Asset-Herausgeber

von Christian Bermes

Standpunkt und Orientierung

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Die Frage, wo wir stehen, ist riskant. Denn sie wird durch die nächstliegende Antwort korrumpiert. Ist von einem „Wir“ die Rede und bezieht sich die Frage nach einem Standpunkt auf die soziale Wirklichkeit, so verlangt sie geradezu eine „Weltanschauung“, die – als Karte benutzt – Orientierung verspricht. Nichts aber ist in modernen Gesellschaften unpopulärer als eine Weltanschauung. Wer formuliert sie? Wer vertraut ihr? Und wer braucht sie noch, wenn in der gesellschaftlichen Wirklichkeit Anschauung durch Kommunikation ersetzt wird und Welt als Ordnung eines Ganzen auf Umwelt als Habitat von Spezies reduziert wird?

Im Plural mögen Weltanschauungen vielleicht noch im medialen Ringen um Aufmerksamkeit taugen, um damit Buchtitel an den Mann oder die Frau zu bringen. Auch sind Weltanschauungen keineswegs überall obsolet geworden, wie ein Blick auf die politische und gesellschaftliche Landkarte jenseits von Europa lehrt. Doch letztlich scheint der durch und durch antiquierte, verstaubte, verlotterte und in der Geschichte missbrauchte Begriff der Weltanschauung leer und sinnlos geworden zu sein. Auch in der Philosophie traute man ihm nie so recht über den Weg, warum soll man sich dann erst auf ihn einlassen? (Bermes 2004; Wenzel 2020)

Die Zeit der Weltbilder scheint ebenso vorbei wie die Zeit der Weltanschauungen – wenn sie denn überhaupt einmal eine Zeit hatten. Und mit den Weltanschauungen, so könnte man meinen, ist auch die Frage danach, wo wir stehen, obsolet geworden. Denn wir stehen immer irgendwo, und in dem digitalisierten Sozial-GPS der Gegenwart kann man eigentlich nicht mehr verloren gehen. Fällt auch dieses wider Erwarten aus, so bezieht sich kurzerhand jeder auf seinen subjektiven Kompass und seine individuelle Landkarte – auch auf die Gefahr hin, dass dann Desorientierung zum Prinzip erhoben wird.

Die Ausgangsfrage nach dem Standpunkt wird aber nicht nur durch die Zumutung einer Weltanschauung als nächstliegender Antwortoption korrumpiert. Man könnte auch sagen, dass sie aus der Zeit gefallen ist, weil mit ihr die falsche Zeitform aufgerufen wird. Denn was interessiert daran, wo wir gerade, jetzt oder heute stehen, wenn eigentlich nur von Bedeutung sein kann, wo man in fünf, zehn oder dreißig Jahren sein will? Der jetzige Standpunkt ist dann nur noch so interessant wie die Zeitung von gestern oder der gerade verschickte Tweet. Und was sollte erst die Politik damit anfangen, wenn diese nicht mehr nur auf die nächste Zukunft ausgerichtet sein soll, sondern gleich auf die kommenden Jahrhunderte?

 

Konjunktur für Narrative

 

So verdächtig die Frage danach, wo wir stehen, auch ist, so wenig lässt sie sich jedoch aus der Selbst- und Weltverständigung verbannen. Dies sieht man allein daran, dass zwar Weltanschauungen unter Ideologieverdacht stehen, Narrative aber Konjunktur haben. Wenn schon keine Weltanschauung mehr trägt, dann bedarf es zumindest eines Surrogats in der Form eines passenden Narrativs. Diese haben auch den Vorteil, dass man sie schnell ändern kann, wenn sie unangenehm werden oder nicht mehr dem Geschmack oder den Vorlieben entsprechen. Mag also die Zeit der Weltbilder vorbei sein, die Leerstelle scheint jedoch gefüllt – vielleicht sogar besser als je zuvor. Auch die Arbeit an Weltanschauungen zweiter Hand, in denen stets begrenzte Anschauung durch resistente Haltung ersetzt wird, gewinnt in den politischen Extremen links wie rechts eine größere Anhängerschaft.

Aber was steckt eigentlich in der Frage, wo wir stehen? Immanuel Kant skizzierte das Feld der Philosophie, indem er drei Leitfragen formulierte: „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“. Es sind keine Antworten, sondern hier stehen Fragen im Vordergrund. Metaphysik beziehungsweise Erkenntnistheorie, Moral und Religion stellen sich diesen Herausforderungen. Doch es bleibt nicht bei diesen drei Fragen; Kant fügt eine vierte hinzu: „Was ist der Mensch?“ Von der Beantwortung dieser Frage erwartet er anderes, vielleicht auch mehr, denn er führt zu dieser letzten Frage aus, dass die drei ersten auf die vierte Frage zurückbezogen werden müssen. Denn im „Grunde könnte man […] alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen“ (Kant 1968, S. 25).

Jürgen Habermas hat kürzlich seine moderate Skepsis darüber zum Ausdruck gebracht, ob sich angesichts der fortschreitenden Spezialisierung und Arbeitsteilung der Wissenschaften, die keineswegs an der Philosophie vorbeigeht und diese ebenfalls im Kern trifft, das „Format“ dieser Fragestellungen nicht überlebt habe. Vielleicht ist es nicht nur das Format, sondern auch der Zusammenhang dieser Fragestellungen, der auf Unbehagen stößt. Und doch, so Habermas weiter, würde gerade die Philosophie ihr „Proprium verraten, wenn sie – und sei es auch im begründeten Bewusstsein einer Überforderung – den holistischen Bezug auf unser Orientierungsbedürfnis preisgäbe“ (Habermas 2019, S. 11–13).

 

Verloren in der durchkartographierten Welt

 

Die Frage nach dem Standpunkt verweist darauf, was unter Orientierung verstanden werden kann. Und dies ist keineswegs so einfach, wie es scheint. Orientierung zu gewinnen, bedeutet nicht berechnendes Kalkulieren und ebenso wenig leeres Spekulieren. Orientierung gewinnt man nicht, indem man die Umgebung neu erschafft oder produziert, aber auch nicht, indem man sich in einer Innerlichkeit verliert.

Es bieten sich schnell räumliche Bilder an, um die Problemstellung der Orientierung zu illustrieren. Jemand verirrt sich im Wald und sucht nach Mitteln, seinen Weg fortzusetzen. René Descartes skizziert diese Szene in seinen viel diskutierten und einschlägigen Überlegungen zu einer morale par provision. Er kommt auf Reisende zu sprechen, die sich verirrt haben, und gibt folgenden Rat: Nicht „umherlaufen und sich bald in diese, bald in jene Richtung wenden, noch weniger an einer Stelle stehen bleiben, sondern so geradewegs wie möglich immer in derselben Richtung marschieren und davon nicht aus unbedeutenden Gründen abweichen […] denn so werden sie, wenn sie nicht genau dahin kommen, wohin sie wollten, wenigstens am Ende irgendeine Gegend erreichen, wo sie sich wahrscheinlich besser befinden als mitten im Wald“ (Descartes 1960, S. 41).

Das Bild scheint technisch überholt zu sein, die Szene heute weltfremd. Denn wer geht noch ohne Handy in einen Wald, den er obendrein nicht kennt? Und kann man überhaupt noch in einem solchen Sinne in einer durchkartographierten Welt verloren sein oder gehen? Und doch bleibt die Cartesische Bemerkung von Bedeutung, weil die Suche nach Orientierung nicht unabhängig von der Frage nach der Verlässlichkeit beantwortet werden kann. Denn das, worauf die Reisenden, die sich ihres Standpunkts zu versichern suchen, letztlich setzen können, um Orientierung zu finden, besteht darin, dass sie etwas nicht infrage stellen, etwas, worauf sie sich verlassen können oder müssen. In diesem Fall ist es nichts anderes als die Möglichkeit, auf die adäquate Weise weiterzugehen. Interessanterweise wird genau das, was zur Desorientierung führt, nämlich das Wandern oder Reisen, also das Gehen selbst, nicht etwa außer Kraft gesetzt, um sich zu orientieren, sondern bleibt intakt. Man kann sich nicht aus dem Wald herausdenken, herauswünschen oder herausphantasieren.

 

Bedingtes Zweifeln

 

Die Frage nach Orientierung ist somit nicht einfach nur die Frage nach einem Standpunkt, den man (wieder)gewinnen möchte, oder die Frage nach dem adäquaten Ziel, das man aus dem Auge verloren hat und das man neu suchen oder sich neu setzen muss. Sie zeigt ihre Brisanz besonders darin, dass es um Verlässlichkeit geht. Denn Verlässlichkeit muss im Spiel sein, um Orientierung zu gewinnen. Wer orientierungslos ist, kann nicht alles infrage stellen. Und von demjenigen, von dem man sagen kann, dass er orientiert sei, wird man ebenfalls sagen müssen, dass Zweifeln nur als bedingtes Zweifeln sinnvoll ist. Wer an allem zweifeln möchte, hat ganz andere Probleme. Bei Ludwig Wittgenstein heißt es in diesem Sinne, „dass ein Sprachspiel nur möglich ist, wenn man sich auf etwas verlässt“ (Wittgenstein 2008, § 509).

Damit wandelt sich die auf den ersten Blick einfache Frage, wo wir stehen, die in modernen Gesellschaften durch eine Vielzahl von Antwortoptionen sehr schnell befriedigt wird, in die durch und durch brisante Frage, was wir unter den Bedingungen einer in fragmentierten Kommunikationsformen verstrickten und funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, die sich nicht zuletzt aufgrund ihrer technischen Innovationen selbst immer schon einen Schritt voraus ist, als verlässlich annehmen können. Der „holistische Bezug auf unser Orientierungsbedürfnis“, von dem Habermas spricht, bedeutet letztlich, der Frage nach der Verlässlichkeit wieder einen Sinn unter den Bedingungen der Gegenwart abzuringen.

Hier lässt sich leicht in gefährliches und abgründiges Fahrwasser abdriften. Denn es ist keineswegs so, dass nicht zahlreiche Optionen auf dem Tisch liegen würden. Populistische Parteien inszenieren propagierte Gewissheiten als normative Verbindlichkeiten. Identitätspolitische Lautsprecher suchen Verlässlichkeit in der eigenen Betroffenheit, die kurzerhand universalisiert wird. Szientistische Verkürzungen ersetzen Verlässlichkeit durch ein wissenschaftliches Wahrheitspostulat, das die Bedingungen, unter denen Wahrheitsansprüche formuliert werden, negiert. Sozialbürokratische Verwaltung als fortwährende Schaffung neuer Strukturen sieht in der Planungssicherheit die erste und letzte Verlässlichkeit. Die Reihe ließe sich fortsetzen.

 

Inszenierte Verlässlichkeit

 

Moderne Politik ist alles andere als immun gegenüber solchen hyperbolischen Verlässlichkeitsversprechungen. Es dürfte allerdings immer noch als eine Erfolgsgeschichte der deutschen Politik der letzten siebzig Jahre anzusehen sein, dass man sich von solchen Formen inszenierter Verlässlichkeit ferngehalten hat, wenngleich man mehr und mehr mit ihnen sympathisiert.

Gleichzeitig stellt sich jedoch die Frage, ob mit der wohlbegründeten Distanz gegenüber inszenierten Verlässlichkeiten nicht auch gelebte Gewissheiten in der politischen Wahrnehmung aus dem Blick geraten sind. In nicht wenigen der aktuellen Debatten dürfte Verlässlichkeit den eigentlichen Kern der Irritationen markieren. Wird etwa nach Chancen und Grenzen einer aktivistischen Wissenschaft oder eines aktivistischen Journalismus gefragt, so verbirgt sich dahinter das Problem, ob die Aufhebung einer wohlbegründeten Einklammerung von Interessen, die üblicherweise die Professionalität und Seriosität solcher Institutionen garantiert, nicht zu erheblichem Misstrauen führt. Wird Sprache als Apparatur zur Modellierung gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden, die in den Händen einer wendigen Avantgarde zu einer wie auch immer gearteten Neuordnung sozialer Interaktion führen soll, dann stellt sich die Frage, inwieweit Sprachpraktiken noch verlässlich sein können, wenn sie letztlich einer instrumentellen Vernunft unterworfen sind. Und zählen Meinungen in einer demoskopierten Gesellschaft nur dann, wenn sie als quantifizierte und registrierte Meinungen eine Rolle spielen, dann stellt sich die Frage, welches Zutrauen man noch in die eigenen Meinungen haben kann oder darf. Auch hier ließe sich die Liste fortsetzen.

Verlässlichkeit aber ist nicht etwas, das man herstellen kann oder über das man jeweils fortwährend neu verhandeln müsste oder gar könnte. Denn woran ließen sich die Ergebnisse einschätzen, wenn nicht auch im Horizont der Verlässlichkeit? Verlässlichkeit ist vielmehr eine Beschreibungsform, die in dem Topos der Selbst- und Weltverständigung das „und“ thematisiert. Insofern geht tatsächlich die Frage nach der Verlässlichkeit aufs Ganze der sozialen Wirklichkeit.

Verlässlichkeit lässt sich auch nicht einfach optimieren. Zu Recht wird man darauf hinweisen, dass externe Strukturen und Institutionen Sicherheit garantieren. Auf die Krankenversicherung ist Verlass im Falle der Begleichung der angefallenen Kosten im Krankheitsfall. Auf das Katasteramt ist Verlass, wenn es um die Klärung von Eigentumsverhältnissen an Grundstücken geht. Auf den Buchvertrieb ist Verlass, wenn ein neuer Roman bestellt werden soll.

Dass es in dem einen oder anderen Fall zu Schwierigkeiten kommen kann, dass sich hier Probleme sogar häufen können, ist kein Gegenbeispiel. Tritt dies auf, so ist die Reaktion meist folgende: Die Strukturen sind in ihrer Wirksamkeit zu optimieren, sodass Probleme dieser Art weitgehend vermieden werden. Dazu sind Prozesse zu evaluieren und auf den Prüfstand zu stellen, Abläufe sind effizienter zu gestalten, und ein Fehlermanagement ist in die Verfahren zu implementieren. Die entsprechenden Prozessoptimierungsdienstleister werden engagiert und verrichten ihr Werk. Ein solches Vorgehen und das dazugehörige sprachliche Dekor sind bestens bekannt.

Doch solche Fälle betreffen Probleme der Planungssicherheit. Dies gehört zweifellos und unbestreitbar auch zur sozialen Wirklichkeit und zum politischen Handwerk. Doch es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass damit dasjenige abgeschöpft, befriedigt oder beantwortet werden könne, was wir wissen können, hoffen dürfen und tun sollen.

 

Frivole Selbstbestätigung?

 

Wenn die Frage danach, wo wir stehen, weder in einer frivolen Selbstbestätigung noch in einer pittoresken Selbstinszenierung enden soll, wenn sie aber auch nicht schlicht in furchtloser Sozialadministration aufgehen kann, dann wird man die unbequeme Frage nach der Verlässlichkeit nicht übergehen können. Denn an der sozialen Wirklichkeit ist nicht nur interessant, was mit Fug und Recht begründungspflichtig ist; von Bedeutung ist ebenso, worin Begründungen ihre Verlässlichkeit entfalten. Um dies zur Sprache zu bringen, wird man sich kaum an die eingeschliffene Konfrontation von Mensch und Umwelt halten können, hier spielen andere Kategorien eine Rolle – nicht zuletzt das Konzept der Person. Personen kann man durchaus einiges zutrauen, was ein „Ich“ überfordern würde. Die Unverfügbarkeit personaler Existenz ist nicht etwas, was der Verlässlichkeit entgegensteht; sie ist grundlos begründet in dem nicht auflösbaren Zusammenspiel von Wissen, Hoffen und Handeln. Auch dieses Spiel hat einen Namen – man kann es Kultur nennen.

Kultur fällt keineswegs mit propagierter Weltanschauung zusammen, sie immunisiert gegen Weltbildinszenierungen. Kultur ist ebenso wenig etwas, das den verschiedensten Rationalisierungsprozessen entgegenstehen würde. Im Gegenteil: Sie gewinnen darin die jeweilige Form ihrer Verlässlichkeit. All dies ist freilich wie die Kantischen drei Fragen stets rückgekoppelt an ein Konzept des Menschen, das menschliche Existenz nicht auf bloßes Vorhandensein und menschliches Wirken nicht auf optimale Effektivität reduziert, sondern Praxis im Unterschied zur Herstellung so begreift, dass auch Menschen sich in ihrem Handeln zu etwas machen und sich dabei auf einiges verlassen müssen.

 

Christian Bermes, geboren 1968 in Trier, Professor für Philosophie und Leiter des Instituts für Philosophie, Universität Koblenz-Landau (Campus Landau).

 

Literatur

 

Bermes, Christian: ‚Welt‘ als Thema der Philosophie. Vom metaphysischen zum natürlichen Weltbegriff, Meiner Verlag, Hamburg 2004.

Descartes, René: Discours de la méthode / Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs (1. Aufl. 1637), trans. Lüder Gäbe, Meiner Verlag, Hamburg 1960.

Habermas, Jürgen: Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.

Kant, Immanuel: Logik, 1. Aufl. 1800, Akademie-Ausgabe IX, Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1968.

Wenzel, Uwe Justus: „Ein Spiegel der Philosophie. ‚Weltanschauung‘ als Begriff und Bedürfnis“, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie, 14/2, 2020, S. 151–170.

Wittgenstein, Ludwig: „Über Gewißheit“, in: G. E. M. Anscombe / G. H. von Wright (Hrsg.): Über Gewißheit, Werkausgabe Band 8, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, S. 113–257.

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