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Tina Flemming | Konrad-Adenauer-Stiftung

Re:thinking Tech Regulation

Das digitale Dilemma: Herausforderungen, Lösungen und die europäische Datensouveränität

Cory Doctorow - Science-Fiction-Autor, Aktivist, Journalist und Blogger. Im Interview mit Pencho Kuzev darüber, warum die Plattformen immer schlechter werden, warum sie die Nutzer misshandeln, was er von ChatGPT hält und dass sich die Europäer bloß kein Beispiel an den USA nehmen sollen.

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Cory Doctorow ist Science-Fiction-Autor, Aktivist, Journalist und Blogger. Er ist der Herausgeber von Pluralistic und Autor von Jugendromanen wie "Little Brother" und "Homeland", aber auch von Romanen für Erwachsene wie "Attack Surface" und "Walkaway". Er war Direktor der Electronic Frontier Foundation in Europa und Mitbegründer der britischen Open Rights Group. Geboren in Toronto, Kanada, lebt er heute in Los Angeles. Ihm wurde drei Mal der Prometheus-Preis verliehen, damit übertrifft er sogar George Orwell, einen der früheren Preisträger. Cory Doctorow hat den New York Times-Bestseller "Red Team Blues" verfasst und war Co-Autor von "Chokepoint Capitalism: Wie Big Tech und Big Content die kreativen Arbeitsmärkte eroberten und wie wir sie zurückgewinnen werden".

 

Beginnen wir mit Ihrem Lieblingsthema: „Enshitification“ des Internets, und warum die Qualität der Plattformen abnimmt? Was ist Enshitification?

Cory Doctorow: Enshitification ist ein Prozess, in dessen Folge die Plattformen immer schlechter werden. Es gibt eine Art normalen Lebenszyklus, den sie durchlaufen – solange sie nicht durch Regulierung oder Wettbewerb diszipliniert werden. Sie wollen Endnutzer anlocken, und dafür müssen sie ihnen ein sehr gutes Angebot machen. In den Angeboten versteckt sich immer eine „Verlockung“, um die Nutzer an sich zu binden. Angenommen Sie sind in den sozialen Medien unterwegs, so wie alle Ihre Freunde – es wird der Tag kommen, da liken Sie auch deren Freunde. Vielleicht gefällt Ihnen der Dienst nicht, aber weil Ihre Freunde dort sind, schaffen Sie den Absprung nicht. Oder aber Sie kaufen in einem App-Store oder einem Online-Store Medien ein, die durch die Verwaltung digitaler Rechte an eine Plattform gebunden sind.

Plattformen binden die Leute also an sich, und wenn sie damit erfolgreich waren, misshandeln sie Sie. Das, was der Nutzer ihnen gegeben hat – seine Daten –, nehmen sie ihm nun wieder weg und geben sie an Geschäftskunden weiter. Und die wollen Ihnen plötzlich Waren und Dienstleistungen verkaufen. Wir reden zum Beispiel von Marktplatzverkäufern bei Amazon oder Uber-Fahrern.

Am Anfang macht man den Geschäftskunden wirklich gute Angebote. Aber je stärker sie von den Plattformen abhängig sind, desto mehr kassieren die bei den Geschäftskunden ab. Die Angebote werden mit der Zeit schlechter, und am Ende gewinnt die Plattform alles. Das ist die Erklärung, warum das Web schlechter ist als früher.

Und das Ergebnis sehen wir: Das Internet sind fünf riesige Websites, gefüllt mit Screenshots von Texten aus den jeweiligen anderen vier Websites. Und wir fragen uns, wie wir das wieder rückgängig machen: Wir müssen den Wettbewerb wiederherstellen. Wir müssen unterbinden, dass Unternehmen ihre Konkurrenten aufkaufen. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie wettbewerbswidrige Preise verlangen und wettbewerbswidriges Gebaren an den Tag legen.

Aber wir müssen Ihnen auch Grenzen setzen, die Spielregeln nicht nach Gutdünken zu ändern, Endnutzer und Geschäftskunden über die Bezahlung und darüber wie der Dienst funktioniert zu täuschen. Geschäfts- und Endnutzer müssen die Möglichkeit haben, Regeln anzufechten – indem sie Anwendungen zurückentwickeln oder alternative Anwendungen entwickeln.

Nicht das Unternehmen darf entscheiden, wer verklagt wird und wer nicht, wenn jemand eine Drittanbieter-App oder ein Drittanbieter-Frontend entwickelt hat. Vertrauen wir unseren Regulierungsbehörden, und berufen wir uns auf die Datenschutz-Grundverordnung. Wir müssen nicht warten, bis Facebook entscheidet, was eine Verletzung der Privatsphäre ist und was nicht. Wir haben ein demokratisches Gesetz, das uns an die Hand gibt, was ein Verstoß gegen den Datenschutz ist.

 

Halten Sie ChatGPT im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion für eine große Disruption?

Cory Doctorow: Also es taugt zumindest als guter Partygag. Ein Generator, der plausible Sätze erzeugt, die gelegentlich sogar lehrreich sind. Sorgen bereitet mir ChatGPT bisher nicht. Dass uns etwas verlustig geht, etwas, was wir Menschen besser könnten. Es gibt so viele Sachen, die wir nicht gern tun und die ChatGPT wahrscheinlich genauso gut kann.

Angenommen Sie wollen mit einer Rezepte-Website bei den Suchergebnissen ganz oben stehen, dann müssten Sie zu jedem Omelett-Rezept einen 2000 Wörter langen Text schreiben: Angefangen damit wie Sie das erste Ei in ihrem Leben gegessen haben. ChatGPT übernimmt all die Aufgaben, die uns keinen Spaß machen.

Klar, kann man einen Roboter dazu bringen, einen Code zu schreiben, den ein anderer Roboter lesen kann, und die beiden bekriegen sich. Aber ich habe noch nie gedacht: Das ist aber ein toller Roman, den ChatGPT da verfasst hat! Und wenn man, wie gerade üblich, ChatGPT auffordert, einfache Tatsachen darzustellen, meine ich einen gewissen Hang zur Lüge festgestellt zu haben.

„Aber ich habe noch nie gedacht: Das ist aber ein toller Roman, den ChatGPT da verfasst hat! Und wenn man, wie gerade üblich, ChatGPT auffordert, einfache Tatsachen darzustellen, meine ich einen gewissen Hang zur Lüge festgestellt zu haben.“

Cory Doctorow

Versetzen wir uns in einen Verleger. Wie kann er den Problemen beikommen, die ChatGPT aufwerfen?

Cory Doctorow: Als Verleger würde ich mich für das Urheberrecht stark machen: Das Urheberrecht ist nur auf menschliche Schöpfungen anwendbar, die Werke eines Algorithmus sind nicht urheberrechtsfähig!

Natürlich können Firmen sich aus einer Fülle von Texten Schlussfolgerungen zusammenstellen lassen, sie dürfen eben nur kein Urheberrecht darauf beanspruchen. Jeder kann sie benutzen, weitergeben, Werbung darauf schalten und sonst was damit anstellen.

Früher oder später verlieren die Firmen das Interesse daran, dass alles so zügellos zweckentfremdet wird und Raffgier sich lohnt. Und dann wenden wir uns wieder dem zu, was ich an Computerlinguistik, kreativer Nutzung von Bildern, Prompting-Diensten durch Einzelpersonen so spannend finde. Alles, was nicht vordergründig kommerziell, sondern faszinierend, kreativ und aufregend ist.  

 

Sie fordern grundlegende Veränderungen in der digitalen Sphäre. Wo sollten wir ansetzen? Der Digital Markets Act (DMA) ist ja einen vielversprechender Anfang, aber wie nun weiter?

Cory Doctorow: Es gibt schon einiges, was man ohne Weiteres schnell umsetzen kann. Ich halte die DMA auch für eine sehr gute Gesetzgebung. Aber vieles lässt sich auch einfach administrieren – und zwar unkomplizierter als mit der DMA. Es ist nicht so schwer herauszufinden, ob jemand gegen Regeln verstößt. Und für die Einhaltung der Regeln zu sorgen, kostet weniger und grenzt neue Marktteilnehmer nicht aus.

Nehmen wir etwa das End-to-End-Prinzip: Es unterscheidet das Internet von einer Telefongesellschaft. Aufgabe von Netzbetreibern ist es, Daten von willigen Absendern entgegenzunehmen und sie so effizient, schnell und zuverlässig wie möglich willigen Empfänger zukommen zu lassen. Das macht das Internet zum Internet – es ist eben kein Telefon. Wir sprechen von Netzneutralität. Auf Plattformen gilt dieses Prinzip nicht.

Sie sind zum Beispiel Medienunternehmer mit einer Million Abonnenten. Wenn Sie irgendetwas aktualisieren, bekommen Ihre Abonnenten das nicht zwangsläufig mit. Die Social-Media-Plattform kann es ihnen vorenthalten. Obwohl die Nutzer darum gebeten hatten, informiert zu werden. Angenommen Sie verschicken einen Newsletter an eine Million Abonnenten: Die landet in den Spam-Ordnern Ihrer Google Mail- und Apple Mail-Leser. Selbst wenn Sie sie aus dem Spam-Ordner rausnehmen, landet sie beim nächsten Mal wieder im Spam-Ordner.

Sie sind bei Amazon Verkäufer und listen eine Artikelnummer – so wie es sich gehört. Ein potentieller Käufer wird sie nicht auf Anhieb finden. Er sitzt erstmal vor fünf Seiten mit gesponserten Einträgen, bevor er auf Ihren Artikel stößt.

Ich fasse mal zusammen: Die Plattformen sind dazu verpflichtet, willige Sender und willige Empfänger zusammenzubringen. Wenn jemand Daten übermittelt, die ein anderer sehen will, müssen die Plattformen sie liefern. Und es ist kein großes Ding, das zu überprüfen. Wenn Sie wissen wollen, ob Ihre E-Mails allen Abonnenten zugestellt werden, verschicken Sie eine E-Mail. Sie sehen ja, wer sie erhält. Wenn Sie wissen wollen, ob ein Artikel bei Amazon ganz oben in den Suchergebnissen auftaucht, suchen Sie ihn.

Als neuer Marktteilnehmer oder Startup-Unternehmer, der eine E-Commerce-Plattform oder eine Suchmaschine, einen E-Mail-Dienst oder einen Social-Media-Dienst aufbaut, brauchen Sie keine zusätzliche Technik für das End-to-End-Prinzip. Sie funktionieren bereits End-to-End. Nur wenn Sie, um mehr Geld zu verdienen, das End-to-End-Prinzip verletzen, braucht es zusätzliche Ingenieurleistungen. Sie müssen also keinen Haufen Geld auftreiben, wenn Sie nicht wollen, dass Ihr Service sich auf Kosten Ihrer Lieferanten und Endnutzer verschlechtert. End-to-End funktioniert.

 

In der politischen Arena wird viel über die globale Wettbewerbsfähigkeit und die europäische digitale Souveränität diskutiert. Wie interpretieren Sie den Begriff der europäischen digitalen Souveränität?

Cory Doctorow: Die Europäer sind in der komfortablen Lage, handeln zu können – was sich in Amerika schwierig gestaltet. Denn egal, was Nick Clegg behauptet: Facebook ist ein amerikanisches Unternehmen, kein europäisches. So wie die anderen Tech-Giganten. In Amerika fasst man sie mit Samthandschuhen an – sie sind eng mit den Schaltzentralen der Macht verbandelt. In Europa könnte man unter Einschluss der Gewerkschaften die Raffgier großer amerikanischer Unternehmen eindämmen und für die europäischen Unternehmen Freiräume schaffen.

Und das wäre in mehrfacher Hinsicht sinnvoll. Nach den Snowden-Enthüllungen war ja klar, dass die amerikanischen Tech-Firmen im Ausland nicht nur ein sprudelnder Quell an Soft Power sind. Sie wurden strategisch eingesetzt, um nachrichtendienstliche Informationen zu beschaffen – über ganze Bevölkerungen, einschließlich ihrer gewählten Führer; über sogenannte befreundete Nationen und Verbündete, so auch Deutschland.

Die Europäer hätten also verdammt gute Gründe, ihre eigene Cloud zu betreiben.

 

Ist es realistisch, eine unabhängige Infrastruktur aufzubauen? Gerade in Sachen Cloud.

Cory Doctorow: Es spricht aus meiner Sicht nichts dagegen, dass die Europäer ihre eigenen Datenzentren aufbauen, die die Systeme hosten. Jeder Cloud-Nutzer ist dann im Bilde, wie mit seinen Daten verfahren wird. Dafür braucht es zunächst einmal einen verbindlichen rechtsstaatlichen Rahmen, der die Möglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden einschränkt, auf Daten zuzugreifen. Und es braucht einen starken Datenschutz, der verhindert, dass Unternehmen sich dieser Daten bemächtigen. Und nicht zuletzt müssen die technischen Rahmenbedingungen stimmen: Integritätsüberprüfungen, um Nutzern von Cloud-Diensten kryptografisch signiert zu versichern, wie die Server konfiguriert und ob Schnüffeleien durch den Cloud-Betreiber möglich sind. Die Amerikaner scheren sich um all das nicht. Die Europäer könnten es sehr wohl tun.

 

Das Interview führte Dr. Pencho Kuzev.

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