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„Einmischung in eigene Angelegenheiten“

Gerade jetzt fehlt seine Stimme: Der Bürgerrechtler und Schriftsteller Jürgen Fuchs, neu gelesen

Jürgen Fuchs, Schriftsteller und Individualpsychologe, war weit mehr als lediglich ein Opfer der DDR-Staatssicherheit. Gerade heute, angesichts wachsender autoritärer Sehnsüchte, könnten seine Bücher Augenöffner sein.

Der Platz vor dem Thüringer Landtag trägt den Namen des Schriftstellers Jürgen Fuchs. Im Mai 1999 im Alter von 48 Jahren an einem ominösen Blutkrebs gestorben, scheint Fuchs inzwischen auch außerhalb Thüringens tatsächlich nur noch ein Name zu sein, an den sich einige vage, oft geradezu sterile Assoziationen knüpfen: DDR-Bürgerrechtler, Stasi-Häftling, „Mahner und Warner“. Selbst die Frage, ob er während der Stasi-Haft 1976/77 tatsächlich – mit der Absicht auf unbeweisbare Langzeitfolgen – Opfer heimlicher Röntgenbestrahlung geworden war oder nicht (Indizien wie die vergleichbaren Krebstode der fast zeitgleich inhaftierten Oppositionellen Rudolf Bahro und Gerulf Pannach sprächen dafür) scheint indes hauptsächlich in die Vergangenheit zu weisen.

Dabei ist kaum ein anderer in der DDR kritisch sozialisierter Schriftsteller heute so aktuell wie Jürgen Fuchs. Denn das häufig so abstrakt benannte „Vergangene“, wir wissen es von William Faulkner, „ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen“. Dass die damals in Thüringen noch oppositionelle PDS (vor ihrem erneuten Namenswechsel zu „Die Linke“) alles versucht hatte, um die Namensgebung des Erfurter Parlamentsplatzes zu verhindern, mag heute als historische Fußnote erscheinen. Dies umso mehr als inzwischen mit der AfD – insbesondere unter ihrem rechtsextremen Thüringer Chef Björn Höcke – eine neue und in den jüngsten Landes-Umfragen sogar stärkste politische Kraft herangewachsen ist, die die „Systemfrage“ stellt, während die jetzt regierende Ramelow-Partei längst ihren Frieden mit eben jenem „System“ gemacht zu haben scheint.

Was aber ist mit jenen Funktionären oder Wählern, Älteren und auch Jüngeren, die auf Nachfrage die DDR weiterhin schönreden – ob nun als vermeintliche „sozialistisch-antikapitalistische Alternative“ oder (die neo-rechte Lesart) als „immerhin diszipliniertes Gemeinwesen“, in dem es kaum Ausländer gab und noch die sogenannte „deutsche Zucht und Ordnung“ herrschte? Jürgen Fuchs, der als in Jena studierter Sozialpsychologe nach seiner Ausbürgerung nach Westberlin zusammen mit seiner Frau Lilo eine Kontakt- und Beratungsstelle für migrantische Jugendliche leitete, hatte lebenslang diese quasi rechts-linke Autoritätssucht beschrieben, und zwar in Ost und West. Dass er dies jedoch nicht etwa in soziologischen Fachschriften tat, sondern in präzis-suggestiver Kurzprosa, in zwei eindringlichen Romanen über die ostdeutsche Armee und in zahlreichen luzid argumentierenden Essays, würde eine Wiederentdeckung doppelt spannend und augenöffnend machen. (Wer wollte, könnte diese Bücher auf entsprechenden Websites antiquarisch erwerben – wobei es natürlich nicht ohne bittere Ironie ist, dass gerade im Land so zahlreicher und oft auch hoch subventionierter Aufarbeitungsprojekte gerade die so wichtigen Bücher von Jürgen Fuchs mit dem Begriff „antiquarisch“ in Verbindung gebracht werden müssen.)

Als sein Erstlingsband „Gedächtnisprotokolle“ 1977 im Hamburger Rowohlt Verlag erschien, befand sich Fuchs noch in Ostberliner Stasi-Haft. Prominente wie Heinrich Böll, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Yves Montand hatten sich damals für die Freilassung des jungen Schriftstellers eingesetzt, der als enger Freund Wolf Biermanns und des oppositionellen Philosophen Robert Havemann ins Fadenkreuz des SED-Staates geraten war.

Heute wieder gelesen, beschenkt uns diese literarisch ungemein dichte, aus der DDR klandestin herausgeschmuggelte Dokumentar-Prosa über Fuchs´ frühe Erfahrungen in der Schule, im Alltag und später dann an der Jenenser Universität gleichsam mit einem ganzen Bündel an Einsichten. Da ist zum einen die beklemmende Konfrontation mit einer Schul- und Universitätswelt, die seit Gründung der DDR in die Hände einer allgegenwärtigen Einheitspartei und ihrer (wie man heute sagen würde) „ideologischen Agenda“ gefallen war. Kollektiv-Denken- und -Verhalten, Fahnenappelle mit dem obligatorischen „Zum Genossen Direktor – die Augen links/rechts“, rote und blaue Halstücher, Aufsätze mit vorgegebenen Schlussfolgerungen – und bei Nicht-Erfüllung Vorladungen zu eben jenem Genossen Direktor oder Institutsleiter, erzwungene “Selbstkritik“ vor der Schüler- und Studentenschaft. Oder sogar ein Ausschluss- und Exmatrikulations-Mechanismus, wie ihn Jürgen Fuchs dann 1975 selbst erfahren hatte.

So weit so schlecht, ließe sich nun sagen – doch was hat dies mit unserer Gegenwart zu tun? Vermutlich mehr als uns recht sein könnte. Da es Jürgen Fuchs, geboren 1950 im vogtländischen Reichenbach, nicht bei der Beobachtung und genauen Beschreibung all dieser Unterordnungs-Riten belassen hatte, sondern stets sich selbst mit in den Blick nahm – dazu seine sächsischen Mitschüler und thüringischen Kommilitonen; im Buch „Vernehmungsprotokolle“ auch seine Stasi-Vernehmer. (Später, in seinen, nach der täglichen Sozialarbeiter-Tätigkeit in Westberlin geschriebenen, NVA-Romanen „Fassonschnitt“ von 1984 und „Das Ende einer Feigheit“ von 1988, sind es dann die „Spind-Kameraden“ aus der gesamten DDR, in deren Reden und Schweigen die peinigende Erinnerung an die eigene Armeezeit 1969/70 wieder auflebt.) Diese Menschen der Jahrgänge um 1950 sind größtenteils weiterhin unsere Zeitgenossen; inzwischen, Anfang siebzig, haben sie Kinder, die die DDR-Realität ebenfalls noch erfahren hatten, und erwachsene Enkel, womöglich sogar Ur-Enkel.

„Welche damaligen Verhaltensmuster werden da eventuell weitergegeben – im selektiven Erinnern, im verschämten oder aggressiven Verschweigen, im rechtfertigend geführten oder gänzlich verweigerten Generationengespräch – oder, ganz aktuell, im verbitterten Schimpfen über „die da oben“, da man ja fallweise in einer „DDR.2000“ lebe oder in einer „Gelddiktatur“, die den Osten benachteilige.“

Marko Martin

Wie und auf welche Weise wird in diesen Familien über das „Vergangene“ gesprochen? Wie wird die Zeit in den Jungen Pionieren, bei der FDJ, in der „Deutsch-Sowjetischen Freundschaft“ (DSF), in der paramilitärischen „Gesellschaft für Sport und Technik“ (GST) oder bei den betrieblichen Kampftruppen erinnert, ganz zu schweigen von der Mitgliedschaft in der SED, in den gleichgeschalteten Blockparteien oder bei Polizei, Armee und Staatssicherheit? Und vor allem: Welche damaligen Verhaltensmuster werden da eventuell weitergegeben – im selektiven Erinnern, im verschämten oder aggressiven Verschweigen, im rechtfertigend geführten oder gänzlich verweigerten Generationengespräch – oder, ganz aktuell, im verbitterten Schimpfen über „die da oben“, da man ja fallweise in einer „DDR.2000“ lebe oder in einer „Gelddiktatur“, die den Osten benachteilige.

Schon in sehr jungen Jahren hatte Jürgen Fuchs ähnliche Zurückweisungen individueller Verantwortlichkeit analysiert – und zwar mit Blick auf die Nazi-Zeit, deren mentale Prägungen er weiter wuchern sah in einer militarisierten DDR und auch in ihrem vermeintlich unpolitischen Alltag. All diese Härte, das begeisterte oder auch nur mürrische Mitmachen, der Sadismus gewisser Lehrer und Armeeausbilder und dazu die Strategien derer, die entweder versuchten, da ebenso mitzutun oder sich wegzuducken als vermeintlich völlig unschuldiger, resigniert abwinkender „kleiner Mann“. Und wenn man – und tatsächlich handelte es sich da vorrangig um eine Männerwelt – genug getrunken hatte und sich unter seinesgleichen wähnte, wurden dann eben auch antisemitische oder sogenannte „Polenwitze“ gerissen, ließ man „Adolf“ hochleben und fühlte sich dabei wie Hauptdarsteller in einer Oppositions-Travestie. Und Jürgen Fuchs hatte – fast als ahnte er, dass er nicht alt werden würde, dass nicht allzu viel Zeit blieb – all dies in allen atmosphärischen Details erspürt und akribisch beobachtet, aufgeschrieben und zueinander in Beziehung gesetzt mit dem Ethos des Chronisten und der Sprachsensibilität des Lyrikers und Prosa-Autors.

Deshalb noch einmal die Frage: Wie viele könnten sich wohl wiedererkennen in diesen Büchern – und welche individuelle und gesellschaftliche Chance böte ein solches Wiedererkennen? Da Fuchs doch keine Zerrbilder gezeichnet hatte, da er doch nie vom hohen Sockel her dekretierte und auch seine eigene Angst, die eigenen Unzulänglichkeiten und menschlich verständlichen Vermeidungsstrategien auf geradezu schmerzlich präzise Weise mit hinein in seine Texte genommen hatte.

In den Jahren nach Mauerfall, als eine ungute Phalanx aus hartleibigen DDR-Unrechtsleugnern und westlichen, sich als „linksliberal“ missverstehenden Relativierern Jürgen Fuchs immer wieder vorwarf, „vergangenheits-fixiert“ zu sein, insistierte dieser unbeirrt auf der heilenden und zivilisierenden Kraft der Wahrheit und des Gedächtnisses, die den Weg weisen könnte in eine weniger hadersüchtige, zerklüftete oder grämlich in sich verkapselte Gesellschaft. Seinen väterlichen Freund und Gulag-Überlebenden Lew Kopelew zitierend, hatte Fuchs bereits im Dezember 1989, zusammen mit Wolf Biermann nun erstmals wieder in der DDR, bei einem Konzert in Leipzig diesen Satz gesagt: „Die Wahrheit ist milde, es kann aber kein Verzeihen und Versöhnen vor und außerhalb der Wahrheit geben.“

„Für wie viele von denen, die heute den Höckes oder Wagenknechts zujubeln oder sich zumindest von ihnen einlullen lassen, könnte deshalb eine Konfrontation mit der eigenen inneren Härte und der verdrängten autoritären Vergangenheit heilsam wirken?“

Marko Martin

Für wie viele von denen, die heute den Höckes oder Wagenknechts zujubeln oder sich zumindest von ihnen einlullen lassen, könnte deshalb eine Konfrontation mit der eigenen inneren Härte und der verdrängten autoritären Vergangenheit heilsam wirken? Und wie viele, die sich in Thüringen und auch anderswo, ja im gesamten Bundesgebiet, als moderate, jedoch „schweigende Mehrheit“ marginalisiert sehen angesichts der grölenden Ideologen von links- und rechtsaußen, könnten bei der Lektüre von Jürgen Fuchs´ Prosabüchern und unprätentiösen Alltagsgedichten neuen Mut finden?

Auch im Gesprächsband „Dumm geschult?“, den er zusammen mit seinem ehemaligen Lieblingslehrer – der nach dem sowjetischen Einmarsch in Prag 1968 als vorgeblicher „Sympathisant“ politisch abgestraft worden war – im Jahr 1992 veröffentlicht hatte, werden eben jene Fragen nach der beunruhigenden Gegenwärtigkeit der Diktatur-Sozialisation gestellt. Wie wäre es also, wenn heutige Lehrer ihren heutigen Schülern zumindest Ausschnitte aus diesen Büchern vorstellen würden, freigegeben zu freier Diskussion? Von Joseph Brodsky gibt es das schöne Diktum: „Wer Charles Dickens gelesen hat, wird unfähig sein, je ein KZ zu leiten.“ Von Jürgen Fuchs ließe sich sagen, eine Lektüre seiner Prosa und Lyrik immunisiert gegen das Bejubeln von Demagogen, gegen das Reden und Denken in Ausrufezeichen, nicht zuletzt auch gegen das klügelnde Wegerklären-Wollen eigener Trägheit und selbstgewählter Blindheit. „Sagen, was ist“ lautete Fuchs´ Devise, und sie wurde ausgesprochen und geschrieben in Augenhöhe und als Angebot, nie jedoch aus jener hoffärtigen Position moralischer Selbstgewissheit, wie man sie aus so manchen Kirchentags- und Sonntagsreden kennt.

Womit wir am Ende dieses Textes tatsächlich wieder in Westberlin und bei jenen ideologisierten Communities wären, deren zombi-hafte Wiederauferstehung als „Woke“ Jürgen Fuchs nicht mehr miterlebt hat. Wer wissen möchte, welches Demokratie-Bashing, einhergehend mit wüstem Antiamerikanismus und der Verharmlosung kommunistischer Verbrechen, in den siebziger Jahren in bestimmten, durchaus auch linksbürgerlichen Milieus zum guten Ton gehörte, lese Jürgen Fuchs bis heute aktuelles Einspruchs-Buch „Einmischung in eigene Angelegenheiten. Gegen Krieg und verlogenen Frieden“.

Überdies erfuhr er als praktizierender Sozialpsychologe quasi jeden Tag, dass Probleme weder ethnisiert werden konnten noch vermeintlich „sozial“ mit immer neuen materiellen Wohltaten gelöst wurden. Und so standen dann an seinem Grab im Mai 1999 außer den engen Freunden Wolf Biermann und Ralph Giordano nicht wenige junge Erwachsene deutsch-türkischer und ex-jugoslawischer Herkunft, die Jürgen und Lilo Fuchs einst als Kinder und „Problemjugendliche“ gefördert und gefordert hatten. Und standen da und ließen ihren Tränen freien Lauf. Denn wen sie hier als entschwundenen Wegbegleiter betrauerten, der war kein salbadernder Gutmensch gewesen, sondern schlicht ein guter und tapferer Mensch – und ein großartiger Schriftsteller, der uns gerade heute wieder viel zu sagen hätte.

Marko Martin, geb. 1970, lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin. Nach dem literarischen Tagebuch „Die letzten Tage von Hongkong“ erschien soeben sein Essayband „`Brauchen wir Ketzer?` Stimmen gegen die Macht“ (Arco Verlag, Wien).

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