Asset-Herausgeber

von Michael Braun
von Nino Galetti

Wie der neue Roman von Houllebecq in Deutschland und Frankreich gelesen wird

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Michel Houellebecq: Serotonin, aus dem Französischen übersetzt von Stephan Kleiner, DuMont Buchverlag, Köln 2019, 330 Seiten, 24,90 Euro.

Ein neuer Houellebecq ist stets ein Kulturereignis – auch ein politisches. Der Autor spaltet sein Publikum und die Kritik. Die einen schätzen ihn als „Sphinx der französischen Literatur“ („Kulturzeit“, 3sat, 9. Januar 2019), die anderen halten ihn für einen frivolen Provokateur. Überschätzter politischer Freigeist oder ein unterschätzter literarischer Visionär?

Anfang Januar 2019 ist sein siebter Roman, Serotonin, fast zeitgleich in Frankreich und Deutschland erschienen. Er erzählt die Geschichte des 46 -jährigen französischen Intellektuellen Florent-Claude Labrouste, der als Agrarökonom im Landwirtschaftsministerium tätig ist. Dort hat er es mit den Folgen des Freihandelsabkommens auf den Lebensmittelexport, mit Vorschriften der Europäischen Union, dem Protest französischer Milchbauern, einer handfesten Depression, starken Medikamenten und dem daraus resultierenden Libidoverlust zu tun. Wie ist das Buch diesseits und jenseits des Rheins aufgenommen worden?

Niedriger Aufregungspegel

In Frankreich wurde Houellebecqs neuer Roman mit großer Spannung erwartet. Innerhalb von drei Tagen wurden über 90.000 Exemplare verkauft – mehr als ein Viertel der Erstauflage. Im Vordergrund der Rezeption stand angesichts der Proteste der „Gelbwesten“ die Frage, ob es dem Autor ein weiteres Mal gelungen sei, mit einem Buch eine bevorstehende politisch-gesellschaftliche Entwicklung abzubilden, ja vorwegzunehmen. Die Parallele der im Roman geschilderten Revolte der Milchbauern aus der Normandie mit der Wut der „France périphérique“, also der in gelben Warnwesten protestierenden Bewohner des ländlichen Frankreichs, ist unübersehbar. Manche Kritiker sehen in Houellebecq daher einen Visionär, den wir in spätestens einer Generation für einen überragenden Chronisten unserer Epoche halten müssten. Diese Beschreibung geht dem Kritiker des Wochenmagazins L’Obs, Grégoire Leménager, zu weit: In Serotonin komme nicht eine einzige gelbe Warnweste vor – auch die Sozialen Medien, die für die Gelbwesten-Bewegung eine konstituierende Bedeutung haben, fänden keine Beachtung.

Nachdem Houellebecq 2015 in Unterwerfung mit einem opportunistischen Ich-Erzähler nicht nur die geistige Verkommenheit der intellektuellen Elite in Frankreich, sondern auch das Abbild einer anspruchslosen, wenig ambitionierten und auf sich selbst bezogenen Politikerkaste gezeichnet hatte, war ihm fortan eine Nähe zu antiliberalen, islamophoben, ja rechtsextremistischen Ideen unterstellt worden. Für eine Fortführung dieser Kritik bietet Serotonin keine Anknüpfungspunkte. Entsprechend niedrig ist gegenwärtig der Aufregungspegel in den politischen Feuilletons.

Unbestritten ist jedoch, dass Houellebecq in seinen Romanen stets zeigt, wo Frankreich und die französische Gesellschaft stehen. Die Schriftstellerin Catherine Millet geht so weit, Houellebecq für den einzigen Autor zu halten, der die brennenden Fragen der Gesellschaft anspreche und damit eine Aufgabe übernehme, der Politiker, Journalisten und Wissenschaftler in Frankreich gegenwärtig nicht gerecht würden. Für sie ist der Erfolg Houellebecqs auch darin begründet, dass er Themen anspricht, mit denen sich viele Leser identifizieren können: von der intellektuellen Schwäche Frankreichs über die Auswirkungen einer globalisierten Weltwirtschaft bis zur Entmännlichung des Mannes in unserer Zeit.

Verständliche Sprache

Für Houellebecqs großen Erfolg gibt es noch eine weitere Erklärung: Der Träger des renommierten Prix Goncourt ist leicht zu lesen. Er nutzt eine verständliche Sprache, die es dem Leser ermöglicht, nicht nur dem Verlauf der Handlung zu folgen, sondern auch Einblicke in komplexere Themen zu erhalten, etwa die europäische Agrarpolitik in Serotonin oder das Werk des französischen Schriftstellers Joris-Karl Huysmans in Unterwerfung. Die klare Sprache Houellebecqs, die Lesbarkeit und Übersetzbarkeit seines Werks sind ein Grund für seinen Erfolg in der frankophonen Welt und anderswo.

Zwischen allen Stühlen

Gleichzeitig kleidet der Autor seine Geschichte in ein Frankreich-Bild, das einen hohen Wiedererkennungswert hat, ohne jedoch zum Klischee zu verkommen: Zum Inventar des Romans gehören, neben Pariser Straßencafés, ein Mercure-Hotel, die Normandie und ihr Käse, demonstrierende Bauern sowie ein Ich-Erzähler, der freizügig seine sexuellen Vorlieben vor dem Leser ausbreitet. Letzteres im Übermaß, sodass der Verdacht naheliegt, dass Houellebecq sich hier durch Übertreibung selbst zur Karikatur machen möchte. Denn notwendig ist es nicht, dem Leser alle paar Seiten detailreich eine Fellatio zu schildern. Während die Fokussierung sexueller Aktivitäten in Unterwerfung für die Pointe des Romans konstituierend ist – der Ich-Erzähler wendet sich dem Islam zu, um seinen Sexualtrieb befriedigen zu können –, haben die pornographischen Szenen in Serotonin keine weiterführende Funktion: Die Einnahme von Antidepressiva führt beim Ich-Erzähler vielmehr zu Impotenz und Libidoverlust.

Die Kritik in Deutschland hat die Gewalt der normannischen Landwirte gegen die staatlichen Organe als Voraussicht der „Gelbwesten“ verstanden, die sich im Herbst 2018 in der französischen Provinz formierten. Eine zentrale Szene im Roman ist ein Traktorensturm auf die EU-Bastille, der beste Freund des Ich-Erzählers nimmt sich dabei öffentlich-spektakulär das Leben.

Demzufolge gilt Houellebecq in deutschsprachigen Medien vor allem als Untergangsprophet, als politischer Visionär. Hatte er nicht schon in Plattform das Attentat auf Bali, in Unterwerfung den Anschlag auf Charlie Hebdo vorweggenommen? – so fragte der österreichische Standard. Andere Kritiker sind ratlos. Houellebecq sei zu antiliberal für einen linken Moralphilosophen, zu liberal für einen Vordenker der Rechten. So aber, als Wegbereiter der extremen Rechten, sieht ihn Adam Soboczywski in der Zeit: Er mache „rechtes, antiliberales Gedankengut salonfähig“ (Nr. 4/2019, 17. Januar 2019). Wenn Houellebecq irgendwohin passt, dann zwischen alle Stühle.

„Dieses alte Rindvieh Goethe“

In der Welt und im Focus wird auf Houellebecqs Klassikerschelte hingewiesen. Der Autor lässt seine Romanfiguren nicht freundlich umgehen mit dem literarischen Kanon; vor allem die Weltbürger Johann Wolfgang von Goethe und Thomas Mann bekommen ihr Fett weg. An intellektuellen und moralischen Qualitäten habe es ihnen gefehlt. Von der Schönheit der Sprache solle man sich nicht täuschen lassen. Da sei etwa – heißt es in Serotonin – „dieses alte Rindvieh Goethe (der deutsche Humanist mit mediterranem Einschlag, einer der grauenvollsten Schwafler der Weltliteratur)“.

Doch Houellebecq ist auch ein hintersinniger Erzähler in der Tradition der französischen Moralisten, die die Welt nicht beschreiben, wie sie sein sollte, sondern wie sie ist. Mit einer Serotonin-Tablette verschafft sich die melancholische Figur des Romans das, was der Staat ihr vermeintlich vorenthält, wider alle Gelöbnisse und Gesetze: Glück.

Glück als Staatstherapie

Es ist das „Glück“ als humanes Lebensziel aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, der französischen Aufklärung und der Menschenrechtserklärung, das eingeklagt wird. Auf diese Weise werden Körper und Staat verkoppelt: Wenn der eine leidet, verfällt auch der andere. Serotonin ist ja ein Glückshormon, und an einem Glücksdefizit leiden nicht nur der Protagonist des Romans und offenbar sein Autor; therapiebedürftig erscheint auch der Staatskörper. Serotonin ist in diesem Sinne ein Roman des Verfalls.

Anders als Unterwerfung hat Serotonin weder in Frankreich noch in Deutschland eine Debatte in Politik und Gesellschaft angestoßen. Gegenwärtig provoziert Michel Houellebecq eher mit Interviews zur Tagespolitik – etwa als er zur Jahreswende 2018 Donald Trump als „un des meilleurs présidents américains“ („einen der besten US-Präsidenten“) bezeichnete und den Brexit lobte. Bei aller Kritik: Nahezu unbestritten ist jedoch dort wie hierzulande, dass Houellebecq einer der bedeutendsten lebenden französischen Schriftsteller ist.

Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Leiter des Referates Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung und außerplanmäßiger Professor für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln.

Nino Galetti, geboren 1972 in Fribourg (Schweiz), Altstipendiat und Leiter des Auslandsbüros Frankreich der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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