Asset-Herausgeber

von Roland Benedikter
von Henrick Woch

Roland Benedikter im Gespräch über "Zukunftsdenken heute"

Am 5. September 2019 hat die deutsche Bundesregierung am Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) einen neuen Prozess der Strategischen Vorausschau gestartet. Mit Blick auf die 2030er-Jahre wird gefragt, was die neuen Trends und Entwicklungen sind, die uns und unsere Welt prägen und verändern werden. Zur Beratung dieses Prozesses wurde ein „Zukunftskreis“ eingerichtet, der aus sechzehn Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Medien und Zivilgesellschaft besteht. Der Zukunftskreis soll unter rasch veränderlichen Bedingungen in den nächsten drei Jahren die wichtigsten Zukunftsthemen identifizieren und Ideen für die Zukunftsgestaltung entwickeln, diskutieren und verbreiten. Einer seiner Mitwirkenden, Roland Benedikter, hat sich kurz nach der Gründung des Kreises grundsätzlichen Fragen zum Thema „Zukunft“ – oder besser „Zukünfte“ – gestellt. Die Zeitschrift Die Politische Meinung veröffentlichte das umfangreiche Interview als Sonderdruck zu ihrer November-/Dezember-Ausgabe 2019: „Innovativ – Nachdenken über Zukünfte“.

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Wovon reden wir heute eigentlich, wenn wir von Zukunft sprechen?

 

Roland Benedikter: Von einem mehr denn je widersprüchlichen und multidimensionalen Prozess. Er ist von vielen Brüchen und Schichten durchzogen – sowohl Raum- wie Zeitschichten. Wir merken immer mehr: Es gibt nicht eine Zukunft, sondern viele Zukünfte. Mit sehr verschiedenen Geschwindigkeiten, Entwicklungsstadien und Anforderungen auf sehr verschiedenen Feldern.
 

Warum „Zukünfte“ und nicht „Zukunft“?


Roland Benedikter: Verschiedene Zukünfte befinden sich oft nicht in derselben Zeit: Manche stehen noch ganz am Anfang, sozusagen in der Steinzeit, andere sind bereits weit fortgeschritten, sozusagen im Raumfahrtzeitalter. Das ergibt unterschiedliche Horizonte, die auf unterschiedliche Kontexte reagieren. Denken Sie etwa an den Unterschied zwischen Stadt und Land oder zwischen Zentren und Peripherien oder zwischen globalen Städten und regionalen Zentren. Und denken Sie auch an die unterschiedlichen Berufsgruppen und gesellschaftlichen Sektoren. Dazu kommt der wachsende Gegensatz zwischen Modernisierern und Konservatoren und zwischen Technoprogressisten und denen, die zurück zur Natur wollen. Die vielen verschiedenen Zukünfte, die aus all diesen Gruppen, Sektoren, Perspektivenfeldern heute vermehrt entstehen, wirken manchmal zusammen, oft stehen sie sich gegenseitig im Weg. Nicht selten streiten sie miteinander um das richtige, „große“ Konzept. Die Frage heute ist, wie wir sie zu einer einzigen zusammenfassen können, um eine gemeinsame Zukunft zu gestalten – ohne die Pluralitäten verschiedener Erwartungen, Lebenswelten und ihrer je relativ legitimen Zukunftsanforderungen und -ideen zu beschädigen oder auszugrenzen. Dazu müssen wir lernen, verschiedene Zukünfte verschieden zu gebrauchen. Und nicht zuletzt auch das Konzept von Vergangenheit zu pluralisieren.
 

Sie sehen in die aktuelle Frage nach der Zukunft eine ganz wesentliche Grundlagenfrage nach etwas so Großem wie der Zukunft des Menschseins eingebaut – ja, würden das sogar als den langfristig zentralen Aspekt ansehen?
 

Roland Benedikter: Ja, durchaus. Die in den Streit zwischen Zukünften heute eingebaute Kernfrage ist die nach der Veränderung des Menschenbildes, wenn sich Mensch und Maschine immer stärker zusammenschließen. Stand bisher Mensch-Maschine-Interaktion im Mittelpunkt, so bewegen wir uns nun deutlich in Richtung Mensch-Maschine-Konvergenz. Wenn VW-Zukunftsforscher Wolfgang Müller-Pietralla 2018 im Spiegel ankündigt, dass Robotaxis schon bald zu „rollenden Internetadressen“ werden, Gedanken lesen und uns zugleich mit aktuellen Supermarktinformationen versorgen werden; wenn 2017 von Saudi-Arabien die erste Staatsbürgerschaft an einen Roboter verliehen wurde; wenn 2020 in der Schweiz die bereits zweite Cyborg-Olympiade stattfindet; wenn China 2018 mit genetischen Veränderungen an Menschen experimentiert und Japan 2019 die Züchtung von Mensch-Tier-Wesen erlaubt und wenn 2019 durch chinesische Wissenschaftler Gehirn-Gehirn-Schnittstellen „normal“ werden, nachdem Gehirn-Maschine- oder Gehirn-Computer-Schnittstellen dies bereits seit Jahren sind, dann ist die Frage, ob sich mit dem Zusammenfluss dieser Prozesse zu einer erstmals tatsächlich „radikalen“ technohumanen Zivilisation nicht auch schon bald unser Menschenbild grundlegend verändern könnte.
 

Warum ist das wichtig?
 

Roland Benedikter: Europa ist auf ein Menschenbild gebaut, das in seinem Zentrum als größte Leistung die Individualität und ihre freie Selbstreferenz in Gleichheit und unter Bedingungen der Brüderlichkeit hervorgebracht hat. Wenn sich das Menschenbild im Rahmen humantechnologischer Revolutionen wandelt, dann wandelt sich nicht nur etwas, sondern alles. Wenn sich der Mensch immer mehr als eine Art Cyborg, also als ein Technikbiowesen, versteht, ändert sich nicht nur sein Verhältnis zu sich selbst, sondern damit verschieben sich auch die Grundwerte und Prinzipien der Gesellschaft. Darauf müssen wir uns vorbereiten – daran müssen wir mitdenken.

 

Wie machen wir Zukunft?


Roland Benedikter: Es gibt im Wesentlichen drei Verfahren: Zukunft voraussagen (forecast), Zukunft vorausschauen (foresight) und Zukunft vorausplanen (anticipation). Voraussagen ist nur kurzfristig möglich und gründet sich auf Daten. Vorausschauen heißt, mögliche Zukünfte zu visualisieren und in Bilder zu fassen, was längerfristig möglich ist. Vorausplanen heißt, Zukunft zu antizipieren: also mit konkreten Maßnahmen auf langfristige Zukünfte hinzuarbeiten. Voraussagen und antizipieren  erfolgt  meist  normativ, also mit klaren Zielen, was gewollt wird. Vorausschauen erfolgt eher experimentell: indem man sich auf das Mögliche einlässt und es als Option in Betracht zieht, unabhängig, ob man es will oder nicht. Alle drei Elemente – voraussagen, vorausschauen und vorausplanen – gehören zusammen, obwohl insbesondere der Abgrund zwischen Vorausschauen und Voraussagen ein sehr großer ist, der nicht einfach zu überbrücken ist. Alle drei sollten deshalb Bestandteil der heute notwendigen Zukunftsbildung ( future literacy) sein. Wir müssten die Methoden und Verfahrensweisen, wie man mit Zukünften umgehen kann, als allgemein verpflichtendes Schulfach schon ab den ersten Stufen einführen – gemeinsam mit Globalisierung als Schulfach.


Worum ginge es bei einem solchen Schulfach „Zukunftsbildung“?

 

Roland Benedikter: Schülerinnen und Schüler sollten unter anderem von Grund auf lernen, wie man mit einfachen Instrumenten genauer denkt und schaut: etwa, wie man Megatrends und Moden, Risiko (risk) und Unsicherheit (uncertainty) sowie „kompliziert“ und „komplex“ unterscheidet. Das ist wichtig, damit wir bei Bewertungen und Entscheidungen nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, wie etwa der Zukunftsforscher Roberto Poli immer wieder unterstreicht. Die Jugendlichen eignen sich solche Instrumente schnell an. Die OECD unterstützt das weltweit, unter anderem durch die Einführung des „UNESCO Chair for Future Literacy“, der im Juni 2019 sein erstes internationales Symposium an der Universität Trient in Norditalien durchgeführt hat. Aber auch der „Zukunftskreis“ der deutschen Bundesregierung im BMBF, der die Eröffnung des „Futurium“ – also des Hauses der Zukunft – in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs unterstützt und an den großen Perspektiven im Rahmen eines transdisziplinären und ressortübergreifenden Zukunfts-„Foresight“-Prozesses arbeitet, ist ein Ausdruck dieser Notwendigkeit, Zukunft breiter und partizipativer zu denken.

 

Machen die Bürger mit?

 

Roland Benedikter: Aus meiner Sicht ja, und zwar durchaus kritisch und selbstbewusst. Das aktuelle TechnikRadar 2019 („Wie Europäerinnen und Europäer den digitalen Wandel bewerten“) der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften acatech hat gezeigt, dass Deutsche den digitalen Wandel eher kritischer als andere Europäer bewerten, es dabei aber nicht an grundsätzlichem Optimismus mangeln lassen. Ich halte das für sehr ermutigend. Der deutsche Durchschnittsbürger reflektiert bereits auf hohem Niveau und mehr als viele andere Europäer über das Spannungsfeld zwischen Risiken und Chancen neuer Technologien.

 

Und der Zukunftskreis?

 

Roland Benedikter: Der Zukunftskreis hat aus meiner Sicht wie andere Gremien in Europa die Aufgabe, diesen breiten gesellschaftlichen Prozess der Auseinandersetzung zu fördern und zu begleiten. Verantwortungsbewusste Sozialwissenschaft und Politik müssen künftig immer stärker eine partizipative Zukunftsforschung initiieren: mittels allgemeinverständlicher Konzepte und möglichst breiter Teilnahme. Ein Konzept von Zukunft, das gut verständlich ist, von dem aus man dann sehr verschiedene komplexere Zusammenhänge entwickeln und Positionen miteinander ins Gespräch bringen kann, wäre zum Beispiel das „Lindy Prinzip“. Es besagt, dass in einer langfristigen Blickrichtung etwas umso länger in die Zukunft hinein bestehen wird, je länger es schon existiert – dass also Dauer eine gute Kategorie für Zukunft ist, wenn man die beiden Richtungspfeile „nach hinten“ und „nach vorn“ zusammenfügt. Aber ist das wirklich so? Das „Lindy Prinzip“ zu hinterfragen, bedeutet, verschiedene Sichtweisen im durchaus auch kontroversen Dialog zusammenzuführen – darunter konservative und progressive. Beide sind gleich legitim. Schließlich ist es unser aller Zukunft. Wir brauchen eine neue Mitte des gesellschaftlichen Gesprächs – auch im Zukunftsdiskurs.

 

Sie weisen immer wieder darauf hin, dass über Zukunft reden zugleich Zukunft erzeugen heißt. Der Zukunftsdiskurs muss deshalb besonders selbstkritisch sein – vielleicht mehr als andere.

 

Roland Benedikter: Genau. Er muss ganz besonders genau auf sein eigenes Reden achten. An wen er sich wendet, für wen er eigentlich spricht – bewusst und unbewusst. Und was er bewirkt – nicht nur unmittelbar, sondern eben auch im größeren Bild. Zukunft ist wie ein riesiges Schiff, das nur langsam seine Richtung ändert. Welche Rolle spielen diejenigen dabei, die darüber reden? Welche – vielleicht auch nur kleinen oder begrenzten – Weichen stellen wir mit, ob wir das nun intendieren oder nicht? Wie in allen sozialwissenschaftlichen Felder hat der Zukunftsdiskurs ein Doppelantlitz: Er bildet ab, was sich an den Phänomenen und Signalen ankündigt – und gibt also wie ein Spiegel wieder, was im Entstehen und Geschehen ist. Aber eben indem er das tut, wählt er auch bereits bestimmte Zukünfte aus und schließt andere aus, obwohl das meist gar nicht intendiert ist. Und dabei erzeugt der Zukunftsdiskurs eben auch selbst Zukünfte, weil das öffentliche Gespräch immer sowohl einen repräsentierenden als auch einen generativen Effekt erzeugt. Das Zukunftsgespräch ist immer Spiegel und Erzeuger von Realität zugleich. Wir sind uns dieser Tatsache manchmal zu wenig bewusst, sollten es uns aber immer vor Augen halten.

 

Was war Ihre Motivation, sich mit Zukunftsfragen zu beschäftigen, und warum engagieren Sie sich im Zukunftskreis?

 

Roland Benedikter: Eines meiner großen Anliegen ist seit vielen Jahren erstens die kritische Begleitung der Mensch-Maschine-Konvergenz: also des Zusammenwachsens von Mensch und Technologie. Sie vollzieht sich immer schneller auf sehr verschiedenen Feldern, etwa in der Neurotechnologie und in der Mobilität. Darunter mittels der Gründung heute noch umstrittener Firmen, die global gemeint sind: so etwa Elon Musks „Neuralink“. Neuralink verfolgt – so wie eine Reihe anderer Firmen – seit 2018 das Ziel, die Steuerung von Maschinen, einschließlich Computern, durch Gedankenkraft mittels Gehirnimplantaten oder drahtloser Lesegeräte zur Breitentechnologie und damit zum Geschäftsfeld zu machen. Zweitens wird Künstliche Intelligenz (KI) zum großen Thema. Drittens der wachsende Einfluss neuer Medien auf die Demokratie und die rechtsstaatliche Grundordnung, was nicht nur ein europäisches, sondern globales Thema ist, das wir erst noch vollends auf uns beziehen müssen – so etwa, wenn Facebook neuerdings nicht nur mit Libra eine eigene Weltwährung schafft, um vollends zum transnationalen „Staat im Staate“ zu werden, sondern auch mit Gedankenlese-Algorithmen experimentiert, um KI dazu zu benutzen, Gedanken direkt in Sprache zu übersetzen – was manche als „Gedankenhacking“-Ansatz der Firma interpretieren.

 

Das Thema Technik – Mensch ist letztlich auch geopolitisch für die Positionierung Europas wichtig.

 

Roland Benedikter: Derzeit herrschen Handelskriege im Pazifik und zum Teil auch im Atlantik vor, bei denen es im Wesentlichen und langfristig nicht primär um Handelsthemen, sondern letztlich vor allem um technologische Vorherrschaft geht. Da gehen vor allem nicht-europäische Staaten verstärkt hohe Risiken ein, um auf der Überholspur zu sein. So etwa – wie erwähnt – Japan, das seit Juli 2019 die Züchtung von Mensch-Tier-Wesen erlaubt; oder China, das seit 2018 mit genetischen Veränderungen an Menschen experimentiert; oder Saudi-Arabien, das einem in China gebauten Roboter im Oktober 2017 die Staatsbürgerschaft verlieh, die seitdem mittels Reziprozitätsprinzip formal für alle UNO-Staaten gilt. Alle drei setzen damit historische Präzedenzfälle auch für Europa und für die ganze Welt. Diese profunden Umwälzungen sind nur durch die Anwendung neuer Technologien auf den Menschen möglich, die sich immer schneller weiterentwickeln und gegenseitig steigern – wobei die Regulierung international weit hinterherhinkt und bis zu einem gewissen Grad diesen Phänomenen auch ratlos gegenübersteht. Das hat auch mit der heutigen Schwäche des Internationalen Rechts in Zeiten der De-Globalisierung und Renationalisierung zu tun. Wir brauchen also eine umfassendere Ethik der Mensch-Maschine-Konvergenz.

 

Ein weiteres Thema, das Sie für die Zukunftsforschung als wesentlich erachten?

 

Roland Benedikter: Das zweite zentrale Thema, um unsere Vorausschau auf wissenschaftlicher Grundlage komplexitätsadäquat zu vollziehen, ist für mich die Vertiefung und Weiterentwicklung von Inter-, Multi- und Transdisziplinarität. Davon wird schon seit Längerem viel geredet, aber die Begriffe und Inhalte bleiben in der Realität meist unklar. Die meisten – Wissenschaftler, Politiker, Entscheidungsträger, Intellektuelle, Meinungsmacher – sind heute der Meinung, dass praktisch alle großen Herausforderungen, die vor uns liegen, unter Bedingungen jener Kombination von Hyperkomplexität und Tiefenambivalenz, die unsere Zeit charakterisiert, inter- und multidisziplinären Charakter haben – und deshalb auch nur im „echten“ Zusammenwirken der Wissenschaften angegangen werden können. Wie genau wir das machen wollen, ist aber noch immer offen – und für mich eine der entscheidenden Zukunftsfragen. Sie muss in einer Kombination von solider Wissenschaft und Experiment angegangen werden. Hier wird uns nur mutiges und systematisches „learning by doing“ weiterhelfen.

 

Wie erklären Sie jemandem, der noch nie etwas von strategischer Vorausschau gehört hat, was Sie, mit Ihrem speziellen beruflichen und wissenschaftlichen Hintergrund, in diesem Bereich tun?

 

Roland Benedikter: Zukunftsvorausschau kann jeder vollziehen. Und jede und jeder von uns tut das ja in Wirklichkeit auch dauernd, wenn auch oft unterbewusst oder im „schweigenden Denken“, das oft das „tiefste“ ist: für sich selbst, für das Umfeld, für die Welt, in „schöner Sorge“. Wir alle praktizieren dauernd „Vorausschau“. Wissenschaftlich organisiert, wobei das nur eine Variante des Realitätsprozesses ist, wenn auch eine nicht unwichtige, kann man sie meines Erachtens grundsätzlich auf zwei Arten versuchen. Zum einen normativ, das heißt mit der Frage: Welche Zukunft wollen wir? Das ist das Vorgehen, das Europa und Deutschland hauptsächlich praktizieren. Darin liegt eine hohe ethische Qualität. Der zweite Ansatz ist der experimentelle. Er besteht darin, offener – und also auch mit weniger ethischer Implikation – zu fragen: Welche Zukunft wird sein, unabhängig davon, ob wir diese wollen oder nicht? Das ist der Ansatz, den Staaten wie die USA oder China oder auch das oben genannte Saudi-Arabien vorwiegend verfolgen. Meine Arbeit dient der Ausbalancierung beider Ansätze. Meiner Meinung nach haben beide ihre Berechtigung, tendieren aber für sich genommen zu einseitigen Schlüssen. Strategische Vorausschau bedeutet für mich, Optionen des Handelns vorwegzunehmen – und zwar mittels Verstehen und ethischer Bewertung dessen, was in einer immer komplexeren, dabei auch unübersichtlicheren und verletzlicheren Welt vorgeht.

 

Dazu gehört?

 

Roland Benedikter: Dazu gehört: wie Probleme miteinander kommunizieren. Wie Akteure in der sogenannten Mehr-Ebenen-Regierung (multi-level governance) offener Gesellschaft aneinander vorbeigehen (müssen), wenn sie nicht interund transdisziplinär besser ausgebildet werden und kommunizieren. Wie der hermeneutische Zirkel: Dass wir das Einzelne nur mehr aus dem Ganzen und das Ganze nur mehr aus dem Einzelnen verstehen können, zeitgemäß für das Verstehen genutzt werden kann. Und dass es – eben deshalb – um Prozessdenken geht statt um reines Problemdenken: Das sind für mich Eckpunkte für Verortungsversuche von Zukünften.

 

„Weniger“ ist hier ausnahmsweise einmal nicht „mehr“?

 

Roland Benedikter: Es gibt wie gesagt nicht eine Zukunft, sondern viele Zukünfte in vielen verschiedenen Bereichen, die noch zu wenig miteinander kommunizieren. Dabei ist die Phänomenologie in angewandter Hinsicht alles entscheidend. Ich halte eher wenig von sogenannter „reiner Zukunftsforschung“, die Ideen entwirft, welche noch keine Grundlage in der Gegenwart haben – für die also noch keine konkreten Phänomene hier und jetzt vorliegen. Ich gehe immer von bereits bestehenden Phänomenen aus und versuche, daran entlang, durch möglichst „dichte Beschreibung“ von etwas, das neu ist, das im Entstehen ist und das wir also noch nicht wirklich verstehen, ein Verstehen wachsen zu lassen. Genau der Prozess dieses Wachsen-lassens wäre für mich Arbeit an der Zukunft – nicht mehr und nicht weniger. Wir müssen in der heutigen Welt immer öfter mit Phänomenen zusammenleben, um sie zu verstehen. Schnelles oder gar unmittelbares Verstehen wird schwieriger.

 

Welche größeren Veränderungen werden Ihrer persönlichen Einschätzung nach in den nächsten dreißig Jahren auf uns zukommen?

 

Roland Benedikter: Es sind im Kern fünf Felder, die mir besonders am Herzen liegen. Erstens: Ich sehe die Dialektik zwischen Humanismus und Transhumanismus als jenes Grundmotiv, das in den kommenden Jahren vielleicht am umfassendsten die meisten Problemfelder durchziehen wird. Es geht um den Wettbewerb zwischen dem Paradigma des bisherigen Menschen und dem des von manchen Akteuren angestrebten Übermenschen, der seine eigene körperliche Gestalt, Lebenszeit und Evolution in die eigenen Hände nehmen will – mittels technologischer Umgestaltung. Der dabei seine Gedanken technologisch nicht nur ausweiten, sondern geradezu universalisieren will. Die Entwicklung von Gehirn-Gehirn-Schnittstellen – zwischen dem Gehirn einer Ratte und dem eines Menschen – durch chinesische Wissenschaftler im Februar 2019 ist dafür ein aktuelles Beispiel neben vielen anderen. Dazu gehört auch die Frage nach Rechten für intelligente Roboter, wie sie das Europäische Parlament seit 2017 in mehreren widersprüchlichen Motionen debattiert – und zwar im Gefolge der bereits erwähnten Verleihung der ersten Staatsbürgerschaft eines anerkannten UNO-Landes, Saudi-Arabiens, an den chinesischen Roboter „Sophia“ am 25. Oktober 2017. Und dazu gehört schließlich die Nachricht vom 31. Juli 2019, dass die japanische Regierung nun offenbar nicht mehr nur die Züchtung, sondern auch die Geburt von Mensch-Tier-Wesen erlaubt. All dies sind in mancherlei Hinsicht Durchbrüche in eine „neue Menschheit“, deren Folgen völlig offen sind – die wir aber reflektieren, auf uns Europäer beziehen und auf die wir als Europäer auch unsere eigenen Antworten geben müssen.

 

Zweitens?

 

Roland Benedikter: Eine zweite große Frage ist aus meiner Sicht die Frage nach der Zukunft der Demokratie: ob wir ihre bisherige liberale Form unter dem Einfluss neuer Technologien und bei weiterem Aufstieg illiberaler und autoritärer Gesellschaften wie China so wie bisher halten können. Oder ob es Schutzmaßnahmen und Korrekturen – einschließlich in der governance von Technik – geben muss.

 

Drittens?

 

Roland Benedikter: Drittens halte ich das Mobilitätsthema in seiner Wechselwirkung mit Energie- und Umweltfragen für zentral. Das wird in den kommenden Jahren für Deutschland als technologische Exportnation auch pragmatisch zur wesentlichen Frage, die man zu lange mit zu wenig Abenteuerlust angegangen ist. Dazu gehört etwa die Frage der Batterietechnologie, aber auch die Zukunft der KI-Strategie der Bundesregierung, darunter die heikle Frage weiterer ethischer Kontextualisierung von Mobilität bei ähnlich raschem Fortschritt der internationalen Szene.

 

Viertens?

 

Roland Benedikter: Viertens glaube ich, dass die Reform von Globalisierung und internationalen Institutionen zentralen Stellenwert einnehmen wird. Sie wird in den kommenden Jahren ebenfalls entscheidend durch den Aufstieg neuer Technologien herausgefordert werden. Viele Analytiker erwarten heute, dass die neuen Technologien eher gegen Demokratie und offene Gesellschaft arbeiten werden. Wenn heute die meisten Analytiker zum Beispiel davon ausgehen, dass Künstliche Intelligenz wegen ihrer werteunabhängigen Entscheidungsstruktur kompatibler mit autoritärer Entscheidungsfindung als mit demokratischer ist, dann ist das eine umstrittene These. Sie wird aber in Zeiten der Entstehung einer „multipolaren Weltordnung“ und der Krise praktisch aller globalen Institutionen in Zeiten der ReNationalisierung, die vor allem von China, den USA und Russland vorangetrieben wird, ein Kernthema der Zukunft – dem sich auch die offenen Gesellschaften Europas nicht entziehen können. Eine Frage dabei ist sicherlich, wie wir Europas Offenheit nach innen bewahren können, indem wir sie nach außen besser schützen.

 

Fünftens?

 

Roland Benedikter: Fünftens schließlich erwarte ich, dass die Umwelt- und Naturfrage, einschließlich Klimaveränderung, das global übergreifende Thema sein wird, von dem zunehmend alle anderen Themen abhängen. Wir können nämlich Zukunftswege auf vielen Feldern finden; aber die meisten Einzellösungen könnten letztlich durch die Umweltveränderung und ihren Einfluss auf alle Felder menschlichen Strebens und Handelns zunichte gemacht werden. Daher hängt von der Umweltfrage aller Wahrscheinlichkeit nach ganz Entscheidendes nicht nur für Einzelfragen wie etwa die Zukunft der Industrie, des Verhältnisses zwischen Staatsund Zivilräson oder der Migration, sondern auch für die meisten anderen Zukunftsdiskussionen ab.

 

Dies, sagen Sie immer wieder, in rasch wachsendem Maß.

 

Roland Benedikter: Wenn Mitte 2019 in der gesamten Arktik länderübergreifend über riesige Flächen der Erde die Wälder brennen, der Amazonas in Flammen steht, in Paris nach dem größten Hitzerekord aller Zeiten spontaner öffentlicher Jubel in der ganzen Innenstadt ausbricht, als es zu regnen beginnt, und die Menschen auf offener Straße stehen bleiben, um den Regen zu beobachten, dann wissen wir, was die Stunde geschlagen hat. Während die europäische Jugend auf die Straße geht und sich an der Umweltfrage neu politisiert – und zwar durchaus nicht nur Greta-Thunberg-Anhänger und -Anhängerinnen! Zusammengenommen sind die aktuellen Phänomene, die wir mit eigenen Augen sehen, ein – für mich sehr greifbarer und emotional berührender – Teil der Zukunft, in die wir hineingehen. Und die wir, wie mit wenigen Ausnahmen inzwischen alle begreifen, nur gemeinsam bewältigen können. Im BMBFZukunftskreis haben wir die große Chance, für die ich überaus dankbar bin, gemeinsam an diesen Fragen zu arbeiten.

 

Roland Benedikter ist seit September 2019 Mitglied des Zukunftskreises des BMBF, Co-Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research Bozen, der führenden Denkfabrik Norditaliens in den angewandten Sozialwissenschaften mit Sitz in der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol, und Forschungsprofessor für Multidisziplinäre Politikanalyse in residence am Willy Brandt Zentrum der Universität Wrocław-Breslau. Er ist auch Affiliate Scholar des Institute for Ethics and Emerging Technologies Hartford, Connecticut, und Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften.

Die Fragen stellte Henrik Woch, der im Auftrag des BMBF das Pressebüro für die Strategische Vorausschau betreut, das die Arbeit des Zukunftskreises begleitet.

 

Das Gespräch erschien in stark gekürzter Form auch auf der Homepage des neuen Zukunftskreises unter www.vorausschau.de/files/SV_Personendossier_Benedikter.pdf.

Weitere Informationen unter www.vorausschau.de

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