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Transatlantische Zusammenarbeit in der Verantwortung von Regierungen und Parlamenten

Am 20. Januar soll der neue US-Präsident Joe Biden vereidigt werden. Was bedeutet es für das transatlantische Verhältnis?

„We will be back“, hatte Joe Biden auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2019 versprochen und meinte damit in erster Linie Amerikas unverzichtbare Führungsrolle in internationalen Foren. Weder die transatlantische Zusammenarbeit noch der Multilateralismus gehörten unter Präsident Donald Trump zur außenpolitischen Prioritätenliste Washingtons. Der Rückzug aus dem Pariser Klimagipfel oder dem Iran-Abkommen, Zweifel an der NATO – das waren keine Marginalien, sondern Entscheidungen und Äußerungen, die sowohl Betriebsstörungen im transatlantischen Verhältnis wie auch grundsätzlich andere Orientierungen offengelegt haben. Auch an der öffentlichen Meinung sind diese Differenzen nicht spurlos vorbeigegangen: Nach aktuellen Umfragen halten nur noch gute 14 v. H. der in Deutschland Befragten die USA für die einzige zuverlässige Führungsmacht in der Welt und noch weniger bezeichnen Amerika als den besten Freund Deutschlands.

Wenn sich aber in diesen Tagen – noch vor der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten – in Washington der 117. Kongress konstituiert, dann verbindet sich damit die ermutigende Erfahrung, dass sich die Parlamente trotz mancher wechselseitiger Enttäuschungen als krisenresistente Kommunikationskanäle bewährt haben. Der US-Kongress hat sich 2019 mehrfach zum transatlantischen Bündnis bekannt und die Absicht des Weißen Hauses zum unilateralen Rückzug aus der NATO konterkariert. Nancy Pelosi, die Sprecherin des Repräsentantenhauses, führte im Februar 2019 eine Delegation des Kongresses in Europa an und bekräftigte das Engagement der USA für die transatlantischen Beziehungen. Demonstrativ hat das Repräsentantenhaus den NATO Generalsekretär Jens Stoltenberg im April 2019 eingeladen, eine Rede in einer gemeinsamen Sitzung beider Häuser zu halten. Auch beim angekündigten Abzug US-amerikanischer Truppen aus Deutschland fungiert der Kongress als Korrektiv in den transatlantischen Beziehungen, wie der Beschluss zum Verteidigungshaushalt im Dezember 2020 zeigte, den der Kongress vor wenigen Tagen mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit gegen das Veto des Präsidenten Trump verteidigte. Dies hebt die Unstimmigkeiten zwischen den europäischen und amerikanischen Parlamenten nicht auf – vor allem in Hinblick auf den militärischen Beitrag der Europäer und die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2. Doch auch bei strittigen Punkten achten die Parlamentarier darauf, Kompromissbereitschaft zu signalisieren. So hat der Kongress im Dezember 2020 mit Bezug zu den US-Sanktionen im Zusammenhang mit Nord Stream 2 immerhin Strafmaßnahmen gegen Partnerstaaten ausgeschlossen und bei Sanktionen gegen beteiligte Firmen eine Konsultation mit den Europäern gefordert. Diese Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, dass der Deutsche Bundestag und das Europäische Parlament enge Beziehungen zum US-amerikanischen Kongress unterhalten. Der internationale Austausch zwischen Abgeordneten ist offener, direkter und oft auch unabhängiger, jedenfalls vielseitiger als auf Regierungsebene. Wir sollten daher verstärkt diesem transatlantischen Kommunikationskanal mehr Bedeutung zukommen lassen, denn er ist mehr als nur eine Flankierung der Außenpolitik der Regierung. Ende August 2020 haben die Parlamentarierinnen und Parlamentarier diesseits und jenseits des Atlantiks im Rahmen des Transatlantic Legislators‘ Dialogue versichert, als gewählte Vertreterinnen und Vertreter ihrer Länder einander weiterhin zuzuhören und verantwortlich zusammenzuarbeiten. Sie bezeichneten sich als den „Klebstoff, der diese wichtige Allianz zusammenhält“.

Klebstoff ist wichtig; aber es braucht auch Substanz, auf der der Klebstoff haften kann. Es muss auf beiden Seiten des Atlantiks den erkennbaren Willen und das Interesse geben, die Allianz weiterzuführen. Die gute Nachricht ist, dass dies der Fall zu sein scheint. Aber an einer Generalüberholung des transatlantischen Bündnisses kommen wir nicht vorbei.

Es ist deshalb ein ermutigendes Zeichen, dass in Europa ernsthaft diskutiert wird, wie es sich außen- und sicherheitspolitisch künftig aufstellen will. Die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer empfahl jüngst, „Illusionen über eine europäische strategische Autonomie“ zu beenden. Denn offensichtlich ist: Ohne die militärischen Fähigkeiten der USA können sich auf absehbare Zeit weder Deutschland noch Europa wirkungsvoll schützen. Die USA stellen den überwiegenden Teil der NATO-Fähigkeiten, sie spannen ihren nuklearen Schutzschirm über Europa und im Ernstfall sind es auch US-amerikanische Streitkräfte, ohne die die baltischen Staaten nicht zu verteidigen sind. Für die Sicherheit Europas sind die USA daher existenziell und unersetzbar.

Der französische Präsident Emmanuel Macron betont zurecht, dass die Vereinigten Staaten Europa nur dann als Partner akzeptieren, wenn es über entsprechend schlagkräftige eigene militärische Fähigkeiten verfügt. Eine belastbare sicherheits- und verteidigungspolitische Autonomie kann es angesichts globaler Herausforderungen und Bedrohungen zwar nicht geben; dennoch ist das Argument Macrons nicht von der Hand zu weisen: Europa ist als Partner für die USA umso attraktiver, je größer die europäischen Machtmittel sind – im wirtschaftlichen, aber auch im militärischen Bereich. Deshalb muss auch Deutschland verstärkt in die eigenen militärischen Fähigkeiten investieren. Dabei spielen das Erreichen des 2-Prozent-Ziels der NATO und der erklärte Weg dorthin eine entscheidende Rolle. Außerdem muss Deutschland die enge Kooperation mit den US-Streitkräften wahren und vertiefen. Amerikanische Truppen in Deutschland und Europa sowie nukleare Teilhabe sind in unserem strategischen Interesse. Schließlich muss Europa als außen- und sicherheitspolitischer Akteur so schnell wie möglich entschluss- und durchsetzungsfähiger werden. Die EU-Verteidigungsinitiative für die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit PESCO müssen wir konsequent und entschieden vorantreiben, um militärische Fähigkeitslücken zu schließen, die europäischen Verteidigungshaushalte zu erhöhen und in Forschung und Entwicklung zu investieren – auch wenn es nicht einfacher geworden ist, dies angesichts der erheblichen Ausgaben zur Überwindung der Corona-Pandemie und ihrer Folgen durchzusetzen. Mit Blick auf Budgetfragen stehen in erster Linie der Bundestag und die anderen europäischen Parlamente in der Pflicht, einen entscheidenden Beitrag für eine verantwortungsvolle und nachhaltige Außen- und Sicherheitspolitik zu leisten.

Es liegt an den europäischen Regierungen, aber auch an den jeweiligen Parlamenten, die Uneinigkeit und damit das mangelnde europäische Gewicht in Fragen der internationalen Politik zu überwinden. Das ist unsere Verantwortung, nicht die der USA. Die Trump-Administration diente in den letzten vier Jahren allzu oft als willkommene Ausrede für so manches hausgemachte europäische Problem. Denn dem amerikanischen Präsidenten die Schuld in die Schuhe zu schieben, das war der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Europäer meist einigen konnten, obwohl es die USA sind, die ein weltweit einsatzbereites Militär finanzieren, das globale Handelswege schützt, von dem Europa und insbesondere die deutsche Wirtschaft seit Jahrzehnten profitiert.

Wenn Europa nicht bald gemeinsame Antworten auf eine ganze Reihe von Fragen findet, wird der Kontinent nicht mehr gestaltender Akteur, sondern nur noch ein Austragungsort von internationaler Politik sein. Russland greift in Wahlen ein - nicht nur in Europa - und betreibt eine ungenierte Machtpolitik an unseren Grenzen. Die Bürgerkriege in Syrien und Libyen sind nach wie vor ungelöste Krisen in direkter Nachbarschaft. China expandiert militärisch und wirtschaftlich, investiert in europäische Infrastruktur und versucht, einen Keil zwischen die Mitgliedsstaaten der EU und die USA zu treiben.

Mit Russlands aggressiver Außenpolitik und Chinas Aufstieg sieht sich das westliche Bündnis wieder mit strategischen Herausforderern konfrontiert; wir befinden uns längst in einem geopolitischen Wettbewerb. Eine Äquidistanz zu China oder Russland und den USA kann es dabei nicht geben. Die USA sind unser Verbündeter, China und Russland sind es nicht. Gemeinsam mit den USA müssen wir deshalb Instrumente und Wege finden, mit beiden umzugehen, ohne aber die Tür für eine verlässliche Zusammenarbeit zuzuschlagen. Das erfordert von Europa und vom westlichen Bündnis mehr Kohäsion und eine bessere Koordination. Dazu kann auch eine Aufweichung des Einstimmigkeitsprinzips in der NATO oder die Möglichkeit zur verstärkten Zusammenarbeit von einigen Mitgliedern beitragen, wie es jüngst in einem amerikanisch-deutschen Reformpapier unter dem Vorsitz des früheren US-Diplomaten Wess Mitchell und dem ehemaligen Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière gefordert wurde. Europas Hauptstädte, Brüssel und Washington müssen in mehr Bereichen enger zusammenarbeiten und eine gemeinsame Front bilden – das gilt sowohl für die Regierungen als auch für die Parlamente: Vom Klimaschutz über die Achtung der Menschenrechte bis hin zum Datenschutz, der Digitalisierung und der Bekämpfung von Pandemien müssen wir uns abstimmen, aufeinander Rücksicht nehmen und gemeinsame Lösungen entwickeln. Nicht zuletzt die Wiederaufnahme der TTIP-Verhandlungen und der überfällige Abschluss eines transatlantischen Handelsabkommens würden ein klares Signal darstellen – gerade vor dem Hintergrund der von China mit 14 asiatischen Staaten initiierten größten Freihandelszone der Welt, die mehr Mitglieder, aber weniger anspruchsvolle Vereinbarungen gefunden hat als unsere Erwartungen an eine liberale Handelsordnung. Noch akuter auf der transatlantischen Agenda drängt die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2; die schwerwiegenden US-amerikanischen Bedenken gegen das deutsch-russische Projekt werden auch von vielen unserer europäischen Partner geteilt. Nichts spricht für die Erwartung, dass der neue amerikanische Kongress, Senat wie Repräsentantenhaus, in dieser Frage eine andere Position beziehen wird, und wenn die Europäer sich zu Recht extraterritoriale Interventionen der Vereinigten Staaten verbitten, sollten sie alle Anstrengungen unternehmen, endlich eine einvernehmliche Lösung in dieser Frage zu finden.

Zu einer stabilen Beziehung gehört Reziprozität. Militärisch können wir die Vereinigten Staaten zwar mittel- und langfristig entlasten, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Europa muss sich deshalb auf seine Stärken konzentrieren und seine wirtschaftliche Macht in Form von Handelsabkommen und Entwicklungshilfe strategischer ausspielen, um Staaten in unserer Nachbarschaft an uns zu binden und nicht chinesischer Einflussnahme zu überlassen.

Die Corona-Pandemie hat gerade gezeigt, wie China einen Kampf der Narrative befördert, um Demokratien mit ihren der Pandemiebekämpfung vermeintlich hinderlichen Grundrechten und pluralistischen Gesellschaften zu diskreditieren. Um das Ansehen Europas in der Welt zu festigen, dürfen und sollten die nationalen europäischen Volksvertretungen und das Europäische Parlament selbstbewusster auftreten: Ja, in parlamentarischen Demokratien wird gezweifelt, gestritten und debattiert; es wird um Entscheidungen gerungen und es werden Kompromisse geschlossen. Aber über kurz oder lang ist die parlamentarische Entscheidungsfindung überlegen im Krisenmanagement, nicht, weil in Demokratien alle Entscheidungen immer richtig und sofort zielführend sind; aber auf der Basis von unterschiedlichen Einsichten und Interessen gemeinsam verbindliche Entscheidungen zu formulieren, die durch Mehrheiten legitimiert und durch neue Mehrheiten korrigiert werden können, verhindert verlässlicher als autoritäre Verfahren voreilige Festlegungen und nachhaltige Irrtümer. Dabei handelt es sich um eine Errungenschaft der westlichen Zivilisation, die Europa und die USA miteinander verbindet, und die deshalb viel stärker und viel öfter in den Vordergrund gestellt werden sollte.

Gleichzeitig gilt es, die Zivilgesellschaft gegen ausländische Einflussnahme, die unsere Demokratien unterminieren, zu imprägnieren. In diesem Zusammenhang wird auch der politischen Bildung eine noch größere Bedeutung zukommen. Dabei können auch die deutschen politischen Stiftungen eine wichtige Rolle spielen. Durch ihr weites Netz an Auslandbüros tragen sie auch zur zivilgesellschaftlichen Verbindung auf beiden Seiten des Atlantiks bei.

Die Welt braucht weiterhin ein verlässliches und handlungsfähiges westliches Bündnis, um Frieden und Freiheit, Sicherheit und Wohlstand zu gewährleisten. Dabei sind die amerikanischen und europäischen Interessen nicht immer gleich, aber unsere politischen Kulturen kongruent und die gemeinsame Wertebasis solide. „Wie wir wissen, gibt es in jeder Partnerschaft Meinungsverschiedenheiten“, haben die europäischen und amerikanischen Parlamentarier bei ihrem digitalen Treffen im August 2020 erklärt. „Wenn das passiert, arbeiten wir hart daran, unsere Differenzen zu lösen, und manchmal müssen wir darin übereinstimmen, nicht übereinzustimmen. Aber unsere Freundschaft, unsere gemeinsame Geschichte und unsere Werte sind die Grundlage dieser Partnerschaft, die wie keine andere Allianz auf der Welt ist.“ Deshalb müssen wir nun hart daran arbeiten, das erfolgreichste Bündnis der neueren Geschichte in die Zukunft zu führen. Dabei dürfen wir den jeweiligen Parlamenten auf beiden Seiten des Atlantiks durchaus mehr zutrauen und sollten sie noch stärker als bisher in die Pflege und Weiterentwicklung der transatlantischen Partnerschaft einbeziehen. Das selbstbewusste Auftreten des amerikanischen Kongresses gegenüber der eigenen Regierung hätten sich manche Beobachter früher gewünscht. Und auch vom Deutschen Bundestag erwarten nicht wenige Wähler einen stärkeren Gestaltungswillen. Die Bewältigung der Herausforderungen und die Wahrnehmung der Chancen für die europäisch-amerikanischen Beziehungen ist eine Gemeinschaftsaufgabe der Regierungen wie der Parlamente. Mehr noch als die Regierungen können und müssen die Parlamente die Bandbreite der Erwartungen in ihren jeweiligen Ländern aufgreifen und in öffentlicher Debatte zu verbindlichen Ergebnissen führen – und über die unverzichtbare Rivalität konkurrierender Parteien hinaus gegen exekutiven Übermut wie gegen Extremisten, Populisten und Fundamentalisten von rechts wie links die Solidarität aller Demokraten unter Beweis stellen.

Marco Urban

Prof. Dr. Norbert Lammert, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, Präsident des Deutschen Bundestages a.D.

Der Artikel  erschien am 3. Januar 2021 auf SPIEGEL.de

https://www.spiegel.de/politik/norbert-lammert-ueber-das-transatlantische-verhaeltnis-nach-donald-trump-a-adf2feca-4065-4fcb-8cf9-4522732f6349

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