Asset-Herausgeber

Wie geküsst wird und was das über uns sagt

Alexandre Lacroix: Kleiner Versuch über das Küssen, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2013, 175 Seiten, 16,90 Euro.

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Ist die Art und Weise, wie die Menschen einander küssen „das Echo der uns umhüllenden Metaphysik“? Der französische Philosoph Alexandre Lacroix, Professor am renommierten Institut d’Études Politiques in Paris, behauptet das in seinem originellen Buch Kleiner Versuch über das Küssen. Es erscheint als eine sehr französische Idee, dass die Art und Weise zu küssen eine Chiffre für gesellschaftliche Normen und Konventionen sein soll. Doch ist sie nicht so einfach von der Hand zu weisen. Denn es ist eine soziologische Binsenweisheit, dass sich Sitten und Gebräuche in der sozialen Kommunikation niederschlagen – und zu ihren intimsten Formen zählt der Kuss. Als Ritual des Respekts und der Zärtlichkeit dürfte er somit tatsächlich Auskunft darüber geben, wie Menschen denken und fühlen, wie sie einander begegnen.

Als philosophisches Thema ist der Kuss weiß Gott nicht neu. Jean-Jacques Rousseau etwa beschreibt ihn in seinem Roman Die neue Heloise. Von zarten „Rosenmündern“ ist darin die Rede, die beglückte Seufzer ausstoßen, da das Feuer „brennender Lippen“ verlischt – anders als bei Marquis de Sade und seinem Buch Justine oder das Missgeschick der Tugend. Dort spielen „feurige Zungen“ die Hauptrolle, die ihr wollüstiges Werk wühlend und brutal verrichten, begleitet von klagenden Lauten oder wüsten Obszönitäten. Der Kuss – als Geste körperlicher Zuneigung – steht im Spannungsfeld dieser beiden Pole.

 

Zusammenstoß statt Zärtlichkeit

Folgt man Lacroix, dann leben wir in einer Epoche der Verrohung. Es trete zunehmend das in den Vordergrund, was de Sade als authentischen Geschmack des Kusses in der Natur vorzufinden glaubte: die Hemmungslosigkeit, die den „Kuss als gezügelten Biss“, seines Sinnes beraubt, ihn zu einem Verschlingen werden lässt. In Literatur, Malerei und darstellender Kunst, klagt Lacroix, verschwänden Darstellungen, wo sich Küssende innig in die Liebkosungen versenkten, die zeigten, dass „Liebe regiert, wo die Natur bereits gewählt hat“, wie es Rousseau ausdrückte. Stattdessen würden verstärkt Küsse Einzug halten, die allein lustgeleitet, gierig und schnell seien; gemäß dem „Zeitgeist, der eher zum Zusammenstoß als zur Zärtlichkeit“ ermuntere und der sich auch in Warteschlangen vor Supermärkten, in Großraumbüros und auf Flaniermeilen manifestiere, wo Aggressionen spürbar würden, die nur auf ein falsches Wort, eine falsche Geste warteten, um loszubrechen. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sahen im Werk des Marquis de Sade das kalkulierende, auf „blutige Leistungsfähigkeit“ ausgerichtete „bürgerliche Subjekt“ konsequent ausgestaltet; in der „Dialektik der Aufklärung“, dem grundlegenden Text der „Kritischen Theorie“ und damit der Frankfurter Schule (1939 bis 1944 entstanden), zeigten sie anhand der „Justine“, wie die rohen Triebe des Subjekts zum Durchbruch gelangten, wie sie sein Handeln bestimmten und wie dies mit historischen und gesellschaftlichen Prozessen einherging.

Insofern erscheint es interessant, sich Lacroix’ Untersuchung zuzuwenden, in der sich das gesamte Spektrum des Kusses manifestiert.

Für den französischen Philosophen jedenfalls illustriert heute auch das Kino der Traumfabrik Hollywood die Tendenz zur „Verrohung“: Nicht nur, dass der 1968 eingeführte Hays-Code in den Studios obsolet geworden sei, der zweideutige Tänze, nackte Schauspieler und Bettszenen geächtet habe, sodass Filmpartner seither verstärkt ihre Münder aufeinander zu pressen und sich „vollzusabbern“ begonnen hätten. Genauso sei noch am Anfang der 1960er-Jahre jeder Filmkuss in den James-Bond-Streifen eine filmisch betonte Handlung gewesen, sorgfältig hergeleitet durch ansteigende Intensität und gefolgt von ruhigeren Szenen. Heute hingegen würden die Sequenzen, in denen der Held mit seinen Bond-Girls zur Sache geht, dem Zuschauer nur eine Atempause vor der nächsten Actionszene verschaffen. Sex und Gewalt liegen da allzu dicht beieinander. Für Lacroix ist es daher kein Wunder, dass beim Anblick eines hübschen Mädchens heute ein Romanheld, eine Filmfigur oder auch der erstbeste Typ von der Straße nicht etwa denkt: „Ich habe Lust, sie zu küssen“, sondern: „Ich würde sie gern flachlegen.“ „Es kann sein“, schreibt Lacroix bedauernd, „dass unsere Zivilisation niemals mehr ein Äquivalent zu Gustav Klimts Gemälde ‚Der Kuss‘, zu Robert Doisneaus Fotografie ‚Les amants de l’Hôtel de Ville‘ oder zur vehementen Umarmung aus Vom Winde verweht hervorbringen wird.“

 

Lesarten und Transformation eines intimen Brauches

Ein Manifest für eine künftige Kultur des Kusses stellt dieses brillant geschriebene Buch dar, einen Appell, seinen Geschmack (wieder) zu suchen, zu finden und zu bewahren – nicht zuletzt, weil der Autor vor allem auf die christlich geprägten Lesarten und Transformationen dieses intimen Brauches schaut. Seine historischen Ursprünge liegen im Dunkeln. Auch wenn es heißt, dass sich der Kuss einst aus der Mund-zu-Mund-Übertragung vorgekauter Nahrung entwickelt habe, wie sie bei vielen Tieren und noch einigen Naturvölkern zu beobachten ist; auch wenn sicher ist, dass Indoeuropäer und Semiten ihn als Ausweis von Zuneigung und Ehrerbietung seit Langem kennen – anders als manche Schwarzafrikaner, die noch im neunzehnten Jahrhundert aus demselben Grund die Augen von geliebten Personen leckten, oder Lappen und Jakuten, die noch heute ihre Nasen zum „Riechkuss“ an Wangen legen.

Aber in der heutigen globalisierten Welt kennt man vor allem jene Zärtlichkeitsbeweise, die einst die Römer unterschieden: Basium und osculum gab man einander mit geschlossenem Mund, als Zeichen der Liebe der Eltern zu ihren Kindern und als Symbol des Respekts zwischen Paaren und sozial Ebenbürtigen. Nur beim suavium kam lasziv die Zunge ins Spiel. Das war den Liebesspielen vorbehalten, denen man sich im häuslichen Bett oder in Bordellen hingab: idyllisch oder wild, zu zweit oder in ausschweifenden Orgien.

 

Apollnisch oder dionysisch küssen

So waren Küsse kulturell reglementiert, hatten ihre bestimmten Geber und Empfänger ebenso wie vorgegebene Orte. In dieser Weise repräsentierten sie die menschlichen Leidenschaften in all ihren Facetten – metaphysisch aufgeladen und interpretiert nicht zuletzt durch die antike, wenig prüde Vielgötterei. Die Küsse bei Rousseau und de Sade hätten darin nicht „verschiedene Auffassungen von Natur“ widergespiegelt, sondern nur ihre Spielarten. Sie hätten sowohl im Zeichen von Apollon gestanden, dem Gott der sittlichen Reinheit und Mäßigung, als auch in jenem von Dionysos, dem Gott des Rausches und der Ekstase. So gab es Küsse, wie sie etwa Euripides in seiner Tragödie Die Bakchen beschrieb, in dem Agaue ihren geliebten Sohn Pentheus im Rausch zerfleischt. Der antike Mensch sah sie zwar als grausam und ungewöhnlich an, aber nicht unbedingt als widernatürlich.

Dagegen pflegte das monotheistische Christentum ein distanziertes Verhältnis zur körperlichen Liebe. Vor allem: Als Religion, der die Vernunft zugrunde liegt, verdammte es die Gewalt und die ihr so naheliegende sexuelle Ekstase. Beides wurde potenziell sündhaft. Im dreizehnten Jahrhundert verbot Papst Innozenz III. den Kuss in der Kirche, den sich die ersten Christen als „Brüder und Schwestern“ gegeben hatten. Gereinigt von jeglicher Erotik, küssten die Gläubigen seither nur noch die Ringe der Bischöfe, die Reliquien der Heiligen oder den Maulesel des Papstes. Die Humanisten der Renaissance umkleideten den Kuss wieder mit „einer Aura des Heiligen“ und machten ihn als „unumgängliches Ritual von Intimität“ den Laien erneut zugänglich.

Sublimiert, idealisiert, von allem lustvoll Schmerzlichen entledigt – so zeigt sich der Kuss in den Oden des sechzehnten Jahrhunderts: „Reiche die Lippen zum Kuss mir – so flehet’ ich – reizendes Mädchen! Leis’ mit den Lippen darauf rührst du die Lippen mir an“, schreibt etwa der niederländische Dichter Johannes Secundus. Und: „Wann kommst du Mund, mich meinem Tod entreißen, den dieses schöne Auge mir verheißen?“, heißt es bei Pierre de Ronsard. Der französische Poet sabotierte geschickt die damalige Auffassung, wonach Küssende an spiritus verlieren würden, an „Seelensaft“. Er meinte hingegen, dass sich dieser beim Kuss an dem des Partners erneuere – so rettete er den Kuss vor der Ächtung der Neuplatoniker.

 

Küssen im Zeitalter der Vernunft

Doch auch in der Aufklärung setzte sich die nicht allzu kussfreundliche Tradition des Christentums fort. Der Kuss ginge einher mit Heuchelei und Verrat, wie das Beispiel des Judas belege, schimpfte der keusche Voltaire. In ihm manifestiere sich noch dazu der Inzest zwischen Adel und Kirche, da Kardinäle Königinnen auf den Mund küssen dürften. Für den französischen Philosophen hemmte das Küssen den moralischen Fortschritt; es war schwer vereinbar mit der kommenden Vernunftepoche.

Was Wunder, dass erst Voltaires Antipode Rousseau und der lasterhafte de Sade die „Fundamente zu einer neuen Metaphysik des Kusses legten“ – und damit Positionen bestimmten, die einst die Griechen als apollinisch und dionysisch markiert hatten? Rousseau und de Sade glaubten im achtzehnten Jahrhundert, den authentischen Geschmack des Kusses wiedergefunden zu haben. Der Erste getreu seiner optimistischen Anthropologie, nach der der Mensch von Natur aus gut sei und fähig zur Vernunft und Erziehung, sodass der Kuss à la Rousseau einmal mehr ausschließlich sublimiert erscheint und die Illusionen der Aufklärungsepoche illustriert. Der Zweite entsprechend seinem pessimistischen Bild vom Menschen, das die Abgründe seiner Natur nicht verleugnet oder verdrängt und wonach das hemmungslose Streben nach Lust alleiniges Motiv des Handelns ist. Beide reflektierten als Aufklärer über den Kuss und schrieben darüber; doch beide erachteten ihre Standpunkte als absolut, formulierten eine Ausschließlichkeit, wo sich doch Grauzonen, spielende Übergänge und Wechselseitigkeit zu einer Einheit zusammenfügen.

Doch noch in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sollte gemeinhin Rousseau vor de Sade gehen, was das Küssen anbelangt, vor allem in Literatur und Kunst, bedingt nicht zuletzt durch christliche Vorstellungen von Moral, die außerordentlich virulent waren.

So dominierten denn auch noch geraume Zeit romantisch gemalte Küsse, wo – wie bei Franceso Hayez – Intimität zugleich Innigkeit bedeutet. Erst später zeigte Henri de Toulouse-Lautrec den Kuss nahe am Dienst der Prostituierten, den man begierig in Anspruch nahm, ließ ihn Edvard Munch zum Vampirkuss werden, bei dem die roten Locken der Geküssten wie Blut hervorquollen, lotete schließlich Sigmund Freud die Fantasien des Marquis de Sade tiefenpsychologisch aus – und erklärte den Kuss zum perversen Relikt der oralen Phase.

Schwingt daher in unserer säkularisierten Zeit nur das dionysische Pendel wieder zurück, nach der jahrhundertelangen Ära der Verdrängung, des Maßvollen, Vernünftigen, Apollinischen? Offenbart heute also der Kuss nur die Varianten, die er schon immer hatte: angefangen von den vorsichtigen „Knutschereien auf den Teenie-Feten“ über die Genitalküsse, die Erwachsene heute in Internetforen schamfrei diskutieren, wie einst die Römer bei ihren Orgien bis hin zu den von Action unterbrochenen Bettszenen der James-Bond-Filme?

Das wäre zu einfach. Denn ob das Pendel nun zurückschlägt oder nicht, ob sich unter dem dünn gewordenen Firnis der Zivilisation nunmehr auch archaische Regungen zeigen und mit verfeinerten konkurrieren – in jedem Fall werden sie vermarktet, vernutzt und verbreitet, wie alles, was der Domäne des Sexuellen angehört; sodass heute schon Zwölfjährige per Mausklick Zeuge sadomasochistischer Praktiken werden; sodass das Vokabular mancher Jugendlicher bedenklich de Sades Schriften gleicht; sodass manche Experten schon von „mentalen Missbildungen“ bei Kindern und Heranwachsenden sprechen und davon, dass diese heute kaum mehr Chancen hätten, altersgerecht Sexualität zu entdecken.

So bleibt uns tatsächlich wohl nichts anderes, als zu begreifen, dass „das Liebesleben nicht nur ein privates Drama“ darstellt, sondern dass es an das Schicksal der Welt angeschlossen ist; dass die Götter längst die Erde verlassen haben und dass die Menschen des 21. Jahrhunderts den Rousseau’schen Kuss wiederentdecken dürfen – vielleicht als das Beste eines guten Lebens.

 

Michael Böhm, geboren 1969 in Dresden, freier Publizist und Autor, unter anderem für „Du – das Kulturmagazin“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur.

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