Asset-Herausgeber

von Henri Bohnet

Griechenland und die Türkei

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Feinde? In erster Linie sind Griechenland und die Türkei Nachbarn. Und wie alle Nachbarn verbindet sie eine langjährige Geschichte mit Höhen und Tiefen. Letztere spielen in den aktuellen bilateralen Beziehungen jedoch eine erhebliche Rolle. Durch den ungelösten Zypernkonflikt, strittige Grenzfragen in der Ägäis und neue sicherheitspolitische Herausforderungen, wie das Migrationsproblem und die Energiesicherheit, verschärften sich im vergangenen Jahr die Spannungen zwischen den beiden Nachbarn. Mittlerweile reden Athen und Ankara zumindest wieder miteinander. Das ist nicht zuletzt der Vermittlerrolle Deutschlands zu verdanken, besonders im zweiten Halbjahr 2020. Damals hatte Berlin turnusmäßig die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union (EU) inne. Jetzt geht es darum, den Dialog weiterzuführen und Lösungsansätze für die vielschichtigen Probleme zu finden, die diese Nachbarschaft belasten. Dabei geht es um die Stabilität in einer Region, die nicht nur für Griechenland und die Türkei, sondern für ganz Europa von Bedeutung ist.

Griechenland wurde im vergangenen Jahrzehnt durch Krisen erschüttert. Das knapp elf Millionen Einwohner zählende Land stand während der europaweiten Finanzkrise im Zentrum des Geschehens. Es war einer der ersten Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die mit Populismus experimentierten: Alexis Tsipras, Yanis Varoufakis, Ochi, das „Nein“ zum „Spardiktat“, das sich innerhalb weniger Tagen in ein „Ja“ verwandelte und das die Griechen Kolotoumba („Rolle rückwärts“) nennen, sind noch in Erinnerung. Durch die wirtschaftspolitischen Verfehlungen vorangegangener Jahrzehnte und politischer Verantwortungslosigkeit hatte Hellas fast ein Drittel seiner Wirtschaftskraft verloren. Es durchlebte eine politische Achterbahnfahrt, bei der in einer Dekade fünf Regierungen wechselnder Couleur verschlissen wurden. Die Folgen waren nicht nur der totale Vertrauensverlust der Griechen in ihre politische Elite, sondern auch die Abwanderung Hunderttausender junger und talentierter Nachwuchskräfte, die in ihrer Heimat keine berufliche Perspektive für sich mehr sahen.

Noch heute verzeichnet Hellas europaweit die mit Abstand höchste Arbeitslosigkeit, insbesondere bei der Jugend, und den höchsten Schuldenberg. Doch im Zeichen der Pandemie hat sich das Bild Griechenlands weltweit zum Positiven gewandelt – und das liegt nicht nur an den Urlaubssehnsüchten Lockdown-geplagter Nordeuropäer. Die Mitte 2019 ins Amt gewählte liberalkonservative Regierung von Premierminister Kyriakos Mitsotakis hat die gesundheitspolitischen Herausforderungen im europäischen Vergleich bisher beeindruckend gut gemeistert. Sie hat zudem, und das ist das Bemerkenswerte, die aus der Krise erwachsenden Chancen erkannt und im Bereich der Digitalisierung genutzt. So konnten staatliche Verfahren vereinfacht, konnte Schulunterricht schnell online gestellt, die Impfkampagne reibungslos organisiert und die Wettbewerbsfähigkeit des Landes gestärkt werden. Das hat Athen Anerkennung in den europäischen Hauptstädten und im eigenen Land gebracht: Das Vertrauen der Bürger in die eigene Politik ist höher als seit dem Ausbruch der Schuldenkrise vor gut zehn Jahren.

 

Bildung neuer Allianzen

 

Mit diesem neuen Selbstverständnis versucht die Regierung Mitsotakis nun, die Beziehungen zur Türkei auf ein neues Fundament zu stellen: auf eines, das von der breiten Unterstützung der eigenen Bevölkerung und der übrigen EU-Mitgliedstaaten getragen wird und auf den Normen des Völkerrechts fußt. Die vergangenen Krisenjahre haben Athen gelehrt, dass sowohl die europäische als auch die einheimische Unterstützung nicht selbstverständlich ist. Deshalb bemüht sich die Regierung verstärkt um die Suche nach neuen Verbündeten im östlichen Mittelmeerraum. Die Initiative von Mittelmeer-Anrainern zur gemeinsamen Koordinierung der Erdgasgewinnung in der Region, das sogenannte Eastern Mediterranean Gas Forum, gehört ebenso dazu wie die bilateralen Abkommen zur Festlegung der jeweiligen Seegrenzen mit Ägypten, Italien und Albanien.

Die verstärkten diplomatischen Aktivitäten Athens hatten bereits unter Mitsotakis’ Vorgänger Tsipras begonnen, der das historische Abkommen zur Beilegung des Namensstreits mit der Republik Nordmazedonien erzielte. Sie werden aktuell fortgesetzt mit der Wiederaufnahme offizieller Beziehungen mit Libyen und dem Ausbau der wirtschaftlichen und militärischen Zusammenarbeit mit den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens. Bei den multilateralen Formaten betont Athen immer wieder den inklusiven Charakter, das heißt, dass diese Formate auch für eine türkische Teilnahme offenstehen. Denn von übergeordneter Bedeutung bleibt das Interesse Athens an einem direkten Austausch mit dem Nachbarn Türkei.

 

Der Elefant im Raum

 

Doch wo immer es direkt oder indirekt um die Türkei geht: Der „Elefant im Raum“ ist die Zypernfrage. Hier laufen die Konfliktlinien über Erdgasvorkommen, Seegrenzen und exklusive Wirtschaftszonen zusammen und verweisen auf das jahrzehntelang ungelöste Problem der Teilung der Insel: Auf der einen Seite steht der türkisch kontrollierte Norden, auf der anderen Seite die von überwiegend griechischsprachigen Zyprioten bewohnte Republik Zypern, die als EU-Mitgliedstaat völkerrechtlich den Anspruch auf das gesamte Territorium der Insel hat.

Nach vierjähriger Pause kam es vom 27. bis 29. April 2021 zu einer Neuauflage der durch die Vereinten Nationen (UN) eingeleiteten Gespräche zur Zypernfrage; ein wichtiges Signal, um dem Friedensprozess noch einmal eine Chance zu geben. Denn nicht nur die Regierung in Nordzypern scheint sich von einer UN-propagierten föderalen Lösung zu verabschieden – auch der langjährige Präsident in Nikosia, Nikos Anastasiadis, hat mit seiner Regierung in den vergangenen Jahren keine nennenswerten Anstrengungen unternommen, einer Einigung näherzukommen. Immer mehr verblasst die Erinnerung an die Zeit vor der Teilung 1974. Umso mehr Bedeutung kommt deshalb dem verstärkten Engagement der neuen US-Administration zu, die, so hofft man, Druck auf alle Beteiligten ausüben wird, sich aufeinander zuzubewegen.

Vor diesem Hintergrund ist der neue Dialog zwischen Athen und Ankara zu begrüßen: zuerst die Wiederaufnahme der „technischen Gespräche“ zur Beilegung der bilateralen Streitpunkte, die seit über vierzehn Jahren ungelöst sind, und nun die ersten politischen Begegnungen. So besuchte der griechische Außenminister Nikos Dendias unlängst Ankara, wo er neben seinem türkischen Counterpart auch mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan zusammentraf. Der türkische Außenminister stattete Griechenland daraufhin Ende Mai 2021 einen Gegenbesuch ab. Auf europäischer Ebene wird parallel ebenfalls wieder intensiver mit der Türkei gesprochen: Anfang April kamen in Ankara Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel mit Präsident Erdoğan zusammen. Die Europäische Union setzt, auf Anregung Berlins, auf eine „positive Agenda“ gegenüber der Türkei, die vor allem Fortschritte in einem der für Europa wichtigsten Themen erzielen will: der Migrationsherausforderung.

Die Zahl der über die Ägäis kommenden Asylsuchenden ist im Coronajahr 2020 zwar drastisch gesunken. Dennoch rechnen alle Seiten damit, dass die durch die Pandemie verursachten wirtschaftlichen Rückschritte vor allem in den Krisen- und Entwicklungsländern bald wieder neue Flüchtlingsbewegungen nach Europa in Gang setzen könnten. Eine Wiederholung der Zustände des Flüchtlingsjahrs 2015 will nicht nur Griechenland verhindern, dessen überfüllte Aufnahmelager zum Symbol einer gescheiterten europaweiten Asylpolitik wurden, sondern auch das übrige Europa.

 

Aufeinander angewiesen

 

Es bewegt sich also etwas in der Region, zum Positiven, nachdem die Zeichen im vergangenen Sommer auf Sturm standen. Abseits der aufgeheizten Debatte in den Medien bleibt die Tatsache, dass beide Seiten aufeinander angewiesen sind, Athen und Ankara, Europa und die Türkei. Die Migrationsherausforderung kann nur in Partnerschaft mit Ankara, mit einem guten Auskommen zwischen Griechenland und der Türkei sowie mit finanzieller Hilfe aus Brüssel gemeistert werden.

Die Grenzen zwischen den beiden Nachbarn werden nicht für immer geschlossen bleiben, sondern nach Abklingen der Pandemie wieder öffnen. Davon werden beide Seiten, auch wirtschaftlich, profitieren. Ein Sinneswandel ist in Teilen der griechischen Bevölkerung im Ansatz spürbar. Die (vor Corona) wachsende Zahl türkischer Touristen – im nördlichen Teil Griechenlands, aber auch auf zahlreichen ägäischen Inseln – führt zu immer mehr persönlichen Kontakten, zu wirtschaftlichem Austausch und zum Abbau von Vorurteilen. Die Erkenntnis, die manche griechischen Inselbewohner auch während der politischen Spannungen der letzten Zeit nicht verloren haben, wächst: Wir sind aufeinander angewiesen. Das da am Horizont, auf der anderen Seite der Ägäis, das sind unsere Nachbarn.

 

Henri Bohnet, geboren 1975 in Ulm, Leiter des Auslandsbüros Griechenland der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Athen.

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