Was kommt heraus, wenn das verbreitete Akronym der syrisch-irakischen Terrormiliz „Islamischer Staat“ ISIS rückwärts gelesen wird? Richtig: der Name des ägyptischen Präsidenten Sisi. Als Wortspiel bestätigt sich hier die zurzeit verbreitete Lesart der politischen Realitäten im Nahen Osten. Danach stünden in der Region genau zwei politische Alternativen zur Wahl: die Schreckensherrschaft von Islamisten und Dschihadisten oder die harte Hand der Militärdiktatur. Die an die Umbrüche des Arabischen Frühlings geknüpften Hoffnungen auf einen politischen Wandel hätten sich demgegenüber als naive Vision entlarvt. Schlimmer noch, das demokratische Experiment habe dazu geführt, funktionierende Regime in der Region zu destabilisieren, islamistische Terrorgruppen zu fördern und damit Bürgerkrieg, Chaos und Staatszerfall den Boden zu bereiten. Dies ist das Narrativ, mit dem die ägyptische Regierung den Militärputsch von 2013 und die zunehmende politische Repression im Land nach innen und außen rechtfertigt: Wer ISIS nicht will, bekommt Sisi, oder umgekehrt.
Das Problem bei der Vorstellung von der Diktatur als einziger Alternative zum islamistischen Terror besteht darin, dass sie Ursache und Auswirkungen der politischen Krise des Nahen Ostens verwechselt. Tatsächlich ist es der besondere Typus des arabischen Autoritarismus, der für Staatszerfall, Gewalt und Chaos in wesentlichen Teilen verantwortlich gemacht werden kann. Bereits der Blick auf die Landkarte der Umbrüche im arabischen Raum seit 2011 ist hier erhellend. Es waren und sind fast ausschließlich jene Länder betroffen, die sich nach dem Ende der Kolonialzeit und der europäischen Fremdbestimmung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts einschneidende Reformprogramme verordnet hatten. In den jungen arabischen Nationalstaaten sollten völlig neue, moderne Gesellschaften entstehen, die auf Freiheit, Würde und Gerechtigkeit aufgebaut waren. Vorkoloniale Strukturen, traditionelle Loyalitäten und bestehende politische Institutionen hatten keinen Platz mehr. In der Realität zerstörten die „revolutionären“ arabischen Staaten, die auf dieser Grundlage geschaffen wurden, mehr politische Substanz als sie tatsächlich aufbauten. Hinter den Fassaden moderner Strukturen und Institutionen entstanden oft dysfunktionale politische Systeme, die weitreichende Legitimitäts- und Funktionsdefizite aufwiesen und die eigentlichen Herrschaftsstrukturen nicht trugen, sondern vielmehr verdeckten.
Leere Kulissen und Scheininstitutionen
Libyen wurde zu einem besonders eklatanten Beispiel. Die Institutionen von Gaddafis „Volksdschamahirija“ erwiesen sich nach seinem Sturz als leere Kulissen, hinter denen der offiziell funktionslose Revolutionsführer seinen absoluten Führungs- und Kontrollanspruch verbarg. Mit dem Tod des Diktators fielen deshalb auch die politischen Institutionen des libyschen Staates wie Kartenhäuser zusammen. Zurück blieben die einzigen Strukturen, welche die institutionellen Säuberungen des libyschen Volksmassenstaats überlebt hatten: Stammesverbände und islamistische Netzwerke.
In Ägypten gab es einen ähnlichen Effekt, wenn auch vor dem Hintergrund anderer Rahmenbedingungen und mit anderen Auswirkungen. Die ägyptischen Präsidenten Nasser, Sadat und Mubarak errichteten eine Vielzahl von Institutionen moderner Staatlichkeit. Über die politischen Geschicke des Landes wurde allerdings nicht hier, sondern in geschlossenen Kreisen einer engen Militärund Machtelite entschieden. Mit der Absetzung Mubaraks traten 2011 die tatsächlich relevanten Institutionen ägyptischer Politik zum Vorschein und übernahmen abwechselnd das Ruder: der Sicherheitsapparat und die Muslimbrüder. Parteien, Lokalräte, das Parlament und viele Verwaltungsorgane wurden als weitgehend funktionslose oder unfähige Scheininstitutionen entlarvt oder erwiesen sich, wie Medien, Verbände und Gerichte, als vom Sicherheitsapparat abhängige Akteure.
Dysfunktionalität und institutioneller Missbrauch können schließlich auch den Überraschungserfolg der ISIS-Miliz gegen die irakische Armee im Frühsommer 2014 erklären. Der bisherige irakische Premier Nuri al-Maliki hatte die Streitkräfte des Landes in den zurückliegenden Jahren zum Instrument der eigenen Herrschaftssicherung und zur Bedienung von religiösen und ethnischen Partikularinteressen benutzt. Hinter der Kulisse einer modernen Armee versteckte sich wenig mehr als eine Schiitenmiliz mit geringer Kampferfahrung, deren Führungskader nach Clan- und Machtinteressen und nicht nach Qualifikation ausgewählt wurden.
Auf den Leim gegangen
Die Liste ließe sich fortsetzen. Die Diskrepanz zwischen institutionellem Anschein und machtpolitischer Wirklichkeit findet sich überall in der Region. Tatsächlich war und ist Politik in den arabischen Staaten oft nicht das Resultat institutionell strukturierter Aushandlungsprozesse, sondern das Ergebnis intransparenter Verteilungskämpfe innerhalb geschlossener militärisch, konfessionell oder tribal strukturierter Eliten. Das fiel nicht weiter auf, weil im Inneren der Kampf gegen Israel, die Einmischung ausländischer Mächte oder die Bedrohung durch Islamismus und Terrorismus für funktionale Defizite verantwortlich gemacht werden konnten. Besonders Ägypten, aber auch Algerien und Syrien verstanden es außerdem, ihre defizitäre Staatlichkeit nach außen von weltläufigen Vorzeigediplomaten eloquent und selbstbewusst verkaufen zu lassen. Dem Westen ist anzulasten, dass er diesem Etikettenschwindel immer wieder auf den Leim gegangen ist.
Die Umbrüche des Arabischen Frühlings haben die institutionellen Defizite der arabischen Staaten zumindest vorübergehend offengelegt. Indem Mubarak, Assad und Gaddafi eigenständig funktionierende politische Institutionen systematisch zerstörten oder ihre Entstehung verhinderten, hinterließen sie nach ihrem Abtreten neben leeren Fassaden nur die eigentlichen Akteure, die hinter diesen Kulissen das politische Kräftefeld beherrschten: Militärs, Geheimdienste, Stämme, Islamisten und kriminelle Familienclans.
Die Schuldigen für den Staatszerfall
Es ist deshalb kein Zufall, dass die Verwerfungen des Jahres 2011 gerade in jenen Staaten besonders stark ausgeprägt sind, die vor vierzig oder fünfzig Jahren mit besonders ambitionierten Modernisierungsprogrammen antraten und traditionelle politische und soziale Strukturen besonders nachhaltig zerstörten oder missachteten: Libyen, Syrien und (knapp zwanzig Jahre vorher) Algerien. Es ist außerdem kein Zufall, dass die arabischen Monarchien von den Umbrüchen des Jahres 2011 weitaus weniger betroffen waren. Marokko, Jordanien und die arabischen Golfstaaten sind von Demokratie oder guter Regierungsführung in vielerlei Hinsicht weit entfernt. Aber sie knüpfen in ihrer politischen Praxis an traditionelle Formen der Herrschaftslegitimierung und zum Teil auch Bevölkerungspartizipation an und konnten auf dieser Grundlage politische Systeme etablieren, in denen die Diskrepanz zwischen politischem Anspruch und politischer Wirklichkeit trotz vieler Defizite weniger stark ausgeprägt ist als bei den „republikanischen“ Nachbarn.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Ruf nach der „bewährten“ Militärdiktatur die Lösung mit dem Problem verwechselt. Es waren die vermeintlich Sicherheit und Stabilität garantierenden Autokraten und Diktatoren, die genau jene Voraussetzungen schufen, auf denen jetzt Staatszerfall und Chaos gedeihen. Indem sie die Herausbildung eigenständiger politischer Institutionen und Akteure, auf denen ein politischer Transformationsprozess aufbauen könnte, systematisch behindert und unterbunden haben und gleichzeitig die gesellschaftliche Islamisierung zuließen und zum Teil förderten, bereiteten sie den Nährboden für den radikalen Dschihadismus.
Die Rückkehr Ägyptens zur Militärdiktatur ist daher eine schlechte Nachricht. Der neue Präsident Sisi hat die Uhren wieder auf null zurückstellt und macht genau an dem Punkt weiter, an dem Mubarak gescheitert ist. Die islamistische Bedrohung und der Kampf gegen den Terror von ISIS und al-Qaida wird zur Legitimierung autokratischer Herrschaftspraktiken herangezogen, demokratische und zivilgesellschaftliche Akteure werden ausgeschaltet, inhaftiert oder außer Landes getrieben. Gleichzeitig wächst in Ägyptens Gefängnissen die nächste Generation gewaltbereiter Dschihadisten und Terroristen heran.
Natürlich ist Ägypten unter Sisi besser dran als Syrien unter ISIS. Aber das ist keine Rechtfertigung für das Verschleppen politischer Reformen und die brutale Unterdrückung jeder politischen Opposition. Die politische Misere des Nahen Ostens lässt sich nur durch den allmählichen Aufbau tragfähiger politischer Strukturen und funktionierender Institutionen bewältigen. Nur so kann gewährleistet werden, dass sich die Menschen in der Region eines Tages nicht mehr zwischen ISIS und Sisi entscheiden müssen.
Andreas Jacobs, geboren 1969 in Kleve, von 2007 bis 2012 Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ägypten, wissenschaftlicher Mitarbeiter am NATO Defense College in Rom.