Asset-Herausgeber

von Claire Demesmay
von Andreas Marchetti

Deutschlands Europapolitik zwischen nationalen Interessen und europäischer Verantwortung

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Deutschland mag sich in den letzten Jahrzehnten verändert haben, doch die europäische Integration bleibt Dreh- und Angelpunkt deutscher Diplomatie. Die von den meisten politischen Parteien des Landes unterstützte europapolitische Kontinuität beruht auf drei Leitmotiven: Erstens hat die deutsche Europapolitik einen normativen Anspruch und zielt darauf ab, dass die Union und ihre Mitgliedstaaten eine Wertegemeinschaft bilden. Zweitens wird das europäische Projekt weitgehend durch das Prisma der Wirtschaft und insbesondere des Marktes betrachtet. Drittens hält sich Deutschland im militärischen Bereich der Europa- und Außenpolitik zurück, und dies, obwohl die Beteiligung deutscher Streitkräfte an Auslandseinsätzen inzwischen durchaus zur Normalität gehört.

Trotz der unbestreitbaren Kontinuität deutscher Europapolitik haben sich seit der Wiedervereinigung Veränderungen im Kontext der Europäischen Union (EU) und innereuropäische Gewichtsverschiebungen unmittelbar auf die Rolle Deutschlands in Europa ausgewirkt. Berlin weigert sich zwar, sich als europäischer „Hegemon“ zu positionieren, ist jedoch selbstbewusster geworden und zögert nicht mehr, seine nationalen Interessen offen zu verteidigen. Ein Beispiel dafür ist die Politik der Bundesregierung, um „den deutschen Personalanteil in internationalen Organisationen und europäischen Institutionen quantitativ und qualitativ weiter zu erhöhen“.1 Ein solcher Ansatz hängt einerseits mit dem Generationswechsel sowie der Vollendung der „Erlösung“ 2 nach dem Zweiten Weltkrieg und andererseits mit der allmählichen Normalisierung der europäischen Position Deutschlands seit der Wiedererlangung der vollen Souveränität zusammen. Die moralische Verpflichtung, tugendhafter als andere zu sein, die es sich nach Ende des Krieges auferlegt hatte, ist im Laufe der Zeit verblasst. Darüber hinaus hat Deutschland aufgrund seiner zentralen geografischen, wirtschaftlichen und demografischen Lage auf dem europäischen Kontinent de facto eine Führungsrolle inne. Spätestens mit der europäischen Staatsschuldenkrise wurde diese politische Führung unumgänglich: Angesichts eines geschwächten Südeuropa musste Berlin in die Rolle des zentralen Akteurs in den Verhandlungen über wirtschaftliche Rettungsmaßnahmen und die Reform der Wirtschafts- und Währungsunion hineinwachsen.

Ob es einem gefällt oder nicht: Deutschland hat mehr Einfluss auf den Kurs Europas als jeder andere Mitgliedstaat. Seine Entscheidungen haben Auswirkungen auf die gesamte EU, zumal diese heute in vielen Politikbereichen stark integriert ist. Wenn es ein Projekt ablehnt, wie etwa die Schaffung eines Haushalts für die Eurozone, wird es von Deutschland auch blockiert. Umgekehrt wäre es der EU ohne die Unterstützung der Bundesregierung unmöglich gewesen, während der COVID-19-Pandemie einen ehrgeizigen Konjunkturplan zu verabschieden.

 

Aufgabe roter Linien

 

Deutschland hat bis heute diese Führungsrolle nur zögerlich angenommen. Daher wurde es in der Vergangenheit nicht nur dafür kritisiert, Europa zu dominieren, sondern auch, die ihm zufallende Führungsrolle nicht angemessen zum Wohle aller auszufüllen. Einen dergestalt handelnden, „wohlwollenden Hegemon“ (so Wolfgang Schäuble) dürften aber nicht nur seine eigenen nationalen Interessen leiten; vielmehr müsse er sich selbst vorbildhaft der Bereitstellung zentraler öffentlicher Güter verschreiben.3 Unter anderem mit Verweis auf Schäuble wies der Analyst und Journalist Hans Kundnani bereits angesichts der europäischen Staatsschuldenkrise darauf hin, dass ein Hegemon auch „Opfer zu bringen“ habe, um seine Rolle auszufüllen.4 Für die deutsche Europapolitik sollte dies in letzter Konsequenz auch die Infragestellung oder Aufgabe eigener Positionen oder gar roter Linien zugunsten des größeren Ganzen bedeuten.

In diesem Sinne scheinen sich bei aller Konstanz deutscher Europapolitik in ihrer Praxis allmählich bedeutsame Anpassungen Bahn zu brechen. Bereits seit Längerem wieder stärker einem „Trend zur Vergemeinschaftung und Supranationalisierung“5 folgend, räumt die Bundesrepublik der Aufrechterhaltung und Gewährleistung des europäischen Zusammenhalts – durchaus aus eigenem Interesse gemäß den weiter bestehenden Leitmotiven – deutlicher als zuvor Priorität ein. Folgerichtig scheint die Bundesregierung wieder willens, auch innenpolitisch unpopuläre Weiterentwicklungen der eigenen europapolitischen Position vorzunehmen beziehungsweise eigene Präferenzen hintanzustellen. Anzeichen für solche Anpassungen traten unter der deutschen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 deutlich zutage:

- In der Pandemiebekämpfung gab die Bundesregierung den Forderungen einer rein nationalen Impfstoffbeschaffung nicht nach und setzte sich für eine europäische Impfstoffstrategie ein.

- Die Grundlagen für den mit 750 Milliarden Euro ausgestatteten Aufbaufonds legte Deutschland in einem gemeinsam mit Frankreich eingebrachten Vorstoß, der erstmals die bisherige rote Linie deutscher Politik einer gemeinsamen Kreditaufnahme überschritt.

- Bei der Ausgestaltung der nunmehr in ein Handelsabkommen gegossenen Beziehungen zum Vereinigten Königreich infolge des Brexit ließ sich die Bundesregierung trotz der Bedeutung des bilateralen Handels nicht zu eigenständigen Initiativen verleiten.

 

Enge Zusammenarbeit mit Paris

 

Daraus geht hervor, dass im europäischen Kontext ein wohlwollender Hegemon nur ein kooperativer sein kann. Die Bundesregierung ist bemüht, mit allen anderen Mitgliedstaaten gute Beziehungen zu pflegen und das Bild eines egoistischen Deutschland zu vermeiden, wie es während der „Griechenlandkrise“ verbreitet war. Damit scheint sie erfolgreich zu sein, denn Deutschland – ebenso wie Frankreich – gilt zum einen als gefragter Ansprechpartner, den die anderen EU-Staaten gern und oftmals kontaktieren.6 Zudem setzt Berlin in diesem Kontext auf eine enge Zusammenarbeit mit Paris und führt damit eine mehr als ein halbes Jahrhundert währende Tradition fort.

Die Entscheidung für eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit hängt nicht nur mit dem außergewöhnlich dichten System bilateraler Abstimmung zusammen. In einer Europäischen Union, in der die nationalen Interessen und Positionen heterogener geworden sind, stehen Deutschland und Frankreich im Lager der Integrationsbefürworter. Beide sind bestrebt, die EU angesichts der internationalen Herausforderungen handlungsfähig zu machen, und haben sich in den letzten Monaten in der Frage der europäischen Souveränität angenähert. Selbst wenn Deutschland das sehr ehrgeizige Projekt Frankreichs, wie Emmanuel Macron es in seiner Rede an der Sorbonne 2017 erstmals darlegte, nicht in vollem Umfang teilt, hat die COVID-19-Krise das Bewusstsein deutscher Entscheidungsträgerinnen und -träger für die Risiken europäischer Abhängigkeiten und die Notwendigkeit, diese zu begrenzen, geschärft.

 

Streit um die „Macht Europa“

 

Es ist daher zu erwarten, dass die gute Zusammenarbeit zwischen beiden Regierungen gerade auch anlässlich der französischen EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2022 fortgesetzt wird. Dies schließt Meinungsverschiedenheiten nicht aus. So könnte der alte Streit um die Vergemeinschaftung der Staatsschulden und um ausgeglichene Budgets, der während der Coronakrise in den Hintergrund getreten ist, bald wieder aktuell werden. Auch im Hinblick auf das Projekt einer „Macht Europa“, das Frankreich so sehr am Herzen liegt, bieten sich mehrere Themen für Kontroversen – sei es in Bezug auf eine ehrgeizige Industriepolitik oder hinsichtlich der Verteidigung und der „strategischen Autonomie“. Der Rückzug des US-Militärs aus Afghanistan im Sommer 2021 ist ein weiterer Hinweis darauf, dass sich diese Fragen in naher Zukunft noch virulenter stellen werden.

Deutsch-französische Meinungsverschiedenheiten müssen allerdings kein Hinderungsgrund für gelingende Zusammenarbeit sein. Ganz im Gegenteil: Eine Annäherung auch im Sinne der anderen Mitgliedstaaten generiert häufig akzeptable und praktikable „Stellvertreterkompromisse“. Die bisherige Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses hat zudem gezeigt, dass einmal getroffene Entscheidungen und damit eingeschlagene Pfade oft auf Dauer angelegt sind. Für die deutsche Europapolitik bedeutet dies nicht nur, dass die Änderungen der eigenen Position vermutlich Bestand haben werden, sondern dass auch die europäischen Partner diese im Sinne deutscher Verlässlichkeit einfordern werden.

 

Claire Demesmay, geboren 1975 in Dole (Frankreich), assoziierte Forscherin im „Centre Marc Bloch“, Berlin, lehrt an der Freien Universität Berlin und an der Université Sorbonne Nouvelle, Paris.

Andreas Marchetti, geboren 1975 in Pirmasens, Gründer und Geschäftsführer der politglott GmbH, Bad Honnef, Honorarprofessor, Universität Paderborn.

 

 

1 Siebter Bericht der Bundesregierung zur deutschen Personalpräsenz in internationalen Organisationen, Berichtzeitraum 2019 und 2020, www.auswaertigesamt.de/blob/215550/9a174cb60b849da825ebbacc 44b684bb/berichtbregpersonalio-data.pdf, S. 5 [letzter Zugriff: 24.08.2021].

2 Zbigniew Brzezinski: The Grand Chessboard. American Primacy and its Geostrategic Imperatives, New York 1997.

3 Vgl. Wolfgang Schäuble: Rede des Bundesministers der Finanzen Dr. Wolfgang Schäuble an der Université Paris-Sorbonne, 02.11.2010, www.wolfgangschaeuble.de/1595/ [letzter Zugriff: 09.08.2021].

4 Vgl. Hans Kundnani: „Was für ein Hegemon? Berlins Politik führt zu keinem deutschen, sondern einem chaotischen Europa“, in: Internationale Politik, Mai/Juni 2012, S. 22, S. 24.

5 Katrin Böttger / Mathias Jopp: „Grundlinien deutscher Europapolitik“, in: dies. (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Europapolitik, 2. Aufl., Nomos Verlag, Baden-Baden 2021, S. 3.

6 Siehe Studie des European Council on Foreign Relations, die sich auf eine Befragung von mehr als 800 Experten zu europäischen Themen stützt; ECFR, EU Coalition Explorer, 08.07.2020, https://ecfr.eu/special/eucoalitionexplorer [letzter Zugriff: 24.08.2021].

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