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Die Silvesterkrawalle haben es gezeigt: Es braucht einen kraftvollen Rechtsstaatspakt

Gibt es einen zweiten Rechtsstaatspakt? Wie im Koalitionsvertrag versprochen? Sven Rebehn, der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes, fordert ihn. Die Krawalle in der Silvesternacht haben mal wieder gezeigt, Strafen dürfen nicht irgendwann, sondern müssen auf dem Fuß folgen. Dafür braucht es eine gut ausgestattete Justiz - und mehr Personal!

Nachdem der erste Schock über die Angriffe auf Polizistinnen und Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungskräfte in der Silvesternacht 2022 gewichen war, haben die üblichen politischen Reflexe gegriffen: Böllerverbote brauche es, am besten bundesweit. Und, selbstverständlich, eine konsequente Strafverfolgung mit schnellen, harten Urteilen. Die Justiz müsse durchgreifen, der Rechtsstaat wehrhaft sein. Es ist weithin die bekannte Routine, mit der Rechtspolitiker und Innenexperten nach dem Jahreswechsel auf die Silvesterkrawalle reagiert haben. Dabei ist auch ihnen völlig klar, dass Verbote nicht helfen, solange sie nicht ausreichend kontrolliert und durchgesetzt werden können. Auch neuerliche Strafverschärfungen bringen wenig, weil die drohenden Strafen bei Angriffen auf Polizei und Retter bereits scharf sind. Entscheidend ist vielmehr, dass die Strafe der Tat nicht irgendwann, sondern möglichst auf dem Fuß folgt, damit sie abschreckend wirkt. Die gesetzlichen Möglichkeiten, um schnell und effektiv zu reagieren, sind vorhanden. Sie werden von der Justiz auch genutzt. Es braucht aber zusätzliches Personal, um insbesondere die jetzt viel diskutierten beschleunigten Verfahren bundesweit häufiger durchführen zu können. Das setzt kurze Wege und gut eingespielte Abläufe zwischen Polizei, Staatsanwaltschaften und Strafgerichten vor Ort voraus. 

„Die Bundesregierung darf es nach den Krawallen in der Silvesternacht 2022 deshalb nicht bei markigen Forderungen und starken Ankündigungen belassen, sondern sollte ihren Teil dazu beitragen, dass es Fortschritte gibt.“

Sven Rebehn

Die Bundesregierung darf es nach den Krawallen in der Silvesternacht 2022 deshalb nicht bei markigen Forderungen und starken Ankündigungen belassen, sondern sollte ihren Teil dazu beitragen, dass es Fortschritte gibt. So richtig es ist, dass Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ein Ende der Sparmaßnahmen in der Justiz fordert, so sehr fällt diese an die Länder gerichtete Kritik auch auf die Ampelkoalition zurück. Die Bundesregierung hat das Versprechen des Koalitionsvertrags, die Justiz durch einen zweiten Rechtsstaatspakt mit den Ländern personell schlagkräftiger aufzustellen, im Dezember 2022 beim Spitzentreffen mit den Ministerpräsidenten vorerst eingesammelt und auf die lange Bank geschoben.

Die Ampel will nun lediglich bei der Digitalisierung der Justiz mithelfen. Es ist zwar richtig, einen Digitalpakt mit den Ländern anzustreben, zumal der Bund auch den weiteren Zeitplan zur flächendeckenden Einführung der elektronischen Akte bis 2026 durch Bundesgesetze abgesteckt hat. Die digitale Transformation stellt die Gerichte und Staatsanwaltschaften in den nächsten Jahren vor gewaltige Herausforderungen. Zur Größe der Aufgabe passt es, dass die Bundesregierung die Justiz in ihrer Digitalstrategie als eines von 18 Leuchtturmprojekten herausstellt und darin aufwendige Vorhaben wie eine Bundes-Cloud für die Justiz skizziert. Das Budget von bis zu 200 Millionen Euro, mit dem die Bundesregierung die Länder bis 2025 unterstützen will, dürfte aber kaum für große Sprünge reichen.

Zum anderen ginge ein auf Digitalisierungsprojekte verengter zweiter Rechtsstaatspakt am drängendsten Justiz-Problem des fehlenden Personals vorbei. Die Ampel-Koalition muss beide Versprechen des Koalitionsvertrages halten und neben einem ausreichend dimensionierten Digitalpakt mit den Ländern eine mehrjährige Co-Finanzierung neuer Stellen durch den Bund auf den Weg bringen. Bundesweit fehlen nach den Berechnungen der Länder zum Personalbedarf allein in der Strafjustiz noch immer mehr als 1.000 Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte. Bei der Amtsanwaltschaft und im Rechtspflegebereich, beim Geschäftsstellenpersonal und insbesondere bei IT-Fachkräften ist die Lage ebenfalls sehr angespannt. Der erste Rechtsstaatspakt, durch den die Länder von 2017 bis 2021 mehr als 2.500 neue Stellen für Juristinnen und Juristen in der Justiz besetzt haben, hat noch nicht zu der erhofften Trendwende geführt. Die Entlastungseffekte des Pakts sind überschaubar geblieben, weil zahlreiche neue gesetzliche Aufgaben die Stellenzuwächse insbesondere in der Strafjustiz sogleich wieder aufgezehrt haben. In einer aktuellen Befragung von mehr als 800 Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten durch das Institut für Demoskopie Allensbach für den Roland Rechtsreport 2023 geben nur 8 Prozent der Befragten an, dass der Rechtsstaatspakt zu einer Entlastung in ihren Dienststellen geführt hat. 41 Prozent beklagen, dass ihre Arbeitsbelastung seit 2019 trotz des Rechtsstaatspakts größer geworden ist. Bei den befragten Staatsanwälten kritisieren das sogar 53 Prozent.

„Die durchschnittliche Dauer erstinstanzlicher Strafverfahren vor den Landgerichten ist 2021 auf einen neuen Höchstwert von 8,2 Monaten gestiegen.“

Sven Rebehn

Dazu passen die aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes zur Arbeit der Strafjustiz, die einen Trend zu immer längeren Verfahren belegen. Die durchschnittliche Dauer erstinstanzlicher Strafverfahren vor den Landgerichten ist demnach 2021 auf einen neuen Höchstwert von 8,2 Monaten gestiegen. Gerechnet ab Eingang bei der Staatsanwaltschaft dauern die erstinstanzlichen Verfahren beim Landgericht im Schnitt inzwischen sogar 21 Monate, 2011 ging es noch vier Monate schneller. Auch bei den Amtsgerichten hat sich die Verfahrensdauer bis zu einem Strafurteil deutlich auf 5,8 Monate verlängert. Vor zehn Jahren waren die Amtsgerichte fast zwei Monate schneller. Das deckt sich mit der Wahrnehmung einer breiten Mehrheit der Bevölkerung: In einer repräsentativen Allensbach-Bevölkerungsumfrage für den Roland Rechtsreport 2023 geben 80 Prozent der 1.042 Befragten an, dass viele Gerichtsverfahren in Deutschland zu lange dauern. Drei von vier Befragten halten die Justiz für überlastet.

Die meisten der stetig wachsenden Anforderungen an die Justiz sind dabei durch neue Bundesgesetze verursacht worden. Und die nächsten zusätzlichen Aufgaben zeichnen sich bereits ab. So hat Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) jüngst eine effektivere Strafverfolgung von Geldwäsche versprochen, was am Ende ebenfalls die Strafjustiz einlösen muss. Auch in zahlreichen anderen Bereichen des Strafrechts hat sich die Ampel im Koalitionsvertrag vorgenommen, den Vollzug der bestehenden Gesetze zu verbessern. Stichworte: Hasskriminalität und Extremismus, organisierte Kriminalität und Bekämpfung von Kindesmissbrauch.

 

„Will die Bundesregierung bei der Justiz glaubwürdig bleiben und einen weiteren Vertrauensverlust in der Bevölkerung in den Staat vermeiden, sollte sie ihren Kurs korrigieren und sich finanziell stärker für einen durchsetzungsfähigen, wehrhaften Rechtsstaat engagieren.“

Sven Rebehn

Will die Bundesregierung bei der Justiz glaubwürdig bleiben und einen weiteren Vertrauensverlust in  der Bevölkerung in den Staat vermeiden, sollte sie ihren Kurs korrigieren und sich finanziell weitaus stärker für einen durchsetzungsfähigen, wehrhaften Rechtsstaat engagieren. Angesichts der hohen Arbeitsbelastung und wachsender Aufgaben für Staatsanwaltschaften und Strafgerichte kann eine Trendwende zu schnelleren Strafverfahren nur mit deutlich mehr Personal gelingen. Sicher sind hier in erster Linie die zuständigen Bundesländer gefordert. Eine mehrjährige Anschubfinanzierung des Bundes gegen die verbindliche Zusage der Länder, 1.000 zusätzliche Stellen in der Strafjustiz bis 2025 zu schaffen, würde aber Rückenwind beim Personalaufwuchs und damit für einen schneller handelnden Rechtsstaat geben.

Deutscher Richterbund
Sven Rebehn ist seit 2012 Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes und Chefredakteur der Deutschen Richterzeitung. Zuvor arbeitete der Volljurist als leitender Redakteur mit dem Schwerpunkt Rechts- und Innenpolitik bei der Neuen Osnabrücker Zeitung.

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