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Die Türkei und der Westen

Die Beiträge dieser Unterrubrik habten teils dokumentarischen Charakter.

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„Wohin denn sonst?“ – Das möchte man denen antworten, die bezweifeln, dass die Türkei zum Westen gehört. Jeder, der der Frage und den Konsequenzen einer anderen Verortung der Türkei nachgeht, wird zu dem Ergebnis kommen, dass es sowohl im westlichen als auch im türkischen Interesse liegt, an der Zugehörigkeit der Türkei zum Westen keinerlei Zweifel aufkommen zu lassen.

„Der Westen ist eine Wertegemeinschaft“, sagt der Historiker Heinrich August Winkler[1], der in einem opus magnum Deutschlands „langen Weg nach Westen“ beschrieben hat.[2] Ausgehend von einem gemeinsamen Bild vom Menschen, wie es im Grundrechtskatalog der Virginia Declaration of Rights vom 12. Juni 1776 seinen Ausdruck gefunden hat („Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte“), und den Errungenschaften der Französischen Revolution von 1789 verbindet den Westen ein gemeinsames Verständnis von der Würde des Menschen und den Menschenrechten. Dies wiederum ist Grundlage einer gemeinsamen Auffassung von Volkssouveränität und von Demokratie. Rechtsstaat und Gewaltenteilung dienen der Begrenzung von Macht und Herrschaft. Die Herrschaft des Rechts (rule of law), eine repräsentative Regierung, die checks and balances, die wechselseitigen Kontrollen und Gegengewichte sollen eine zu starke Machtkonzentration in einer Hand verhindern.[3]

Der Westen versteht Demokratie nicht als unbegrenzte „Herrschaft der Mehrheit“ nach dem Motto: „The winner takes it all.“ Demokratie und Minderheitenschutz gehören zusammen.

 

Der „Westen“ ist ein Prozess

Es hat über 200 Jahre gedauert, bis sich die politischen Ideen von 1776 und 1789 im gesamten alten Westen durchgesetzt haben. „Die Verwestlichung des Westens war also ein langwieriger Prozess, dessen Hauptmerkmal die Ungleichzeitigkeit war. Das Ergebnis … ist keine Einheitskultur. Es gibt vielmehr unterschiedliche Ausprägungen der politischen Kultur des Westens … Die politische Kultur des Westens ist pluralistisch. Sie muss deshalb auch eine Streitkultur sein, die Verschiedenheiten aushält und Gegensätze friedlich austrägt.“[4]

Der „Westen“ ist demnach kein geografischer, sondern ein politischer Begriff. Auch Australien gehört zum Westen. Und der „Westen“ ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Der Grad der Gemeinsamkeiten schwankt und ist einem Wandel unterworfen. Es gibt Rückfälle, wenn Staaten des „Westens“ gegen ihre eigenen Werte verstoßen. Das gilt es zu beachten, wenn man sich jetzt der Frage zuwendet, ob die Türkei zu diesem politisch so verstandenen Westen gehört.

 

Verlässliche Partner auf internationaler Ebene

Die Türkei ist seit 1952 Mitglied der NATO, der gemeinsamen westlichen Verteidigungsallianz, der die Deutschen nicht nur im Kalten Krieg und im Konflikt mit der Sowjetunion ihre Sicherheit zu verdanken hatten, sondern von der ihre Sicherheit auch im 21. Jahrhundert abhängt. Sie verdanken die Wiedervereinigung auch der loyalen Unterstützung der Türkei.

Die Türkei gehörte zu den Gründungsmitgliedern der vom Westen initiierten und geprägten ökonomischen und politischen Organisationen wie des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) von 1947, des Internationalen Währungsfonds (IWF) von 1944, der Weltbank von 1945, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) von 1960 (1948) und des Europarats von 1949. Alle diese Organisationen nehmen ihr jeweiliges Mandat auf der Grundlage eines vom Westen geprägten Werteverständnisses wahr.

Wirtschaftlich ist die Türkei mit dem Westen enger verbunden als mit allen anderen Bündnissen. Mehr als vierzig Prozent des Außenhandels der Türkei erfolgte 2012 mit der Europäischen Union (EU) und den USA. Zwei Drittel der türkischen Auslandsinvestitionen gingen in die USA und die EU. Von den Direktinvestitionen des Auslands in die Türkei mit einer Gesamthöhe von 15,887 Milliarden US-Dollar im Jahr 2011 stammten insgesamt 1,423 Milliarden aus Nordamerika und 11,282 Milliarden aus der EU.[5]

Mit der EU ist die Türkei seit 1996 durch eine Zollunion wirtschaftlich besonders eng verbunden. Seitdem wird praktisch die gesamte Außenhandelspolitik der Türkei in Brüssel gestaltet – ohne dass die Türkei darauf institutionell einwirken kann. Angesichts der jetzt begonnenen Verhandlungen zwischen der EU und den USA über eine Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) ist das durchaus ein Problem, da die gefundenen Regelungen und die getroffenen Vereinbarungen im Rahmen der TTIP auch die Türkei unmittelbar binden und für sie gelten.

 

Selbstbewusste Zivilgesellschaft

Die Kultur der Türkei unterscheidet sich vom Westen nicht stärker, als das angesichts der kulturellen Vielfalt im Westen auch sonst der Fall ist. Innerhalb der USA gibt es beträchtliche kulturelle Unterschiede zwischen Nord und Süd, angelsächsisch oder spanisch geprägten Landesteilen. Die USA wiederum unterscheiden sich kulturell von Kanada oder Europa. Innerhalb Europas haben die Skandinavier andere Lebensstile und -gewohnheiten als die Menschen in Süditalien.

Der Westen der Türkei mit den großen urbanen Zentren unterscheidet sich kulturell nicht wesentlich von den USA oder Europa. Istanbul ist eine kosmopolitische Weltstadt mit über dreizehn Millionen Einwohnern. Die ländlichen Gebiete im Osten der Türkei haben mehr gemeinsam mit ähnlichen Landesteilen in Griechenland, Rumänien oder Bulgarien.

Unterschiedliche Religionen und Sprachenvielfalt sind charakteristisch für die Kulturen des Westens. Sie sind von Vielfalt, nicht durch Homogenität geprägt. Zu dieser kulturellen Vielfalt des Westens passt auch die Türkei. Millionen von Auslandstürken, die in den USA, der EU und vor allem in Deutschland leben, stärken die kulturellen Verbindungen zum Land ihrer Eltern und Großeltern.

Nur wer auf die Welt durch die Zerrbrille Samuel Huntingtons blickt, macht voneinander deutlich unterscheid- und abgrenzbare Zivilisationen aus, die vor allem religionsbestimmt seien, und fürchtet sich vor einem „Clash“ mit der Zivilisation „des Islam“. Ganz so, als gäbe es den „Clash“ des Mordens und Tötens nicht seit Jahrzehnten im Irak, in Afghanistan, Pakistan oder Syrien – also innerhalb dessen, was Huntington die Zivilisation des Islam nennt.

Die landesweiten Gezi-Park-Proteste haben gezeigt, dass es auch in der Türkei eine selbstbewusste Zivilgesellschaft gibt, die gefragt werden und mitbestimmen will und die sich genauso wie in anderen Ländern des Westens auf Augenhöhe mit ihrem Staat sieht. Die staatliche Reaktion darauf hat allerdings rechtsstaatliche Defizite deutlich gemacht.

 

Weder Puffer noch Brücke

Manche europäische Politiker wollen der Türkei die Rolle eines Pufferstaats zwischen der EU und den unruhigen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens zuschreiben. Einmal abgesehen davon, dass dies eher ein Denken in den Kategorien des 19. Jahrhunderts ist, werden die Anhänger dieser Idee kaum behaupten wollen, dass diese Pufferstaat-Rolle für die Türkei sonderlich attraktiv sei. Man darf unterstellen, dass die Türkei das selbst auch so sieht und entsprechende Vorschläge nicht als besonders freundschaftlich bewertet.

Die Türkei solle doch als Brücke fungieren zwischen Europa und Asien. Diese Zuschreibung klingt zwar etwas freundlicher, läuft allerdings angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten auf dasselbe hinaus. Denn in den Spannungen und Konflikten dieser Region lässt sich für die Türkei kein festes Widerlager finden, auf das sich eine solche Brückenfunktion gründen könnte.

In Ankara gibt es Stimmen, die angesichts der empfundenen Zurückweisungen durch die EU empfehlen, die Türkei solle Europa den Rücken kehren und sich verstärkt den Turkvölkern Zentralasiens zuwenden. Solche Ratschläge übersehen, dass dies mit erheblichen wirtschaftlichen und politischen Einbußen verbunden wäre. Aserbaidschan und Kirgisien können die EU nicht ersetzen.

Andere in der Türkei verweisen auf die Gemeinsamkeiten mit Staaten, in denen Muslime die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Die Türkei gehöre deshalb zum Nahen und Mittleren Osten, meinen sie. Aber es gibt nicht sehr viele Gemeinsamkeiten zwischen Saudi-Arabien, Ägypten, dem Iran und der Türkei. Stattdessen überwiegen Rivalitäten und Spannungen. Auf sich allein gestellt, hätte die Türkei in der Konkurrenz um regionalen Einfluss einen schweren Stand.

Die Türkei gehört nicht zuletzt deshalb zum Westen, weil sich die Frage „Wohin denn sonst?“ weder für den Westen noch für die Türkei zufriedenstellend beantworten lässt.

Der Westen ist eine politische Wertegemeinschaft. Die EU ist das große Projekt, den europäischen Teil des Westens zu einer politischen Union zu vereinen. Um diese Feststellung darf man sich weder in Ankara noch in Brüssel, Paris oder Berlin herumdrücken. Wohin denn sonst sollte die Türkei politisch gehören, wenn nicht zum Westen?

 

Ruprecht Polenz, geboren 1946 in Denkwitz, von 1994 bis 2013 Mitglied der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, dort von 2005 bis 2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Senior Fellow am Istanbul Policy Center (IPC) der Sabancı-Universität.


[1] Winkler, Heinrich August: „Was heißt westliche Wertegemeinschaft?“, in: Die Zeit vom 22.02.2007, Seite 12.
[2] Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen, zwei Bände, München 2000.
[3] Winkler, Heinrich August: „Was heißt westliche Wertegemeinschaft?“, a. a. O.
[4] Ebenda, a. a. O.
[5] www.invest.gov.tr.

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