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Ein Wendepunkt für die Türkei?

Die Verhaftung Ekrem İmamoğlus entfacht neue Proteste und zeigt die wachsenden Spannungen in der Türkei ein. Ein Meinungsbeitrag von Gülistan Gürbey

Am 19. März 2025 wurde der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu unter Korruptions- und Terrorvorwürfen verhaftet – gemeinsam mit rund 100 weiteren Personen. Die Festnahme des Oppositionspolitikers, der als aussichtsreicher Herausforderer Recep Tayyip Erdoğans bei den Präsidentschaftswahlen 2028 gilt, markiert einen neuen Höhepunkt der innenpolitischen Spannungen in der Türkei. Kritiker werten den Vorgang als gezielten Schlag gegen die Opposition. Landesweit kam es trotz Demonstrationsverbots zu Protesten. 
 

Protestdynamik

Besonders Angehörige der Generation Z (geboren um das Jahr 2000), die mit rund 25 Millionen Menschen einen bedeutenden Teil der über 85 Millionen umfassenden Bevölkerung der Türkei stellt und etwa 12 Prozent der Wählerschaft ausmacht, gingen auf die Straßen. Untereinander vernetzt und vor allem digital informiert, agierten sie parteiunabhängig und unterstützten den Ruf „Recht, Gesetz, Gerechtigkeit“. Ihre Forderungen reichen über die Freilassung İmamoğlus hinaus und umfassen Freiheit, Demokratie und bessere Zukunftsperspektiven angesichts hoher Arbeitslosigkeit und begrenzter Chancen.

Özgür Özel, Chef der größten Oppositionspartei CHP-bezeichnete die Festnahme seines Parteifreunds İmamoğlus als einen „Putsch gegen die Demokratie“ und stellte sich an die Spitze der Proteste. İmamoğlus wurde kurz nach seiner Verhaftung von seiner Partei als Präsidentschaftskandidat nominiert. Erstmals durften auch Nichtmitglieder der Partei mit abstimmen; insgesamt votierten rund 15 Millionen Menschen für ihn. Mit dieser Strategie beabsichtigte die CHP, die aktuelle öffentliche Empörung in eine langfristige politische Bewegung zu überführen. Um einer staatlichen Zwangsverwaltung in Istanbul zuvorzukommen, wählte der Stadtrat einen Interimsbürgermeister. Zugleich setzte die Partei auf wirtschaftlichen Druck: Sie rief zu Boykotten regierungsnaher Unternehmen und Medien auf, um die ökonomische Machtbasis der Regierungspartei AKP zu treffen und das auf staatlicher Kontrolle beruhende Medienmonopol zu durchbrechen. Parallel dazu initiierte Özel einen landesweiten Einkaufsboykott von Waren, die von staatsnahen Unternehmen hergestellt werden. Außerdem kündigte die CHP eine Serie neuer Protestaktionen an, darunter wöchentliche Demonstrationen – mittwochs in Istanbul und samstags in wechselnden Städten des Landes.

Die türkische Regierung reagierte mit Härte auf die Proteste. Die Polizei setzte Wasserwerfer, Tränengas und Gummigeschosse ein. Laut Innenministerium kam es zu über 2.000 Festnahmen – darunter viele aufgrund regierungskritischer Beiträge in sozialen Medien. Die Berichterstattung wurde stark eingeschränkt. Präsident Erdoğan brandmarkte die Proteste als eine „Bewegung der Gewalt“ und bezeichnete die Demonstrierenden als „Straßenterroristen“. Auch den Boykottaufruf kritisierte die Regierung scharf und warf der CHP vor, der Wirtschaft und dem Wohl des Landes zu schaden. Gleichzeitig verschärfte die Justiz ihr Vorgehen: Die Staatsanwaltschaft in Istanbul leitete Ermittlungen wegen sogenannter „spalterischer Aufrufe“ in sozialen Netzwerken ein.
 

Zunehmende Autokratisierung 

Bei vielen Menschen in der Türkei wecken die Proteste Hoffnung auf eine politische Wende, doch erreicht das Regierungshandeln mit der Festnahme des führenden Oppositionspolitikers zugleich eine neue Eskalationsstufe bei der Bekämpfung des politischen Gegners. Für viele Beobachter liegt darin ein weiterer Markstein auf dem Weg zu einer elektoralen Autokratie. Das heißt: Es finden zwar Wahlen statt, jedoch unter unfairen Bedingungen, während Gewaltenteilung, Justiz und Grundrechte eingeschränkt werden. Besonders die Medien stehen unter staatlicher Kontrolle, während oppositionelle Kräfte zunehmend kriminalisiert werden.

Ergebnisse der Autoritarismusforschung zeigen, dass sich autokratische Regime auf drei Säulen stützen: Legitimation, Kooptation und Repression. Diese Mechanismen, werden auch in der türkischen Innenpolitik sichtbar: Die Legitimation erfolgt über eine ideologische Mischung aus Hypernationalismus, Panislamismus und Neo-Osmanismus. Repression dient der Schwächung oppositioneller Kräfte und der Kontrolle der Gesellschaft, während Kooptation die Loyalität politischer und wirtschaftlicher Eliten sichert.

Erdoğan und seine Regierung nutzen einerseits patrimoniale Netzwerke und klientelistische Strukturen, um Schlüsselakteure der türkischen Gesellschaft an sich zu binden – insbesondere in den Sektoren Bau, Transport, Medien und Rüstungsindustrie. 
Andererseits zielt die Strategie der Regierung darauf ab, die politische Partizipation regierungskritischer Akteure einzuschränken und ihre Kontrolle dauerhaft zu sichern – nicht zuletzt mit Mitteln der Repression. Eine zentrale Strategie besteht zudem in der Spaltung der Opposition – etwa durch die Verhinderung einer Zusammenarbeit zwischen der kurdischen DEM und der CHP. Eine solche Allianz hatte bei den Kommunalwahlen maßgeblich zum Wahlerfolg der CHP beigetragen.

Die Absetzung demokratisch gewählter Bürgermeister ist ein weiteres Instrument der Regierung und stellt einen direkten Eingriff in demokratische Prozesse dar. Besonders betroffen war bislang die kurdische Partei DEM, deren Bürgermeister unter Terrorismusvorwürfen abgesetzt, inhaftiert und durch staatliche Zwangsverwalter ersetzt wurden. Doch diese Praxis weitet sich offenbar mehr und mehr auf die CHP aus. 
 

Wurzeln der autoritären Tendenzen

Tendenzen zum Autoritarismus sind in der Geschichte des politischen Systems der Türkei nicht neu. Bereits die kemalistischen Eliten strebten danach, Staat und Gesellschaft nach ihren Idealen zu gestalten und ihre Macht zu zementieren. Die AKP macht sich diese Tradition zunutze, formt sie aber insoweit um, als sie ihre islamisch-konservativen Werte durchzusetzen und ihre Kontrolle zu festigen versucht. 

Insofern liegt eine Ursache der autoritären Tendenzen in einem Staats- und Nationenverständnis, das bis zur Gründung der Republik zurückreicht. Der Staat wird als unantastbar und allmächtig betrachtet, während die Rechte des Individuums ihm nach- und untergeordnet werden. 

Werden die Proteste und die Reaktionen der CHP den Beginn eines Wandels markieren? Dies hängt davon ab, ob dadurch Risse in den tragenden „Säulen“ einer zunehmend autoritären Herrschaftspraxis – Legitimation, Kooptation und Repression – entstehen. Zwar haben die Proteste den Druck auf die Regierung erhöht, doch gibt es bislang keine Anzeichen für strukturelle Erschütterungen, die die Stabilität von Erdoğans Herrschaft ernsthaft gefährden könnten.

Prof. Dr. Gülistan Gürbey ist habilitierte Politikwissenschaftlerin und Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin mit Focus auf Friedens- und Konfliktforschung, De-facto-Staaten, Außenpolitik, Autoritarismus, Internationaler Minderheitenschutz mit regionalem Schwerpunkt Nahost, Türkei, Kurden, Zypern.

Sie promovierte an der Universität Bonn beim renommierten Zeithistoriker Prof. Dr. Dr. Karl Dietrich Bracher und habilitierte sich an der Freien Universität Berlin beim renommierten Friedensforscher Prof. Dr. Ernst-Otto Czempiel. 

Zahlreiche Veröffentlichungen in mehreren Sprachen, in renommierten Fachzeitschriften u.a. “Between Diplomacy and Non-Diplomacy. Foreign Relations of Kurdistan-Iraq and Palestine”. Palgrave MacMillan. 2023; „Die Außenpolitik der „neuen Türkei“. Zwischen hegemonialem Anspruch und Anpassungsdruck. Aus Politik und Zeitgeschichte 40-41/2023;  „Geopolitical Shifts and Ethnic Conflicts: The Transnational Kurdish Conflict in the Contemporary Middle East“. International Journal of Violence and Conflict. 2022; „The role of the Kurds in the Middle East: A regional factor of stability or instability?”. Orient 2018; „Between State and Non-State. Politics and Society in Kurdistan-Iraq and Palestine”. Palgrave MacMillan. 2017; „Außenpolitik in defekten Demokratien. Politische Entscheidungsprozesse in der Türkei“. Campus Verlag. 2005.
 

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