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Marcus Schoft

Auch wir in Deutschland kämpfen an der Front. An der Informationsfront

Wie ukrainische Stipendiatinnen und Stipendiaten dem russischen Angriffskrieg in ihrer Heimat begegnen

Am 24. Februar griff Russland die Ukraine an. Der Tag markiert im Leben von vielen von uns eine Bruchstelle. Doch was macht der Krieg in ihrer Heimat mit unseren ukrainischen Stipendiatinnen und Stipendiaten? Wir haben Olha begleitet, um mehr über ihren Alltag und den ihrer Freundinnen Kateryna und Iryna zu erfahren.

Auf den ersten Blick fällt Olha nicht auf, auf dem Bahnsteig am Bahnhof Friedrichstraße. Wäre da nicht ihr gelber Mantel. Sie wird nach dem Weg gefragt und ihre Antwort lässt keinen Zweifel, dass sie ihn kennt. Sie selbst steht am Anfang eines ungewissen Weges, weiß sie doch nicht, wann sie wieder in ihre Heimat zurückkehren wird. Am liebsten würde sie sofort in den Zug steigen: „Ich fühle mich schuldig, dass ich hier bin und nicht bei meiner Familie in der Ukraine. Dass ich nicht wie die anderen kämpfe“.

„Ich fühle mich schuldig, dass ich hier bin und nicht bei meiner Familie in der Ukraine. Dass ich nicht wie die anderen kämpfe.“

Olha

Olha ist vor fünf Jahren zum Studieren mit Hilfe des KAS-Stipendiums nach Deutschland gekommen. Zunächst als Master-Studentin, inzwischen promoviert sie in Berlin im Bereich KI-gestützter Didaktik. In der Ukraine hat sie an einer Staatlichen Pädagogischen Universität ihren Bachelor gemacht, hat dort an der pädagogischen Mykhailo Kotsiubynskyi Universität zu Winnyzja Germanistik studiert. Und schon damals war sie sehr engagiert: Sie war im Studentenrat, hat Kindern Nachhilfe gegeben, sie ehrenamtlich in Deutsch oder Englisch unterrichtet und Jugendbegegnungen organisiert: etwa im ehemaligen Konzentrationslager Flossenbürg. 2018 wurde sie Promotionsstipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung. Von den mehr als 300 ausländischen Studierenden, die die Stiftung fördert, kommen 34 aus der Ukraine. Seit 1990 waren es 200 ukrainische Studierende und Promovierende. Ähnlich hoch ist die Zahl der Geförderten aus Russland.

Der 24. Februar hat das Leben der Stipendiatinnen und Stipendiaten radikal verändert. Die ersten Tage waren wie im Nebel, erinnert sich Olha. Sie konnte nichts essen, habe die ganze Zeit gezittert. Inzwischen hat sie ihren Alltag neu organisiert. Sie ist auf dem Weg nach Schöneberg, zum Grazer Platz. In der evangelischen Apostel Paulus-Kirche hat die ukrainisch-orthodoxe Gemeinde Berlin ein Zuhause gefunden. Zwischen den Kirchenbänken werden Hilfsgüter gesammelt und verpackt. „Mindestens zwei Mal pro Woche komme ich hierher und helfe ein paar Stunden“, sagt Olha. Zwei Mal in der Woche gibt sie ukrainischen Schülern Deutschunterricht. Und zwei weitere Tage sind für die Organisation eines Ukraine-Seminars verplant. Sie wollte mit deutschen und internationalen Stipendiatinnen und Stipendiaten der Stiftung die Ukraine besuchen. Nicht nur Kyjiw, sondern auch Charkiw. Der 24. Februar kam dazwischen: „Wir hatten schon alles organisiert. Nun müssen wir neu planen, hier in Berlin“, erklärt Olha entschlossen.

Während sie von ihrem neuen Alltag spricht, sitzt sie in der Frühlingssonne vor der Kirche. Das Handy auf ihrem Schoß. 68 ungelesene Nachrichten – allein auf Telegram. Ist Luftalarm in ihrer Heimatstadt Winnyzja in der Zentral-Ukraine, erfährt sie es zeitgleich. „Ich folge unserem Bürgermeister auf Telegram.“ Schickt er zwei tiefrote Punkte, heißt das Luftalarm. Sind die Punkte grün, ist er zu Ende. Danach erleichterte Kommentare und Smileys. Auch Olhas Smileys sind dabei.

Kateryna ist an der Apostel Paulus-Kirche in Schöneberg angekommen. Auch sie eine Stipendiatin. Olha und sie organisieren das Ukraine-Seminar. Doch erst einmal werden Neuigkeiten ausgetauscht. Wie geht es Katerynas Großeltern? Gerade erst aus Charkiw geflohen, leben sie nun mit der Enkelin in einer Berliner 1-Zimmerwohnung. Wie kommen deine Schwester und die Kinder in Polen zurecht? Gab es wieder Ärger auf den Berliner Ämtern? Hast du inzwischen mit deinem Vater telefonieren können?

Dann reden die Frauen über die Nachrichtenlage in der Ukraine. Die ist immer präsent. „Auch wir in Deutschland befinden uns an der Front. An der Informationsfront“, sagt Olha. Alles, was sie über Telegram, Instagram oder Facebook erfährt, teilt sie, kommentiert es, versucht aufzuklären. Und wenn es nur darum geht, dass es auf Ukrainisch Kyjiw heißt – und nicht Kiew wie im Russischen. Schon bei solchen Themen wird der Ton in den sozialen Netzwerken sehr schnell rau. Wie sind die Reaktionen, wenn sie Bilder aus dem Kriegsgebiet teilt, von Verletzten oder Toten, von Bombenangriffen? „Selbst Freundinnen und Freunde glauben mir Vieles nicht. Und ich kann es irgendwie verstehen. Es ist einfach zu grausam, um es wahrhaben zu wollen. Aber es ist unsere Realität“, sagt Olha.

Diese Erfahrung machen Olha und Kateryna nicht erst seit dem 24. Februar. Schon seit 2014 versuchen sie, über den Krieg in der Ostukraine aufzuklären. Einige Tage später besuchen die beiden eine Filmpremiere im Kinosaal der Filmuniversität Babelsberg. Hier findet gerade das 51. International Student Film Festival Sehsüchte statt. Im Rennen um den besten Dokumentarfilm ist auch der Film ihrer Konstipendiatin Iryna. The Bright Path erzählt von Stanislav Aseyev, einem Schriftsteller aus dem Donbas. Von seiner Verschleppung 2017, und was er erlebt hat während seiner 28 Monate währenden Gefangenschaft. Worte wie Willkür, Folter und Konzentrationslager bleiben nach diesem Abend im Gedächtnis. Der Film hatte 2021 Premiere. Als die Moderatorin im Publikumsgespräch erwähnt, der Film sei vor dem Ukraine-Krieg für das Festival ausgewählt worden, korrigiert Regisseurin Iryna sie. „Wir haben seit 2014 Krieg in der Ukraine. Deshalb haben wir diesen Film gemacht.“ Und gemeinsam mit Olha und Kateryna nutzt sie die Gelegenheit, sich für die Bewaffnung der ukrainischen Armee einzusetzen.

Marcus Schoft

Es vergeht kaum ein Tag, an dem Olha nicht unterwegs ist. Am Sonntag schließlich, als sie im Gottesdienst in der Apostel Paulus-Kirche steht, ist ihr gelber Mantel wieder von weither zu sehen. Sie steht im Mittelgang, woanders war kein Platz mehr. Mit ihr 300 Menschen: Mütter mit ihren Kindern, wenige Männer, viele ältere Frauen. Um sie herum unzählige Kartons. Die Bänke sind zur Seite geschoben oder übervoll mit Hilfsgütern. Doch das äußere Chaos zählt nicht. Und für kurze Zeit findet Olha, was es in ihrem Alltag nicht mehr gibt: Ruhe – Ruhe vom Krieg und der nie stillstehenden „Informationsfront“.

 

Die Ukraine ist einer der Schwerpunkte der Konrad-Adenauer-Stiftung bei der Förderung engagierter junger Studenten und Studentinnen. Insgesamt 34 Stipendiatinnen und Stipendiaten aus der Ukraine befinden sich aktuell in der Förderung. Seit 1990 hat die Konrad-Adenauer-Stiftung über 200 Menschen aus der Ukraine gefördert. Ähnlich hoch ist die Zahl der Geförderten aus Russland. Wie die Stipendiatinnen und Stipendiaten dem Angriffskrieg Russlands gegenüber der Ukraine begegnen, lesen Sie in dem Dossier "Krieg in den Köpfen" www.kas.de/de/web/begabtenfoerderung-und-kultur/einzeltitel/-/content/krieg-in-den-koepfen der Kollegen in der Abteilung Begabtenförderung und Kultur.

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