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China und die Eindämmung von Sars-CoV2

Am 23. Januar 2020 wurde die Stadt Wuhan wegen des Ausbruchs der Covid-19-Pandemie unter Quarantäne gestellt. Inzwischen herrscht in China wieder viel Normalität, während westliche Länder mit der zweiten und dritten Welle kämpfen.

In Deutschland herrscht der Eindruck vor, Corona sei in China kaum mehr ein Thema. Auf den ersten Blick ist dem auch so: Man kann quer durchs Land reisen, die Restaurants sind gut gefüllt, die Menschen gehen mit einer gewissen Leichtigkeit ihrem Alltag nach, in großen Tagungshotels finden Konferenzen statt. Doch untergründig schwelt das Trauma der Krise weiter: In Shanghai leben 26 Millionen Einwohner. Als Anfang November 2020 im Shanghaier Stadtteil Pudong drei (!) neue Corona-Fälle festgestellt wurden, war die Aufregung grenzenlos. Man wurde aufgefordert, einen Aufenthalt in Pudong zu vermeiden. Über Nacht galt der Stadtteil als Risikogebiet, in ganz China wurde man darauf angesprochen, in einigen Provinzen waren Reisende aus Shanghai unerwünscht. Wer reiste, musste in den Hotels gesonderte Formulare ausfüllen und erklären, nicht in Pudong gewesen zu sein. Das Beispiel zeigt: In China schlägt jeder einzelne Coronafall Wellen, ist ein großes Thema, ja ein Politikum.


Nach offiziellen Angaben hat China die Situation seit dem letzten Sommer weitgehend im Griff. Nun ist man alarmiert, weil aus der Provinz Hebei, die Peking umschließt, ein stärkerer Anstieg vermeldet wird: am 14. Januar 2021 81 Infektionen in Hebei und 138 landesweit. Auch wurde seit Monaten wieder ein Todesfall dokumentiert. Angesichts der nie verschwundenen unterschwelligen Beunruhigung ist wohl bald wieder mit verschärften Restriktionen zu rechnen.


Die Lage ist derzeit dennoch unvergleichlich besser als in Deutschland und in der Europäischen Union. Mit der Wirtschaft geht es aufwärts. Auch internationale Unternehmen geben an, das Vorjahresniveau wieder erreicht zu haben. Als nahezu einziges Land der Welt wird China 2020 ein Wirtschaftswachstum verzeichnen. Was lief hier anders? Auch mit Blick auf die Systemkonkurrenz müssen wir uns die unbequeme Frage gefallen lassen, warum ein autoritär regiertes Land eine Krise derartigen Ausmaßes offenbar besser in den Griff bekommen hat als westliche Staaten, die gegen die zweite oder dritte Pandemiewelle ankämpfen?

„Von China lernen” ist wegen der politischen Verfasstheit des Landes ein schwieriges Unterfangen und erst recht kein erstrebenswertes Motto. Doch es drängt sich die Frage auf, ob die liberalen Gesellschaften an einer Art Hybris leiden, die uns erfolgreiche asiatische Strategien gegen Corona übersehen lässt. Es lohnt jedenfalls, sich auf Beispiele wie in Südkorea, Japan oder Singapur einzulassen und Erfahrungen aus Taiwan und Hongkong zu nutzen. Auch China bietet nüchternes Anschauungsmaterial, ohne es gleich zum Vorbild zu erheben.
Die Erfolge in der akuten Krisenbekämpfung, auf die im Folgenden noch einzugehen ist, gilt es anzuerkennen. Und doch dürfen die – systembedingten – Kommunikationsdefizite über die Gefährlichkeit des Virus nicht unerwähnt bleiben: Erste Vermutungen über die Existenz eines neuartigen Virus gab es bereits zu den Militärspielen in Wuhan im Sommer 2019. Eine frühzeitige Bekämpfung seiner Ausbreitung unterblieb; auch weil die lokalen Behörden wohl aus Furcht, schlechte Nachrichten zu überbringen, die ihnen übergeordneten Ebenen nicht ausreichend informierten. Die spätere Abberufung der politisch Verantwortlichen in Wuhan war ein Indiz dafür. Ende Dezember 2019 informierte der Wuhaner Augenarzt Li Wenliang Kollegen über atypische Lungenentzündungen in seinem Krankenhaus. Er wurde von den Behörden zum Schweigen gebracht und erst nach seinem Covid-bedingten Tod und einem Aufschrei in den sozialen Medien rehabilitiert.


Bis heute wird vermieden, Wuhan in Zusammenhang mit Corona zu erwähnen. Möglicherweise als Reaktion auf Trump’sche Rhetorik vom „Chinese Virus“ bemüht man sich, den Ursprung der Pandemie jenseits der eigenen Grenzen zu verorten. So wird nahezu jeder der wenigen neuen Fälle mit dem Ausland in Verbindung gebracht. Chinas Unterstützung anderer Länder bei der Pandemiebekämpfung wird dagegen hervorgekehrt. Die teils überhöhten Preise und Qualitätsmängel von Masken oder Covid-Tests lässt man dabei unter den Tisch fallen. Die dramatischen Entwicklungen in vielen Ländern der Welt wirken wie Wasser auf die chinesischen Propaganda-Mühlen. Die Veröffentlichung eigener Fehlleistungen wird jedoch sanktioniert. So ist die seit Mai 2020 inhaftierte Bloggerin Zhang Zhan, die über die Ausbreitung des Virus aus Wuhan berichtet hatte, nach Angaben ihres Anwalts Ende des vergangenen Jahres zu vier Jahren Haft verurteilt worden. Ein Schritt zu mehr Aufklärung scheint hingegen zu sein, dass die chinesische Führung nun doch Experten der Weltgesundheitsorganisation nach Wuhan reisen ließ. Sie sollen vor Ort untersuchen, wie sich das Coronavirus ausgebreitet hat.


Auch die erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Lockdowns sind kein Gegenstand der Diskussion. So konnten mehrere hundert Millionen Wanderarbeiter, die genaue Zahl ist unbekannt, die zum chinesischen Neujahrsfest Ende Januar 2020 in ihre Heimatregionen reisten, nach Verhängung des Lockdowns nicht an ihre Arbeitsorte zurückkehren. Da sie in der Regel keine soziale Absicherung genießen, bedeutet das für sie und ihre Familien eine teils bis heute andauernde finanzielle Notlage. Erwähnt werden müssen auch die enormen Ressourcen, die bis heute für die Pandemie-Bekämpfung aufgewendet werden.


Trotz der genannten Einschränkungen darf man die Erfolge der chinesischen Strategie bei der Eindämmung der Pandemie nicht geringschätzen. Im Gegenteil: Man sollte sich die Mühe machen zu verstehen und zu lernen, ohne den politischen Stil zu kopieren. China hat anders als Deutschland nicht auf ein Abflachen der Kurve gesetzt, es hat die Kurve auf Null gebracht. Möglich war das nur mit rigorosen Schritten, die in westlichen Ländern nicht infrage gekommen wären, auch weil sie in der Kürze der Zeit nicht hätten verfügt werden können. Es bleibt festzuhalten: Die Maßnahmen in China haben die Ausgangslage bei der Verhinderung einer zweiten Welle dramatisch verbessert.


Und diese gute Ausgangsbasis hat China seit der schrittweisen Öffnung des öffentlichen Lebens ab März 2020 bewahren und ausbauen können. Spätestens von da an hätten sich andere Länder am chinesischen Vorgehen orientieren können, handelt es sich doch größtenteils um niedrigschwellige Eingriffe, die westliche Gesellschaften zumindest in Betracht hätten ziehen können. Die chinesische Bevölkerung folgt den staatlichen Vorgaben bereitwillig und überführt sie in alltägliche Verhaltensänderungen. Und das ist ein entscheidender Faktor: Die Verhaltensänderungen sind Alltag geworden. Anders als in Deutschland haben die Chinesen nicht das Gefühl, sie sich abringen zu müssen, um eine bestimmtes Maß akzeptabler Fallzahlen zu erreichen. Mag sein, dass die weniger individualistischen, konfuzianisch geprägten Einstellungen hier von Vorteil sind. Doch wesentlicher ist, dass die Anordnungen wirkungsvoll sind und als Voraussetzung verstanden werden, sich eigene Handlungsspielräume wieder zu eröffnen.


Im Winter 2020/21 sind im öffentlichen Raum wieder Masken zu sehen, allerorten und von jedermann getragen: im Bus und auf dem Fahrrad, im Taxi oder auf dem Weg in Büro, in Hotels und Restaurants. Überall, wo sich größere Menschenströme bewegen, wird darauf geachtet, dass sie sich möglichst nicht begegnen. Am Flughafen, in der Metro oder im Museum steuern Gitter die Ströme der Reisenden oder Besucher. Betritt man öffentliche Gebäude oder private Wohnanlagen, wird wieder vielfach die Temperatur gemessen: Die im strikten Lockdown aufgebaute Infrastruktur wurde erneut in Gang gesetzt. Der chinesische Gesundheitscode, im weiteren Sinne vergleichbar mit der deutschen Corona-App, wird umfassend und verpflichtend genutzt. Er erfasst sämtliche Bewegungsdaten. Da Telefonnummern, Pass- und Bankdaten zentralisiert mit dem Code verbunden sind, ist für jeden ein 14-tägiges lückenloses Profil verfügbar. Es wird bei jedem Abruf des Codes geprüft: Wer sich innerhalb dieser vierzehn Tage nicht in einem Risikogebiet aufgehalten hat, gilt als unbedenklich – sein Code ist grün. Wer aus privaten oder dienstlichen Gründen in eine andere Provinz reist, zeigt am Flughafen oder am Bahnhof und später im Hotel seinen Code. Dass jede Provinz ihren eigenen Code nutzt, bereitet keine Probleme. Das hat zwei Gründe: Die Codes greifen auf die zentralisierten Bewegungsdaten zurück, und sie sind mit den populären Plattformen WeChat oder Alipay verbunden und lassen sich direkt aus diesen Apps starten. Man stelle sich vor, WhatsApp oder Apple Pay wären zentrale Plattformen zur Nutzung der deutschen Corona App. In Deutschland würden schwere Datenschutzbedenken geltend gemacht, doch in China hat der Gesundheitsschutz im Lichte der Pandemiebekämpfung absoluten Vorrang. Das hat natürlich auch Schattenseiten: Die an Schamlosigkeit grenzende Bereitschaft, die über Jeden verfügbaren, verbundenen und zentralisiert abgelegten Daten auch in anderen Kontexten zu nutzen, ist beängstigend. Bemerkenswert ist, dass sich dagegen zunehmend juristischer und auch zivilgesellschaftlicher Widerstand erhebt, wie ein Fall aus der nahe Shanghai gelegenen Stadt Hangzhou verdeutlicht. Der dortige Zoo hatte – nicht allein Corona-bedingt – die Daten der Gesichter seiner Besucher gespeichert, was später gerichtlich als rechtswidrig eingestuft worden ist. Dennoch könnte man bezogen auf die deutsche Corona-App und den Einsatz von Technologie zur Eindämmung einer Pandemie sagen: Ob ein System effektiv eingesetzt wird, ist weniger eine Frage von totalitär oder liberal, sondern von pragmatisch oder dogmatisch.


Auch eine weitere Strategie, die in Deutschland immer wieder diskutiert worden ist, hat sich in China als hilfreich erwiesen: die enorme Erhöhung der Testkapazitäten. Sobald einzelne Fälle auftreten, wird getestet – schnell, umfassend, in großen Proben und mit einem zügigen Ergebnis, das wiederum mit den Daten des Gesundheitscodes verknüpft wird. Jeder neue Fall wird so präzise lokalisiert, und in Kombination mit dem Gesundheitscode können Kontaktpersonen detailliert nachverfolgt werden. Orte mit Infektionsgeschehen riegelt man rigoros ab. Das führt bisweilen zu bizarren Auswüchsen, wie das Beispiel eines Taxifahrers zeigt: Nachdem er seinen Fahrgast zu einem abgeriegelten Wohnblock gefahren hatte, wurde er aufgefordert, eine zweiwöchige Quarantäne in diesem Block zu verbringen. Hat sich die Risikosituation aufgelöst, normalisiert sich das Leben in den vormals abgeriegelten Wohnquartieren oder Stadtteilen wieder schnell. Für die Menschen ist konkret erfahrbar, dass die Maßnahmen wirkungsvoll sind. Und sie werden als angemessen eingeschätzt.


Am Beispiel der Pandemiebekämpfung zeigt sich einmal mehr: Verständnis für China bedeutet nicht Einverständnis mit China. Es geht nicht darum zu kopieren, sondern zu „kapieren“. Keineswegs alle, aber einige der Instrumente zur Pandemiebekämpfung in China können Deutschland und Europa Wege eröffnen und auch jenseits des anlaufenden Impfprozesses den Weg aus der Krise erleichtern.

 

Schanghai, 14. Januar 2021

 

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