Möglichkeiten und Grenzen
Die Fortpflanzungsmedizin verfügt über viele Methoden, um ungewollt Kinderlosen zur ersehnten Nachkommenschaft zu verhelfen. In-vitro-Fertilisation, Intrazytoplasmatische Spermieninjektion, elektiver Single-Embryo-Transfer, Kryokonservierung, Leihmutterschaft, Embryonen-, Eizell- und Samenspenden, um nur einige zu nennen. Therapeutische Künstlichkeit statt biologischer Natürlichkeit. So wie bei allen medizinischen Eingriffen therapiert man Krankheiten als Abweichung von der biologischen Norm und lindert das damit verbundene Leid.
In Deutschland wurden bis heute mehr als 340.000 Kinder nach In-vitro-Fertilisation geboren.[1] Trotz jahrzehntelanger Erfolge und bewährter Routinen gibt es rund um die Fortpflanzungsmedizin, stärker als in anderen medizinischen Fachgebieten, viele Kontroversen. Meist geht es um ethische Fragen am Beginn des menschlichen Lebens: Wann beginnt personales menschliches Leben? Dürfen Embryonen in vitro erzeugt werden? Was geschieht mit Embryonen, die nicht zur Herbeiführung einer Schwangerschaft genutzt werden?
Kritiker stellen die Legitimität der künstlichen Befruchtung in Frage – teils aus Sorge, der im Grundgesetz garantierte Lebensschutz werde zugunsten des (ebenfalls grundgesetzlich verankerten) Selbstbestimmungsrechts relativiert, teils mit dem Verweis auf Natur, Natürlichkeit und eine göttliche Schöpfungsordnung, die eine Zeugung nur auf natürlichem Wege, nicht aber im Reagenzglas erlaube.
Die Fortpflanzungsmedizin ergänzt, wo es medizinisch indiziert ist, die natürliche Fortpflanzung, indem sie die Zeugung außerhalb des Körpers in die Petrischale verlegt. Verwendet man Eizell- und Samenspenden, geht das Artifizielle noch weiter, wird doch die genetische Verwandtschaft von Eltern(-teil) und Kind aufgehoben. Auch die vorgeburtliche Diagnostik hat die Schwangerschaft nachhaltig verändert – mit vielen positiven, aber auch negativen Effekten.[2] Und schließlich: Noch gibt es keine künstlichen Uteri, die Schwangerschaft und Geburt in vitro erlauben. Doch die – in Deutschland verbotene, in vielen Ländern zulässige – Leihmutterschaft macht es möglich, das Austragen eines Kindes an andere Frauen zu delegieren. Frauen werden Mütter, ohne dass ihre Körper eine Schwangerschaft durchleben. Sexualität, Nachkommenschaft und Elternschaft verändern sich. Aus Sicht der Kritiker auf dystopische Weise, die an Aldous Huxleys „Brave New World“ erinnere.
Ist die Ablehnung der Fortpflanzungsmedizin gerechtfertigt? Oder kann man mit gesetzlichen Regelungen ungewollt Kinderlosen helfen und gleichzeitig Fehlentwicklungen und Missbrauch verhindern?
Trotz vieler offener Fragen, die Chancen der Fortpflanzungsmedizin überwiegen. Eine generelle Ablehnung, wie sie viele Kritiker vertreten, ist nicht gerechtfertigt. Fachleute aus Medizin, Ethik, Recht, Sozialwissenschaften und Politik, die die sich für Fortpflanzungsmedizin einsetzen, sind für mögliche Gefahren keineswegs blind, gewichten aber die Chancen sehr viel stärker. Leidminderung und Heilung als hohes ethisches Ziel der Medizin begründen ihre Position. Die Fortpflanzungsmedizin hilft bei ungewollter Kinderlosigkeit und sorgt für einen guten Verlauf von Schwangerschaften.
Lückenhafte Regeln
Vor mehr als 30 Jahren trat des Embryonenschutzgesetz in Kraft. Es regelt viele fortpflanzungsmedizinische Sachverhalte. Doch in Anbetracht des medizinischen Fortschritts reicht es nicht mehr aus. Neuere Entwicklungen in Forschung und medizinischer Anwendung sind nicht erfasst – Regelungslücken sind entstanden. In der Folge ist eine optimale medizinische Versorgung auf dem aktuellen Forschungsstand nicht in allen Fällen möglich. Daher gibt es Bestrebungen, die Fortpflanzungsmedizin neu zu regeln,[3] um den Stand der Wissenschaft und die pluralen Werthaltungen unserer offenen Gesellschaft angemessen zu berücksichtigen. Kein leichtes Unterfangen: Die Fortpflanzungsmedizin braucht Freiräume, um helfen zu können; doch auch Grundwerte, wie der Lebensschutz, müssen gesichert werden. Einfache Lösungen gibt es nicht.
In Fachkreisen werden die widerstreitenden Positionen seit Langem diskutiert, die Pro- und Kontraargumente liegen auf dem Tisch. Wie Betroffene – außerhalb der Expertenzirkel –über Fortpflanzungsmedizin denken, ist weit weniger klar: Was wünschen sich ungewollt kinderlose Frauen, Männer und Paare? Was treibt Menschen um, die sich um den sozialen Zusammenhalt, verbindende Werte und das Humane in der Gesellschaft sorgen?
Studie zum Meinungsbild
Die Konrad-Adenauer-Stiftung und die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina sind diesen Fragen in einem gemeinsamen Projekt nachgegangen. Wie steht man in der Bevölkerung zur Fortpflanzungsmedizin? Sechs Wochen haben wir eine Diskussionsplattform im Internet freigeschaltet, die jedem Interessierten offenstand. Zu allen Themen wurden Hintergrundinformationen geliefert, um faktenbasiert diskutieren zu können.
Mit mehr als 1.500 Diskussionsbeiträgen war die Resonanz groß. Das Ergebnis haben wir in einem Diskussionspapier[4] zusammengefasst. Es ist nicht repräsentativ, vermittelt aber erste Einblicke, welche Vorstellungen und Erwartungen mit der Fortpflanzungsmedizin verbunden werden. Wie auch in den Expertenkreisen gab es eine deutliche Diskrepanz zwischen Befürwortern und Kritikern; ausgleichende Positionen fanden sich kaum. Die Bereitschaft, auf Gegenargumente einzugehen, Kompromisse zu finden, war gering. So eifrig auf der Plattform diskutiert wurde, um die Faktenkenntnis war es nicht gut bestellt. Und das, obwohl wir Informationen zur Verfügung gestellt hatten.
Als vor dreißig Jahren das Embryonenschutzgesetz diskutiert wurde, waren die Positionen ähnlich polarisiert, wie sie es heute bei unseren Diskutanten und den Experten sind. Aus unserer Sicht braucht es mehr Information und Aufklärung, um eine seriöse Debatte führen zu können, nicht nur unter Fachleuten, sondern auch in der Öffentlichkeit, denn es geht um gesellschaftliche Grundfragen.
Dr. Norbert Arnold studierte Biologie und Philosophie. Nach Forschungstätigkeiten als Molekularbiologe an den Universitäten in Gießen und Zürich wechselte er 1993 zur Konrad-Adenauer-Stiftung und ist seither in unterschiedlichen Funktionen in der Politikberatung tätig. Neben gesellschaftspolitischen Fragen befasst er sich vor allem mit Wissenschafts- und Forschungspolitik sowie Lifesciences, Bio- und Medizinethik.
[1] Deutschen IVF-Register: Jahrbuch 2019/2020. Düsseldorf 2021. Seite 4. www.deutsches-ivf-register.de/perch/resources/dir-jahrbuch-2020-sonderausgabe-fuer-paare.pdf
[2] Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina / Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.): Planbare Schwangerschaft – perfektes Kind. Wechselwirkungen von Medizin und Gesellschaft. Halle / Berlin 2018. www.kas.de/documents/252038/4521287/Diskussionspapier+Planbare+Schwangerschaft+-+perfektes+Kind.pdf/8bc2f2b6-d0c9-9c67-0d49-23684508e69e?version=1.1&t=1550044799944
[3] Themenseite der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina: Fortpflanzungsmedizin: Regelungs- und Diskussionsbedarf. www.leopoldina.org/themen/fortpflanzungsmedizin/
[4] Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina / Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.): Ein öffentlicher Dialog zur Fortpflanzungsmedizin. Halle / Berlin 2023. www.kas.de/documents/252038/22161843/Ein+%C3%B6ffentlicher+Dialog+zur+Fortpflanzungsmedizin.pdf/2e3dd7f9-3d73-8de8-7085-7738a9b563b3?version=1.0&t=1693834016265