim Stadionbau – sogar mit Todesfolgen – hat sie auf den Plan gerufen. Hinzu kommen massive Korruptionsvorwürfe, die Katarer hätten mit Bestechungsgeldern die Entscheidung der FIFA zu ihren Gunsten beeinflusst. Im Zeichen der Weltfeier des Fußballs steht dessen Glaubwürdigkeit auf dem Spiel.
Weltmacht FIFA
Fußball sei zu einer Art Weltmacht aufgestiegen, die der Politik zur Durchsetzung ihrer Belange kaum noch bedürfe, meint Christine Eisenberg. Sie verweist auf weltweit über zweihundert Mitgliedsverbände in der FIFA, die dadurch flächendeckender als selbst die UNO in Erscheinung trete. Dies hat zu einer imperialen Selbstpolitisierung des Weltfußballverbandes geführt, ähnlich der Stellung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Beide geben haltlose Entwicklungsversprechen für ganze Länder und Regionen ab, wecken Freiheitserwartungen, beschwören Friedensmissionen und beanspruchen sogar den Friedensnobelpreis für sich. FIFA-Chef Sepp Blatter gefiel sich schon des Öfteren in solchen Selbstelogen.
Stets wurde von offizieller Seite ein politikferner Idealismus transportiert: Man könne Diktaturen mildern, rigide Blockrealitäten wie im Kalten Krieg vorübergehend außer Kraft setzen oder friedens- und entspannungspolitische Signale für die Zukunft aussenden. Dabei steckt die FIFA tief im Korruptionssumpf. Ihre Rolle gegenüber der Politik wird als im höchsten Maße „kollaborativ“ beschrieben. Ohne Rücksicht auf die eigene Charta und deren hehre Werte treibe der undurchsichtige Weltverband Kumpanei mit den Mächtigen in Politik und Wirtschaft, lautet ein gebetsmühlenartig vorgetragener Vorwurf. Die FIFA-Mitglieder sind längst keine Missionare der Fußball-Bewegung mehr, sondern knallhart feilschende Interessenvertreter ihres jeweiligen Landes.
Die FIFA-Gewaltigen haben es der Politik, Potentaten wie Demokraten, immer leicht gemacht. Fragwürdige Regime haben von der Austragung der WM-Turniere profitiert, und die Spiele dienten in der Regel nicht der erhofften Lockerung, sondern eher der Stabilisierung bestehender Verhältnisse – dank der Selbstdarstellung durch sportliche Höchstleistungen und des Imagegewinns durch eine möglichst perfekte Organisation des Turniers. Die Gigantomanie, die die FIFA mit dem WM-Turnier betreibt, bewegt sich jedoch zusehends vom Volk weg. Fußballbesessene in den brasilianischen Favelas, denen die Torjagd mit dem Ball Lebenssinn bedeutet, können sich ein Ticket für die WM-Spiele nicht leisten. Sie verfluchen das Turnier, weil das Geld für die Stadien den dringender notwendigen Infrastrukturmaßnahmen – etwa im Straßen- und Wohnungsbau – fehlt.
Es mehren sich kritische Stimmen aus der Branche, die diese Entwicklung geißeln und nach Reformen verlangen. Der Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga (DFL), Christian Seifert, räumt ein, dass die greise, korrupte Sportfunktionärswelt des IOC oder der FIFA zum Beispiel gegen die Kampagnenrasanz von Internetaktivisten kaum mehr bestehen könne, wenn etwa Volksentscheide an potenziellen Austragungsorten durchgeführt würden: „Während in den vergangenen Jahren über Transparenz, Teilhabe und Corporate Governance diskutiert wurde, haben es einige große internationale Sportverbände versäumt, die richtigen Wege zu gehen. In Wahrheit fragen sich doch viele, ob die Umschläge, die etwa bei der Vergabe von Großereignissen geöffnet werden, die einzigen sind, die auf dem Weg zur Verkündung auf dem Tisch lagen.“
Was kostete das 0 : 6?
Für die manifeste Instrumentalisierung der Fußball-WM durch diktatorische Regime gibt es abschreckende Beispiele. 1934 gelangte im faschistisch regierten Italien die Squadra Azzurra erst nach einer später aufgeflogenen Schiedsrichterbestechung ins Finale. Der „Duce“ Mussolini ließ sich den WM-Sieg im eigenen Lande einiges kosten. Kaum weniger rigide benahm sich die argentinische Militärdiktatur unter Jorge Videla 1978. Das krisengeschüttelte südamerikanische Land hatte den WM-Zuschlag Jahre vor dem Putsch erhalten. Danach sollte der brasilianische FIFA-Boss João Havelange eine radikale Umwälzung der politischen Verhältnisse im Nachbarland durch die Militärs förmlich herbeisehnen, um eine geordnete Vorbereitung und Durchführung des Turniers zu garantieren. Doch dem WM-Sieg der „Gauchos“ war eine ähnliche Manipulation vorausgegangen. Für das willfährige 0 : 6 Perus gegen die gastgebenden Argentinier soll das Land der Unterlegenen mit hohen Summen und Exportlieferungen bedacht worden sein.
Andererseits war es Jahrzehnte zuvor für das kommunistische Ungarn eine nationale Tragödie, als deren „Dreamteam“ um Puskás und Hidegkuti den krassen bundesdeutschen Außenseitern in der Schweiz 1954 unterlegen war. Die politische Symbolik für das stalinistisch regierte Land war folgenreich. Wut und Enttäuschung stauten sich und trugen mit dazu bei, dass sich zwei Jahre später das Volk gegen das Rákosi-Regime erhob; der Volksaufstand wurde von Sowjetpanzern niedergewalzt.
Dagegen geriet das „Wunder von Bern“ aufseiten der deutschen Sensationsweltmeister im Rückblick zu einem eminent politischen Datum, ohne dass die eher reserviert reagierenden Politiker der jungen Bonner Republik propagandistisch daran mitgewirkt hätten. Heute gilt der 4. Juli 1954 als ein mentales Gründungsdatum der alten Bundesrepublik, weil viele Deutsche empfanden, mittels des Weltmeistertitels Respekt und Anerkennung des Auslands gegenüber dem neuen deutschen Staat verdient und dem durch den sportlichen Sieg Symbolkraft verliehen zu haben. Der stets eventorientierte Kanzler Gerhard Schröder sollte fünfzig Jahre nach dem legendären Finalsieg das inzwischen abgerissene Berner Wankdorfstadion zur nationalen Gedenkstätte deklarieren; er wolle es „in einem Zug mit der Berliner Mauer, mit Weimar und anderen Bauwerken und Orten“ aufgereiht wissen, „die in der Geschichte des Landes hervorragende Bedeutung haben“.
Von positiver politischer Symbolik war für die Deutschen auch die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 im eigenen Lande geprägt, die als „Sommermärchen“ in die Fußball-Geschichte eingehen sollte. Wir Deutschen seien in diesen Wochen „andere geworden“, gerieten damals viele ins Schwärmen. Ein neuer spielerischer Patriotismus schien sich Bahn zu brechen. Hinter dem schwarz-rot-goldenen Fahnenkult wurde kein latenter deutscher Nationalismus mehr vermutet. Dies ging auch institutionell mit einem Wandel im deutschen Fußball einher. Galt der DFB über Jahrzehnte nur als reaktionäre Trutzburg eines nachkriegsdeutschen Sonderwegdenkens, so wurde mit dem „Sommermärchen“ der Pfad der Modernisierung beschritten. Höhepunkt dieser Entwicklung war das überragende Auftreten der multikulturellen DFB-Elf bei der letzten WM in Südafrika.
Zwischen Boykott und Gigantomanie
Jener ersten WM auf dem afrikanischen Kontinent waren 2010 auch viele haltlose missionarische FIFA-Versprechen vorausgegangen. Von einer Zäsur in der WM-Geschichte war ebenso vorschnell die Rede wie von der Verantwortung einer gesamtafrikanischen Mission durch Südafrika zur Stärkung eines kontinentalen Selbstbewusstseins. Doch die großsprecherischen entwicklungspolitischen Prophezeiungen sollten sich als ebenso trügerisch erweisen wie die Hoffnungen, der Fußball könne als Fortschrittsfaktor und als Movens der Politik für Gesamtafrika dienen. Die Trennlinie zwischen einer begrüßenswerten Globalisierung und einer postkolonialen Haltung war häufig nur schwer zu erkennen.
Der Weltfußball ist zum Politikum geworden. Zum einen wegen des hybriden Weltmachtbewusstseins der FIFA. Zum anderen wegen gewachsener Begehrlichkeiten der offiziellen Politik, sich des Mediums Fußball zur Demonstration von Macht und Stärke zu bedienen. Ebenso versuchen auch Regimegegner und Menschenrechtsaktivisten, die Bühne WM für ihre Ziele zu besetzen, entweder per Boykottaufruf oder über Proteste vor Ort, um den Verantwortlichen Zugeständnisse abzutrotzen.
Als vor zwei Jahren die Fußball-EM in Polen und in der Ukraine stattfand, wurde wegen der Inhaftierung der erkrankten ukrainischen Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko zum Boykott aufgerufen. Das war gleichsam das Vorspiel zu den Unruhen, die vor wenigen Monaten zum Sturz des moskautreuen Janukowitsch-Regimes führen sollten. Damals wurde argumentiert, die EM sei die beste Chance, um den Druck auf die Ukraine zu erhöhen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung plädierte seinerzeit gegen einen Boykott, freilich mit dem Zusatz: „Aber ersparen sollte man uns den ranzigen Schmus vom fairen Wettstreit der Jugend und vom Sport im politikfreien Raum“ (26. April 2012).
Was die grassierende Politisierung der FIFA-WM angeht, so stellt sich vor dem Anpfiff am 12. Juni die Frage, ob ein Megaevent wie eine Fußball-Weltmeisterschaft in all jenen Ländern künftig noch möglich sein wird, in denen Menschen unmittelbar entscheiden können und in denen eine Zivilgesellschaft gegen eine politisch unterstützte Gigantomanie der FIFA im Namen eines missionarisch missverstandenen Fußballs mobilmacht. Dass sich derartige Großveranstaltungen bald nur noch von autoritär regierten Staaten à la Putins Russland stemmen ließen, wie dieser Tage gern geunkt wird, würde wohl auf einen Reputationsgau des organisierten Weltfußballverbandes hinauslaufen. Doch noch stehen die Zeichen bei der FIFA auf Beharrung statt auf Umkehr. So hielt Sepp Blatter in diesen Tagen der Anti-WM-Protestbewegung in Brasilien vor, sie müsste sich eigentlich für eine WM bedanken, weil erst die weltweite Aufmerksamkeit bei einer solchen Großveranstaltung die Probleme eines Landes in den Fokus rücke und Druck auf die jeweilige Regierung mache. Die alte Masche.
Norbert Seitz, geboren 1950 in Wiesbaden, Essayist und Radioautor des Deutschlandfunk, Verfasser des Buches „Doppelpässe. Fußball & Politik“ (2002).