Das Problem des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, so verlautbarte CNN 2018, sei nicht die Intelligenz, sondern das Herz. Der britische Guardian urteilte im gleichen Jahr, das präsidiale Weihnachtsbild, auf dem Trump und Gattin etwas steif vor Christbäumen posieren, zeige eine „emotionale Taubheit“, die das Herz gefrieren lasse. Und im Hinblick auf das Management der Coronakrise hieß es – viel zitiert – in Last Week Tonight, dass es normalerweise unmöglich sei, eine solche „kaltschnäuzige Gleichgültigkeit gegenüber dem menschlichen Leben“ zu haben, wie Trump sie offenbare („it’s impossible to have such a callous indifference to human life“). Kaum ein Politiker der heutigen Zeit dürfte in diesen kurzen Abständen so oft mit dem Prädikat „kaltherzig“ bedacht worden sein wie Donald Trump – eine Kaltherzigkeit, die wie ein Brandbeschleuniger im politischen Diskurs wirkt.
Wärme und Kälte, Mitgefühl und Desinteresse – emotionale Frontlinien prägen die Politik ebenso wie fachliche, und das nicht erst heutzutage. Als die amerikanischen Demokraten im Jahr 1936 Franklin D. Roosevelt erneut als Präsidentschaftskandidaten nominierten, legte er anschließend in einer Rede sein Verständnis von Regierung dar. Sie sei die Verkörperung von Wohltätigkeit; nicht Privilegien sollten das Land bestimmen, sondern Glaube, Hoffnung, Nächstenliebe: „We seek not merely to make Government a mechanical implement, but to give it the vibrant personal character that is the very embodiment of human charity. […] In the place of the palace of privilege we seek to build a temple out of faith and hope and charity.“ Selbstverständlich, fuhr Roosevelt fort, machten Regierungen Fehler. Doch Gott würde die Kaltblütigen und die Warmherzigen unterschiedlich wägen – und besser sei es, die Fehler einer mitfühlenden Obrigkeit hinzunehmen, als eine kalte, gleichgültige Staatsgewalt: „Better the occasional faults of a Government that lives in a spirit of charity than the consistent omissions of a Government frozen in the ice of its own indifference.“
Gefühllose Menschen, das schrieben bereits Denker der schottischen Aufklärung wie Francis Hutcheson (1694–1746) und Adam Smith (1723–1790), seien die provokantesten von allen. Gefühle, vor allem die Sympathie (heute wäre das die Empathie, ein erst später geprägtes Wort), erlaubten uns eine Verbindung zu anderen Menschen. In die Gefühl- und Empfindungslosigkeit anderer könnten wir dagegen nicht vordringen, notierte Smith in seiner Theory of Moral Sentiments von 1759. Ein kaltes Herz bliebe uns immer verschlossen, und diese durch den anderen empfundene Ausgrenzung unserer selbst treffe uns so hart, weil damit unsere grundsätzliche Ähnlichkeit als Menschen geleugnet werde. Gefühllosigkeit untergräbt die Vorstellung, dass Menschen miteinander und füreinander fühlen könnten, und damit den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft.
Doch eine Diagnose macht noch keine Tatsache. In historischer Perspektive zeigt sich, dass Kaltherzigkeit oft nicht von der politischen Agenda und dem Wunsch der Kontrolle anderer zu trennen ist. Oft dient ihr Vorwurf als Ausschlusskriterium und Selbstvergewisserung. Als in den 1830er-Jahren in England soziale Fragen besonders brisant wurden, als Arbeiter das Wahlrecht und bessere Arbeitsbedingungen forderten und die Städte durch die Landflucht verelendeten, wurde „insensibility“ zu einem Kampfbegriff: Fabrikbesitzer und Politiker galten als erbarmungslos, weil sie die unteren Klassen knechteten; Arbeiter und Straßenkinder seien durch Lebens- und Arbeitsbedingungen abgestumpft; Ärzte verhärteten durch das Übermaß an Krankheit und Trostlosigkeit und ließen die Armen sterben. An der imperialen Front gab es ähnliche Zuschreibungen. Die englischen Missionare in China klagten, dass ihrem Unterfangen wenig Erfolg beschieden sei. Der Grund: die sogenannte „chinesische Apathie“, also die angebliche Unempfänglichkeit der Chinesen für religiöse oder tiefere zwischenmenschliche Gefühle.
Meist waren es die Gegner, die als verhärtet und gefühllos tituliert wurden. Gefühllosigkeit wurde zur wirksamen Anklage, mit der diese anderen als nicht der eigenen Gruppe zugehörig dargestellt werden konnten. Gefühle der langlebigen und verfeinerten Art – nicht die vulgären, kurzzeitig aufflammenden Affekte – galten als Ausweis von Gesellschaftsfähigkeit und Zivilisation. Chinesen, aber auch andere Gruppen wie Schwarze oder Sklaven, erschienen dadurch als weniger entwickelt, wenn nicht gar als weniger menschlich. Eine feine Trennlinie verlief dabei zwischen Gefühlskontrolle und Gefühlstilgung. Bestimmte Formen des verringerten Gefühlsausdrucks galten und gelten durchaus als besonders fortschrittlich: Gelassenheit, Selbstbeherrschung und Souveränität werden bei Führungspersonen geschätzt; Objektivität und Unvoreingenommenheit zeichnet(e) Wissenschaftler und Richter, auch Schiedsrichter, aus; die Coolness entwickelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts in den marginalisierten Gruppen Amerikas, zunächst in der schwarzen Musik wie dem Jazz und dem Blues, dann in der Jugendbewegung der 1950er-Jahre als demonstrative Gleichgültigkeit gegenüber Verletzung, Demütigung und sozialem Ausschluss; die ungerührte Herablassung fand im Dandy und heute im Hipster ihre Anhänger. Dagegen stand die Abgestumpftheit der Soldaten, im 19. Jahrhundert besonders der preußischen und der russischen, die durch endlosen Drill zu menschlichen Automaten erzogen würden.
Gefühle als Form der Mitbestimmung
Indem ein spezifischer emotionaler Habitus oder Stil von der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen oder professionellen Gruppen kündet, funktionieren Gefühle als Form der Teilhabe und der Teilnahme. Sie zeigen jemandes Platz und jemandes Beteiligung. Insofern sind Gefühle, insbesondere solidarische Gefühle, eine Form der gesellschaftlichen und politischen Mitbestimmung. In ihrer Äußerung und ihrer Häufung offenbaren sich die Bedeutung und die Wertschätzung von Menschen und Themen. Roosevelts Postulat, dass eine Regierung im Geiste der Nächstenliebe handeln solle, übertrug das Mitgefühl auf die Ebene exekutiver Politik. Der in Europa und besonders in Deutschland etablierte soziale Wohlfahrtsstaat institutionalisierte die Solidarität.
In der heutigen medialen Bekenntniskultur ist das Mitgefühl dabei zu einer verkürzten sprachlich-visuellen Formel geronnen: #JeSuisCharlie oder #MeToo signalisieren auf einen Blick, dass der Einzelne Anteil nimmt oder Ähnliches erlebt hat. Vor allem aber zeigt sich, dass durch diese Anteilnahme der Widerspruch zwischen Individuellem und Kollektivem aufgehoben ist.
Memes, Kombinationen aus Bildern und Schlagworten oder Motti, versinnbildlichen die Haltung, inklusive der emotionalen Haltung des Nutzers zu bestimmten Themen. Es gibt wissenschaftliche Hinweise, dass sich als ausdrücklich emotional wahrgenommene, expressive und zugespitzte Botschaften über das Internet besonders gut verbreiten. Die kurze Reaktionszeit, die durch diese Form der Gefühlsäußerung gegeben ist, gestattet sowohl eine schnelle Verbreitung als auch ein kurzfristiges Anschwellen. Letzteres verleiht einem Anliegen durch emotionale Fülle Gewicht, sodass wichtige und berechtigte mit irrelevanten und illegitimen Sujets um eine Popularität kämpfen, die sich an der emotionalen Rückendeckung bemisst.
Achtlosigkeit als Selbstausschluss
Gefühle sind dann akut, aber nicht notwendigerweise nachhaltig. Die allseits geschätzte Empathie wird hier ambivalent: Einfühlungsvermögen kann zu einer Überidentifikation mit der eigenen und damit zur starken Ablehnung der anderen Gruppe führen und folglich ihren Beitrag zur sozialen Zersplitterung leisten. Die besondere Krux der einfachen, sehr demokratischen und allen zugänglichen Selbstzuordnung qua Anteilnahme ist jedoch, dass sie Haltung und Handlung zunehmend entkoppelt. Oder besser gesagt: Die Haltung gilt bereits als Handlung. In dieser Verquickung von Geste und Tat erweist sich proklamierte Achtsamkeit als Eintrittskarte zum Gemeinoder Gruppenwesen und Achtlosigkeit als Selbstausschluss.
Achtsamkeit, das zeigt das aktuelle Beispiel der Corona-Pandemie, kann sich dabei auch durch Enthaltsamkeit beweisen. Die Aufforderungen, Sozialkontakte zu vermeiden, verbinden sich mit Appellen an den Gemeinsinn. Angela Merkel formulierte das am 11. März dieses Jahres so: „Da sind unsere Solidarität, unsere Vernunft, unser Herz füreinander schon auf eine Probe gestellt, von der ich mir wünsche, dass wir diese Probe auch bestehen.“ Auf Twitter lagen die Hashtags #BleibtZuhause und #SocialDistancingNow im Trend. Solidarität bedeutet, das öffentliche Leben weitgehend stillzulegen, Gemeinschaftsgeist und emotionale Nähe drücken sich nun in physischem Abstand, aber sozialer Verantwortlichkeit aus: Für jemanden einkaufen zu gehen, regelmäßige Telefonate, Sorge – gerade jetzt erweist sich Zugewandtheit als nicht von gemeinsamer körperlicher Anwesenheit abhängig. Auch Donald Trump hat seine ursprünglich abwehrende Haltung aufgegeben: „If everyone makes this change or these critical changes and sacrifices now, we will rally together as one nation and we will defeat the virus“ (16. März 2020). Die Wertschätzung der anderen und des menschlichen Lebens generell in Zeiten von Corona überbrückt damit, ganz unerwartet, eine gesellschaftliche Fragmentierung, die sich anhand unterschiedlicher emotionaler Resonanzen zu politischen Themen gebildet hatte.
Kerstin Maria Pahl, geboren 1984 in Frankfurt am Main, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin.