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Respektvoller Umgang im politischen Streit

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„Keiner ist im Besitze der alleinigen Wahrheit. Nur durch Rede und Gegenrede und durch gegenseitigen Austausch kann man hoffen, doch der Wahrheit möglichst nahe zu kommen.“[1] Diese Einsicht Konrad Adenauers ist aktueller denn je. Eine vitale Demokratie braucht Streit und Diskurs zum Atmen. Unsere freiheitlich-pluralistische Gesellschaft erlaubt und braucht Auseinandersetzungen im besten Sinne des Wortes. Sie sind nicht nur nicht vermeidbar, sondern unverzichtbar im Ringen um die beste Lösung. Streit muss sein.

Ein wesentliches Merkmal der Demokratie ist, dass es gerade keine „volonté générale“ gibt, auf die sich Diktaturen gern berufen, keinen allgemeinen Willen oder Gemeinwillen, sondern dass sich das, was eine Gesellschaft will, erst aus der Debatte ergibt. Hartnäckig hält sich in dem Zusammenhang auch das Missverständnis, Demokratie sei ein Verfahren zur Verhinderung von Streit. Das genaue Gegenteil ist richtig: Die Demokratie ist das – bislang jedenfalls – bestmögliche Verfahren zum zivilisierten Austragen unterschiedlicher Auffassungen, Meinungen und Interessen und zur Herbeiführung eines Ergebnisses, das für alle verbindlich ist. Das ist der Gegenstand von Demokratie. In einem Spiegel-Interview hat der Soziologe Nils C. Kumkar formuliert: „Moderne Politik operiert über Konflikt. […] Polarisierung ist im politischen System angelegt. Sie erfüllt wichtige Funktionen, ordnet, spitzt zu, macht Alternativen sichtbar. Und integriert Menschen in den politischen Prozess, nach dem Motto: In diesem Konflikt geht es um was, es ist wichtig, dass du jetzt mitmachst, dass du dich einbringst, dass du wählen gehst.“[2]

 

Integration des Unvereinbaren

Dabei ist ein Mehrheitsentscheid im demokratischen Rechtsstaat keineswegs Nachweis der Richtigkeit oder Wahrheit der jeweiligen Meinung. Denn wäre die Richtigkeit offenkundig oder nachweisbar gewesen, hätte keine Abstimmung stattfinden müssen. Es handelt sich vielmehr um notwendige Entscheidungen unter legitimen Alternativen, über die durch Mehrheit entschieden wird und die dadurch rechtliche Verbindlichkeit erlangen, aber die eben nicht notwendigerweise richtig sind. Sie gelten, bis neue Mehrheiten anderes beschließen. Ohne diesen Konsens kann eine freiheitliche Gesellschaft ihre Konflikte nicht bewältigen.

Insoweit ermöglicht Politik die Integration des Unvereinbaren in einer Gesellschaft – allerdings unter der Bedingung der unverrückbaren Geltung von Regeln, nicht von Wahrheiten. Wir haben unsere jeweiligen Meinungen und Überzeugungen, aber wir wissen nicht, was wahr ist – und gerade weil wir die Wahrheitsfrage nicht beantworten können, ist Politik nötig und Demokratie möglich.

Weil wir begriffen haben, dass niemand über absolute Wahrheiten verfügt, haben wir uns auf demokratische Verfahrensregeln verständigt. Jeder muss die Möglichkeit haben, das zu vertreten, was ihm wichtig und richtig erscheint. Zugleich darf aber niemand für seine Überzeugungen und Meinungen einen Absolutheitsanspruch erheben. Die Neue Zürcher Zeitung schrieb kürzlich: „Die demokratische Souveränität kommt letztlich nicht in der freien Meinungsäusserung zum Ausdruck, sondern in der Duldung und Anerkennung von anderen Meinungen. Umso mehr, wenn sie der eigenen diametral entgegenstehen.“[3]

Genau das droht seit geraumer Zeit immer weniger zu gelten; die Einsicht und Bereitschaft, dass die für die friedliche Austragung von Streitigkeiten ausgehandelten Regeln über den Zielen stehen, erodieren zunehmend auch und ausgerechnet in der westlichen Welt. Immer häufiger werden die Regeln den Eigeninteressen unterworfen. International erleben wir die Aufkündigung der von den westlichen Demokratien propagierten und vermeintlich allgemein akzeptierten regelbasierten Weltordnung ausgerechnet durch den Präsidenten der Vereinigten Staaten: Er lässt sowohl bei seinen innenpolitischen Maßnahmen als auch bei außenpolitischen Ankündigungen keine Zweifel daran aufkommen, seine Vorstellungen von einem „neuen goldenen Zeitalter Amerikas“ weder von geschriebenen Verfassungsregeln noch von internationalen Vertragsverpflichtungen abhängig zu machen und stattdessen auf „deals“ gestützte, jeweils bilaterale Vereinbarungen zu treffen – mit immer kürzeren Halbwertzeiten. Ein solcher, beinahe beliebiger Anspruch macht es schwierig, wenn nicht unmöglich, globale Herausforderungen, Krisen und Konflikte im gegenseitigen Einvernehmen zu bewältigen.

Was auf internationaler Ebene wie eine weitere, bei genauerem Nachdenken vielleicht sogar wie die eigentliche Zeitenwende anmutet, ist auch bei vielen Debatten und Auseinandersetzungen im eigenen Land zu beobachten. Viele Diskussionen über strittige Fragen und streitbare Themen werden mit fundamentalistischem Eifer geführt, verbunden mit Verzerrungen und falschen Vorwürfen, Beleidigungen und Anfeindungen.

 

Die Versuchung durch soziale Medien

Nicht zu übersehen ist, dass durch die zunehmende Verdrängung konventioneller, klassischer Medien durch die elektronischen Medien mit ihren Kommunikationsplattformen mit ungleich höheren Nutzerzahlen die Versuchung noch größer und beinahe unvermeidlich geworden ist, komplexe Vorgänge zu vereinfachen, zuzuspitzen, zu dramatisieren, nicht selten auch zu skandalisieren. Offenkundig ist die Verlockung übermächtig geworden, sich durch Polemik und Übertreibungen jene Aufmerksamkeit zu erkaufen, die eine differenzierte Stellungnahme in der Regel nicht mehr erfährt. Denn etwas schlicht Vernünftiges zu sagen, ist beinahe eine Garantie dafür, nicht wahrgenommen zu werden.

Diese Entwicklung beschädigt und gefährdet die Demokratie, die auf eine aufgeklärte Streit- und Debattenkultur angewiesen ist. Gerade in den sogenannten sozialen Medien ist das früher Unsägliche längst sagbar geworden. Das Internet ist sicher nicht die Ursache von wahrgenommenen oder eingebildeten Verrohungstendenzen in unserer Gesellschaft, aber mit Abstand deren wichtigster Katalysator.

Inzwischen bleibt es nicht mehr nur bei Beleidigungen und Beschimpfungen im digitalen Raum: Laut einer Befragung von 2024 unter Politikern auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene[4] haben 46 Prozent – fast jeder Zweite – in den letzten sechs Monaten Aggressions- oder Gewalterfahrungen gemacht. Bei dreizehn Prozent davon war auch das private Umfeld betroffen. Von den Beschäftigten im öffentlichen Dienst – so eine weitere aktuelle Studie[5] – wurde jeder Zweite während seiner Tätigkeit schon einmal behindert, beschimpft oder sogar tätlich angegriffen.

Viele der rhetorischen Eskalationen, die wir seit geraumer Zeit erleben, folgen einer fatalen Eigendynamik, bei der am Ende nur noch die schrillsten Rufe öffentlich wahrgenommen werden. Wahr ist leider auch, dass zu dieser Spirale verbaler Entgleisungen und Beschimpfungen nicht nur Populisten kräftig beitragen, sondern auch manche ihrer übereifrigen Gegner.

 

Balance von Konflikt und Konsens

Die Antwort auf die spürbaren Veränderungen in unserer Streitkultur kann und darf nicht lauten, Debatten und Diskussionen künftig aus dem Weg zu gehen – im Gegenteil. Ahmad Mansour hat es auf den Punkt gebracht: „In einer Zeit sozialer Medien, wachsender Polarisierung und gesellschaftlicher Radikalisierung darf die Antwort von Demokratinnen und Demokraten nicht darin bestehen, Debatten zu verbieten oder künstliche Harmonie zu inszenieren. Die Antwort muss Debatte sein – echte, harte, manchmal unbequeme Debatte.“[6]

Als Gesellschaft im Ganzen muss es unser gemeinsames fundamentales Interesse sein, dass wir in freiheitlichen Diskursen zu Ergebnissen und Entscheidungen kommen, deren Akzeptanz auch darauf beruht, dass alle Beteiligten den Eindruck haben, dass der dazu notwendige Prozess nachvollziehbar und demokratisch verlaufen ist. Die Demokratie ist eine besonders anspruchsvolle politische Versuchsanordnung, die von dem kunstvollen Verhältnis von Konflikt und Konsens lebt und mit dieser Balance steht und fällt. Eine freiheitliche Gesellschaft wird nie eine konfliktfreie Gesellschaft sein können. Umgekehrt ist das Vorhandensein von Konflikten geradezu das Indiz für die prinzipiellen Freiheitsräume einer Gesellschaft, jedenfalls wenn diese Konflikte nicht nur schlicht stattfinden, sondern auch akzeptiert werden.

Für die politische Kultur und die Stabilität der parlamentarischen Demokratie in unserem Land sind wir alle gemeinsam verantwortlich. Wähler wie Gewählte stehen gleichermaßen in der Pflicht, wollen wir sie nicht fahrlässig den Vereinfachern, Demagogen und Gegnern der Demokratie überlassen.


Norbert Lammert, geboren 1948 in Bochum, Sozialwissenschaftler, 1998 bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 2005 bis 2017 Präsident des Deutschen Bundestages, seit 2018 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.
 

[1] Konrad Adenauer in Köln auf einer Veranstaltung der CDU am 11.08.1946, st. N., S. 1, ACDP S. Ad.
[2] Martina Kix / Sophia Schirmer: „Es knallt dauernd, weil das auch unterhaltsam ist“. Interview mit Nils C. Kumkar, in: Der Spiegel, 14.08.2025, S. 36–38.
[3] Benedict Neff: „Der Ungeist der Cancel-Culture“, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 224, 27.09.2025.
[4] Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V.: Aggressionen und Gewalt gegen Politiker*innen. Erste Ergebnisse einer deutschlandweiten Befragung, KFN-Forschungsprojekt 2023–2026, 27.05.2025, https://kfn.de/wp-content/uploads/2025/05/Factsheet-erste-Ergebnisse-der-Dunkelfeldbefragung.pdf [letzter Zugriff: 07.10.2025].
[5] dbb beamtenbund und tarifunion: dbb Bürgerbefragung „Öffentlicher Dienst 2025 – Gewalt gegen öffentlich Beschäftigte“ (Sonderteil), S. 8, www.dbb.de/artikel/einfacher-schneller-digitaler-das-erwarten-die-deutschen-vom-staat.html sowie www.dbb.de/fileadmin/user_upload/globale_elemente/pdfs/2025/250903_forsa_Gewalt_gegen_oeffentlich_beschaeftigte.pdf [letzter Zugriff jeweils: 07.10.2025].
[6] Ahmad Mansour: „Das deutsche Debattenverbot“, in: Die Welt, 14.08.2025. 

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