„Das Sterben der Demokratie“ (Rowohlt-Verlag, Berlin 2025) heißt das neue Buch von Peter R. Neumann vom King’s College in London. Zusammen mit dem Publizisten Richard C. Schneider zeigt der renommierte Politikexperte darin anhand verschiedener Fallstudien, wie die Rechtspopulisten in Europa und den USA zu einer Gefahr für die Demokratie geworden sind.
Die Diagnose in Ihrem Buch lautet: Unsere Demokratie ist noch am Leben, aber infolge des Aufstiegs der Rechtspopulisten massiv unter Druck. Wie dramatisch ist die Lage?
Peter R. Neumann: Unsere Demokratie ist an einem Kipp-Punkt. Der Aufstieg der Rechtspopulisten in den vergangenen 15 Jahren ist wirklich dramatisch. Laut einem Überblick der Zeitschrift „The Economist“ hatten die Rechtspopulisten 2010 in Europa im Durchschnitt eine Unterstützung von fünf Prozent der Bevölkerung, heute aber sind es 25 Prozent. Keine politische Strömung ist so schnell so stark gewachsen wie die der Rechtspopulisten. Diese Kräfte sind eine Gefahr für unsere Demokratie. Dort, wo sie an der Macht sind, wie etwa in Ungarn, sind sie darauf bedacht, die liberalen Aspekte unserer Demokratie abzubauen – also individuelle Freiheitsrechte, Institutionen, Gewaltenteilung, Schutz von Minderheiten.
Wie gravierend ist es für uns in Europa, wenn auch die USA – traditionell westliche Führungsmacht und demokratische Vorbildnation - unter Präsident Donald Trump auf diesen Kurs einschwenken?
Peter R. Neumann: Wenn auch in Amerika die liberale Demokratie ins Wanken gerät, kommt der Motor der Demokratie weltweit ins Stocken. Das hat natürlich zahlreiche Auswirkungen auf uns. Sollte zudem ein Rechtspopulist bei den Präsidenschaftswahlen 2027 in Frankreich siegen, könnte das bedeuten, dass der Rechtspopulismus in Europa zum Mainstream wird. Das brächte die Parteien der politischen Mitte auf der europäischen Ebene in eine sehr schwierige Situation. Das ist für uns genauso wichtig wie das, was in den USA passiert. Immerhin wird mit Italien schon ein wichtiger Staat in Europa von Rechtspopulisten geführt. Dort regiert mit Giorgia Meloni die nach meiner Meinung klügste und am stärksten strategisch denkende rechtspopulistische Politikerin. Sie hat verstanden, dass sie sich den Druck von außen vom Leib halten muss, wenn sie ihr Land im Inneren umbauen möchte. Daher kooperiert sie mit der EU, aber auch mit dem Westen in Bezug auf die Ukraine.
Sind Sie schockiert darüber, wie radikal Präsident Trump in seiner zweiten Amtszeit seine Pläne und damit die Demontage der Demokratie vorantreibt?
Peter R. Neumann: Ja, da bin ich schon überrascht. Vor fünf Jahren habe ich noch in einem Buch bilanziert, wie wenig Trump in seiner ersten Amtsperiode von seinen politischen Plänen in die Praxis umgesetzt hat. Er war einfach nicht darauf vorbereitet. Das ist jetzt ganz anders: Er hat einen Plan; und er hat Leute dafür. Im Prinzip setzt Trump Schritt für Schritt Dinge um, die seine maßgeblichen Berater jahrelang vorbereitet haben. Das ist eine unglaubliche Transformation des politischen Systems in den USA. Trump hat an vielen Stellen die geltenden Regeln so stark geschwächt, dass man sich fragt, ob in vier Jahren die amerikanische Demokratie mit der Gewaltenteilung überhaupt noch Bestand haben kann.
Dabei haben die Gründer der amerikanischen Republik vor allem darauf gesetzt, einen Alleinherrscher zu verhindern. Das ist der Grund für ein ausgeklügeltes System der Gewaltenteilung, von „checks and balances“. Ist das, wie wir aktuell sehen, nicht genügend?
Peter R. Neumann: Letztlich sind Verfassungen wie Geldscheine nur Stücke von Papier. Was sie zu so wichtigen Dokumenten macht, ist, dass alle Bürger daran glauben und sich alle auch daran halten. Auch in einer funktionierenden Demokratie gibt es offenbar viel, was gar nicht niedergeschrieben werden kann. Das nennen wir Normen oder Konventionen. Die wichtigste von allen ist, dass jemand, der eine Wahl verliert, dies akzeptiert und anerkennt, dass der Wahlgewinner der legitime Präsident ist. All diese ungeschriebenen Konventionen hat Trump gebrochen. Diese Erfahrung lehrt uns, dass unsere Demokratie mit ihrer Verfassung viel fragiler ist, als wir erwartet haben; denn sie beruht letztlich auf einem Konsens, der angreifbar ist.
Die Rechtspopulisten auf der Welt kooperieren miteinander, sie lernen auch voneinander. Läuft das auf eine „Achse der Autokraten“ hinaus, von der die Historikerin Anne Applebaum gesprochen hat?
Peter R. Neumann: All diese Autokraten, so unterschiedlich sie sind, haben ein gemeinsames Feindbild – die liberale Demokratie. Russland unter Präsident Wladimir Putin hat den Rechtspopulismus in Europa nicht geschaffen, aber es hat dessen Aufstieg massiv unterstützt. Russland hat etwa mit Geld ausgeholfen, als die rechtspopulistische Partei von Marine Le Pen in Frankreich vor dem Bankrott stand. In Italien hat Matteo Salvini mit seiner Lega von der Kooperation mit Russland sehr profitiert. In Österreich gab es enge Verbindungen der FPÖ zu Russland. In der Mehrzahl sind diese Kräfte – mit der Ausnahme von Meloni – sehr russlandfreundlich. Putin fördert diese Kräfte, weil er glaubt, dass sie die Polarisierung in den liberalen Demokratien erhöhen und Gesellschaften spalten können. Mittlerweile hat auch die US-Regierung eine ähnliche Ausrichtung. Vizepräsident J. D. Vance sieht geradezu seine Rolle darin, die rechtspopulistischen Parteien allüberall zu unterstützen.
Was ist kennzeichnend für das politische Denken der Rechtspopulisten? Und was unterscheidet sie von den Rechtsextremisten?
Peter R. Neumann: Die Rechtspopulisten werden in unserem politischen Diskurs häufig als Faschisten bezeichnet. Das ist ein Fehler, denn das ist exakt das falsche Bild. Beim Begriff Faschismus denken wir an eine plötzliche Machtergreifung wie bei den Nazis: Heute gibt es noch eine Demokratie, morgen leben wir schon in einer Diktatur. Doch das ist gerade nicht der Plan der Rechtspopulisten. Sie suchen durchaus die Bestätigung vom Volk. Sie wollen die Demokratie nicht abschaffen, sondern sie sind darauf aus, die Demokratie und insbesondere die liberalen Institutionen auszuhöhlen. Bestes Beispiel dafür ist Ungarn: Ministerpräsident Viktor Orban hat dort das Verfassungsgericht nicht abgeschafft, er hat vielmehr die Zahl der Richter verdoppelt und die Posten mit seinen Leuten besetzt. Es gibt noch immer ein Verfassungsgericht, aber es ist jetzt sein Verfassungsgericht. Orban hat die freien Medien in seinem Land nicht abgeschafft, er hat vielmehr deren Besitzer mehr oder minder gezwungen, ihre Unternehmen an seine Freunde zu verkaufen. Das heißt, von der Demokratie bleibt dann im Laufe der Zeit nur noch die Fassade. Es ist ein schleichender Wandel, der kaum bemerkbar ist.
Das ist eine massive Attacke auf die Demokratie. Dennoch bleibt der Aufschrei der demokratischen Öffentlichkeit oft aus. Auch in den USA ist der Protest angesichts von Trumps Praxis eher gering. Was macht die Ideologie der Rechtspopulisten bei einem erheblichen Teil der Bevölkerung so attraktiv?
Peter R. Neumann: Die Rechtspopulisten mobilisieren vor allem durch zwei Feindbilder, die sie infolge starker Polarisierung in eine Schwarz-Weiß-Zeichnung formen. Zum einen rufen diese Kräfte, dass die Ausländer an der aktuellen Misere schuld seien. Es gibt keine rechtspopulistische Partei, die ohne das Thema Migration erfolgreich gewesen wäre. Das ist ein wichtiger Punkt für die Parteien der demokratischen Mitte: Sie dürfen dieses Thema nicht einfach ignorieren, wenn sie den Rechtsaußen-Parteien Wind aus den Segeln nehmen möchten. Zum anderen sagen die Rechtspopulisten ultimativ, dass die liberalen Eliten schuld an den gegenwärtigen Problemen seien. Mit den Eliten sind „die da oben“ in Institutionen wie der Justiz gemeint, aber auch Experten, Wissenschaftler, Journalisten. Nach der Lesart der Rechtspopulisten also Leute, die ihre eigene Agenda verfolgen und dabei den Volkswillen ignorieren – während sie, die Rechtspopulisten, angeblich alles tun, um den wahren Volkswillen durchzusetzen.
Bei bürgerlich-konservativen Parteien in Europa gibt es immer wieder das Kalkül, dass man die Rechtspopulisten an die Macht lassen solle – entweder um sie, die vor allem vom Protest leben, an der Regierung zu entzaubern oder um sie in einer Regierung einzuhegen. Ist das nicht eine politische Fehlrechnung?
Peter R. Neumann: Wir sollten zunächst selbstkritisch sein und konstatieren: Die Tatsache, dass die rechtspopulistischen Parteien so stark sind, ist auch ein Symptom für ein politisches System, das nicht mehr so gut funktioniert und tatsächlich Defizite aufweist. Deswegen müssen sich die etablierten Parteien dringend damit beschäftigen, was so viele Wähler dazu antreibt, für solche Parteien vom rechten Rand zu stimmen.
Doch gegen eine Kooperation mit den Rechtspopulisten sprechen vor allem zwei Argumente. Erstens wissen wir aus Erfahrung, dass rechtspopulistische Parteien, sobald sie in einer führenden Rolle und an der Macht sind, damit beginnen, das bestehende politische System so umzubauen, dass sie weiter gewinnen und am Ende die absolute Mehrheit erringen. Zum anderen gibt es europaweit kein einziges Exempel, das zeigen würde, dass Mitte-Rechts-Parteien von der Kooperation mit den Rechtspopulisten profitiert hätten. Im Gegenteil, sie sind dadurch nicht stärker, sondern stets schwächer geworden. Die „Forza Italia“ des früheren Spitzenpolitikers Silvio Berlusconi etwa steht heute bei acht Prozent der Wahlbevölkerung. Die „Republikaner“ in Frankreich kommen jetzt auf acht bis neun Prozent. Die Rechtsliberalen der VVD in den Niederlanden haben einmal 30 Prozent der Wähler für sich gewinnen können und sind inzwischen auf 15 Prozent geschrumpft.
Ungarn war der „Vorreiter“ des Rechtspopulismus, Deutschland nennen Sie den „Nachzügler“ bei dieser Entwicklung. Was sollten die Mitte-Parteien hierzulande tun, um ein weiteres Anwachsen der Rechtspopulisten zu verhindern?
Peter R. Neumann: Zuallererst: Die „Brandmauer“ muss halten. Das bedeutet: keine Kooperation, keine Koalition mit diesen Parteien. Zweitens: Die Mitte-Parteien müssen in zentralen Feldern Handlungsfähigkeit beweisen, in der Wirtschaftspolitik ebenso wie in der Migrationspolitik. Schließlich und vor allem: Unsere etablierten Parteien müssen kommunikationsfähiger werden. Wir haben nach 2010 eine ganz andere Kommunikationslandschaft bekommen. Das ist auch kein Zufall: Der Aufstieg der Rechtspopulisten seither korreliert mit dem Aufstieg der sozialen Medien. 50 Prozent der jungen Menschen beziehen heute fast alle ihre politischen Informationen aus diesen Medien. Das Medienverhalten der Bürger in unseren Demokratien hat sich total verändert. Die Mitte-Parteien haben bis jetzt noch keinen passenden Weg gefunden, um die Menschen über diese Plattformen zu erreichen. Die einzigen Parteien, die dabei Erfolg haben, sind jene der Rechtspopulisten.
Ist es angesichts der jüngsten Entwicklung noch sinnvoll, den Gegensatz von Demokratien und Autokratien in der Weltpolitik zu betonen, den etwa die frühere US-Regierung von Präsident Joe Biden forciert hat?
Peter R. Neumann: Nach meinem Eindruck ist das kein zielführendes Modell mehr. Unser Ziel sollte sein, möglichst viele Freunde zu gewinnen. Durch die Einteilung der Staaten in Demokratien versus Autokratien aber stoßen wir schon viele Länder ab. Wir sind als Westen in einer Welt, die immer weniger demokratisch wird, auf Freundschaften und Partnerschaften auch mit Staaten angewiesen, die keine echten Demokratien sind. Jordanien zum Beispiel ist keine Demokratie, aber es hat im Nahen Osten einen positiven Einfluss und kann stabilisierend wirken. Singapur ist sicherlich keine perfekte Demokratie, aber ein sehr wichtiger Staat in Südostasien. Aus Afrika kommen viele Rohstoffe der Zukunft, aber der Kontinent zählt kaum demokratische Staaten. Bisher hat dort China die Nase vorn, weil es den Regierenden versichert, dass man miteinander Geschäfte machen könne – ganz egal, wie die politische Ordnung ausschaut.
Zur Person: Prof. Dr. Peter R. Neumann, geboren 1974 in Würzburg, ist Professor für Sicherheitsstudien am King’ s College in London. Zu den jüngsten Veröffentlichungen des deutschen Politikwissenschaftlers zählen diese Bücher: Die Rückkehr des Terrors. Wie uns der Dschihadismus herausfordert (2024); Logik der Angst. Die rechtsextreme Gefahr und ihre Wurzeln (2023); Die neue Weltunordnung. Wie sich der Westen selbst zerstört (2022) – erschienen jeweils im Rowohlt-Verlag, Berlin.
Das Interview führte Helmut L. Müller. Er studierte an der Universität München Politikwissenschaft, Neuere Geschichte und Germanistik und promovierte bei Kurt Sontheimer mit einer Dissertation über das politische Engagement westdeutscher Schriftsteller ("Die literarische Republik"). Nach einer Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität München war er als freier Mitarbeiter für Rundfunk, Zeitungen und Zeitschriften tätig.