Asset-Herausgeber

Herbert Belter und all die Anderen – ein Versuch.

Marko Martin würdigt Herbert Belter und den mutigen studentischen Widerstand zum 75. Jahrestag der Flugblattaktion der Belter Gruppe in der frühen DDR. Ein aktueller Ruf nach Freiheit und demokratischer Wachsamkeit.

Die Dünndruck-Broschüren lagen auf dem rotweiß gewürfelten und von Sonnenlicht gesprenkelten Tischtuch, neben der Wasserkaraffe und den zur Seite geschobenen Tellern. Ein früher Mittag am Westberliner Savignyplatz, Mitte der neunziger Jahre. Aus der nahegelegenen Mommsenstraße kam Melvin Lasky, 1920 in der New Yorker Bronx in einer jüdischen Einwandererfamilie geboren, als Armeehistoriker der 7. US-Army an der Befreiung Westeuropas beteiligt, einer der ersten amerikanischen Offiziere im befreiten KZ Dachau, Briefkurier zwischen Karl Jaspers und Hannah Arendt – vor allem aber der, von dem Walter Ulbricht einst behauptet haben soll, seinetwegen sei der Kalte Krieg ausgebrochen. Melvin Lasky, der sich 1947 im Deutschen Theater in der Ostberliner Schumannstraße beim ersten Nachkriegskongress der Deutschen Schriftsteller zu Wort gemeldet hatte, um unter dem erstarrten Schweigen der Teilnehmer, unter ihnen uniformierte sowjetische Offizielle, die Zensur und die Repression in der stalinistischen UdSSR anzuklagen.

Als zwei Jahre später – mit amerikanischer Hilfe – in Westberlin die Zeitschrift Der Monat ins Leben gerufen wurde (Namensgeber war kein Geringerer als Klaus Mann) und Melvin Lasky prominente Emigranten, einschließlich ehemaliger Kommunisten für das Blatt gewinnen konnte, tobten die Abgesandten des Kreml und deren ostdeutsche Satrapen. Johannes R. Becher, der als schuldbeladener Moskau-Rückkehrer und eisern schweigender Mitwisser um das Massenmörderische des Systems wusste, nannte die Autoren des Monat gar „Hyänen“.

Aus Bechers kalkuliertem Hassausbruch sprach zweifache Angst: die Angst, inmitten der stalinistischen Paranoia, die nach 1945 die nationalsozialistische abgelöst hatte, trotz symbolischer Machtfülle und Mittäterschaft irgendwann selbst als „Zweifler“ oder gar „Abweichler“ zu gelten, und die Angst vor dem, was dann drohte: Ämterverlust, Parteiausschluss, Strafverfahren und vielleicht – nach einer Odyssee durch ostdeutsche Gefängnisse – das Straflager von Workuta oder die Erschießung in Moskau. Hatte dieses Schicksal nicht bereits unzählige Menschen in der Sowjetzone und, nach ihrer Gründung 1949, in der DDR getroffen? Dazu die durchaus nachvollziehbare Panik, dass die Texte solch integrer Intellektueller und Zeitzeugen wie Hannah Arendt, Albert Camus und Arthur Koestler auch Leser im Osten erreichen könnten. Dass sie Kunde geben würden vom strukturellen Killer-Charakter des kommunistischen Regimes, das sich nun – mit Zwang und brutaler Gewalt, mit Täuschung und dreist gekapertem humanistischen Vokabular – bis zur Elbe ausgebreitet hatte, als Resultat von Hitlers vorangegangenem Angriffskrieg.

„Um unsere Leser in der Sowjetzone und in der DDR zu schützen“, erinnerte sich Melvin Lasky in jenen frühen Mittagsstunden am Savignyplatz, „hatten wir damals diese Sonderdrucke in Dünndruckpapier herausgegeben. Gratis und leicht zu verstecken, um sie über die Sektorengrenze zu schmuggeln. Wer entdeckt wurde, riskierte Verhaftung, und es sind diese vor allem jungen Menschen, denen, mehr noch als meinen hochberühmten Autoren, meine ganze Hochachtung gilt.“ Der alte Melvin Lasky neigte nicht zur Sentimentalität, schon gar nicht zu einer, die von sich selbst ergriffen war. Und doch war spürbar, wie bewegt er war.

Wenn wir versuchen wollen, an die Widerständigkeit, den Mut, die Verzweiflung und an die Würde eben dieser damals so jungen Menschen zu erinnern – an den im Oktober vor 75 Jahren hier in Leipzig verhafteten und am 28. April 1951 in Moskau erschossenen Herbert Belter, an seine Freunde und all die anderen in Ostberlin, in Werdau, in Eisenberg – dann sollten wir auch über die Schichtungen gesamtdeutschen Vergessens sprechen. Und über die Chance und die Pflicht zum Erinnern.

Denn ist mit den Jahrzehnten nicht auch jene antitotalitäre Zeitschrift Der Monat ins Vergessen geraten, die für diese jungen Erwachsenen im Osten doch ein geistiges Lebenselixier darstellte und für Hunderttausende von Abonnenten im Westen den nicht immer einfachen, aber doch angstfreien Weg in eine liberale Debattendemokratie begleitete? Melvin Lasky und seine Zeitschrift, die nach zwölf Jahren NS-Herrschaft und im Angesicht des expandierenden Sowjet-Imperialismus ein Fenster zur Welt zu öffnen vermochte und sich gegen die Gewalttätigkeit der historischen Amnesie stemmte, hatte und hat bis heute keinen entsprechenden Platz im kulturellen Gedächtnis dieses Landes. Dagegen konnten wohl auch meine Bücher nicht allzu viel ausrichten.

Herbert Belter, Siegfried Jenkner, Werner Gumpel, Karl Miertschischk, um hier nur einige wenige zu nennen, wurden aufgrund ihrer Verbindung zur Leipziger Universität und ihrer sukzessiven Gleichschaltung durch die SED und die Sowjetische Militäradministration verurteilt. Ich muss gestehen, dass ich im Detail von ihren Schicksalen erst vor einigen Jahren erfahren habe. Bei der Lektüre von Klaus-Rüdiger Mais 2023 erschienenem Der kurze Sommer der Freiheit, in der das böswillige Stasi-Konstrukt einer „Belter-Gruppe“ quasi zurückverwandelt wird ins Humane, in die lebendige Nachzeichnung junger Nachkriegsdeutscher, die nicht noch einmal in einer Diktatur leben wollten. Und in dem bereits vor einem Vierteljahrhundert erschienenen Porträt-Band Opposition und Widerstand in der DDR, der zahlreiche damals schon verstorbene Oppositionelle vorstellte und von dessen Autoren inzwischen ebenfalls schon viele nicht mehr am Leben sind. Wie etwa der Leipziger Historiker Gerald Wiemers, der zusammen mit seinem Kollegen Jens Blecher das Lebensbild Herbert Belters nachgezeichnet hatte. Gleichsam ein zweifaches Sich-Entfernen – das der Opfer und derer, die ihrer gedachten. Umso größer die Herausforderung, diese Lücke nicht noch größer werden zu lassen. Und wie ermutigend, dass die Schriftstellerin Grit Poppe und ihr Sohn Niklas Poppe gerade ein Buch veröffentlicht haben, das unter dem Titel verschleppt verbannt verschwunden eben jenen Nachkriegs-Biographien neue Aufmerksamkeit widmet.

Die beiden Forscher Wiemers und Blecher hatten bereits 1996 hier an der Universität Leipzig eine Ausstellung zum studentischen Widerstand erarbeitet und ein Jahr später – auf ebenso skrupulöse, genaue Weise – einen Dokumentarband veröffentlicht, dessen Lektüre bis heute schockiert angesichts all der Bösartigkeit der Stasi- und Militäradministrations-Sprache, die uns da aus den aufgefundenen Akten heraus anbellt. (Ganz ähnlich wie die Vernichtungsdrohungen, die man heute im gleichgeschalteten russischen Medienbetrieb tagtäglich gegen die verbotene Aufarbeitungs-Organisation Memorial ausstößt, gegen die Ukraine und den gesamten Westen und die von Putins hiesiger Fünfter Kolonne entweder dreist geleugnet oder, sanft verpackt in verlogene Friedens-Rhetorik, sogar noch perpetuiert werden.)

Und dort in diesem Band sah ich dann schließlich eine der von der Stasi 1950 bei Herbert Belter und seinen Freunden beschlagnahmten „Hetzschriften“ abgebildet. Der rechteckige BStU-Stempel zeigte, dass die Papiere nach dem Mauerfall und der von den Bürgerrechtlern gegen mannigfaltige Widerstände erzwungenen Stasi-Aktenöffnung dann doch endlich in die richtigen Hände gekommen waren und nun der Öffentlichkeit zugänglich. Was aber war zuvor geschehen, in den kahlen Vernehmerräumen in Leipzig und in Dresden, die doch lediglich eine Art Vorhölle darstellten für die elend langen Jahre in Workuta und für Herbert Belters entsetzlichen Tod in Moskau?

Sonderdrucke des Monat: Albert Camus´ Der Künstler und die Freiheit, Franz Borkenaus Stalin im Schafspelz, Ruth Fischers Tito contra Stalin, Theodor Pliviers Humanität und Staat, Günther Birkenfelds Der NKWD-Staat... Es waren diese Broschüren, die an jenem Sommertag in der Charlottenburger Pizzeria vor Melvin Lasky und mir lagen, und die damals wohl auf dem Tisch der Vernehmer als angebliche „Verratsbeweise“ gestapelt waren, um die jungen Menschen in ihrer entsetzlichen Einsamkeit, ihrem Ausgeliefertsein dieser totalitären Staatsmacht seelisch zu brechen – vor ihrer physischen Vernichtung.

Was für Geschichten, was für Biographien! Ich sah in der Broschüre und in dem Porträtband die Gesichter der Verhafteten, der wie Hans Belter, Arno Esch oder Hans-Joachim Näther in Moskau Erschossenen ebenso wie die der Überlebenden von Workuta. Gesichter von Menschen am Beginn ihres Erwachsenenlebens, offen, vertrauensvoll und doch bereits wissend, fröhlich, ernsthaft, verantwortungsbewusst. Was selbst in einer notgedrungen kurzen Rede gelingen muss, so dachte ich beim Betrachten, sie wenigstens im Rückblick nicht in der Einsamkeit der Haftzellen, der Verhörräume und Gerichtssäle mit den unwürdigen Richtern zu belassen, in den eiskalten Abteilen der Deportationszüge, in den Lagerbaracken, den Minenschächten, dem Moskauer Erschießungs-Keller.

Ebenso aber wäre an das Danach zu erinnern. Und an jene Verbindungslinien, die gleichsam Ariadne-Fäden aus der Unfreiheit führten. Da wäre zuallererst das feine Gespür dieser jungen Erwachsenen, nicht allein in Leipzig, sondern im gesamten Osten, das über den Trümmern der alten soeben eine neue Diktatur entstand. Wenn es den mitunter noch heute beschworenen „guten Anfang“ je gegeben hatte, dann in den Aktivitäten jener Studenten, die ihre Universität nach zwölf Jahren der institutionalisierten Lüge wieder zu einem Ort des freien Lernens und Sprechens, des angstfreien Debattierens und Ideen-Vergleichens zu machen versuchten. Einige von ihnen waren in noch vorerst freien Wahlen in verantwortliche Positionen der Studentenausschüsse gewählt worden, insistierten in Reden und auf Versammlungen immer wieder auf die demokratischen Grundrechte oder hatten bereits in der Lokalpolitik mitgearbeitet, um ein freies Gemeinwesen aufzubauen. Später dann, der Handlungsspielraum wurde immer enger: das nächtliches Plakate-Kleben unter höchstem Risiko, die Weitergabe der aus Westberlin mitgebrachten Broschüren und das Verteilen von Flugblättern, das schließlich in den ersten Minuten des 5. Oktober 1950 zu Herbert Belters Verhaftung führt. 

Historiker haben inzwischen detailliert herausgearbeitet, wie in den Studentenausschüssen FDJ und SED sehr bald zu dominieren begannen, wie junge Christdemokraten und Sozialdemokraten, wie Liberale und selbst so manch kritisches SED-Mitglied zuerst ausgegrenzt und schließlich kriminalisiert wurden oder gar ermordet, wie die Parteien CDU und LDP auf Linie gebracht, ihre integersten Mitglieder verhaftet oder in Moskau erschossen wurden. Wie Wahlen, die, weil sie nicht die von den Sowjets und den einheimischen Kommunisten gewünschten Mehrheits-Ergebnisse für die SED erbrachten, behindert, verfälscht und schließlich strukturell ganz ausgehebelt und mit der installierten „Einheitsliste“ der Nationalen Front in ihr Gegenteil verkehrt wurden.

Und die jungen Leute, nach den Erfahrungen im NS-System, dessen Zwangs- und Manipulationsmechanismen sie doch nach dem 8. Mai 1945 für endgültig verschwunden geglaubt hatten, was taten sie, zusätzlich zu ihren mutigen Protest-Aktionen? Obwohl nicht wenige von ihnen aus christlichen Familien stammten, die den Nazis kritisch gegenübergestanden hatten und die aus eben diesen biographischen Prägungen Kraft für ihr Handeln zogen – von den meisten aus den Vorgänger-Generationen konnten sie dennoch kaum Hilfe erwarten, so eingeschüchtert und auch oft schuldbeladen wie diese waren, mehr oder minder Knetmasse in den Händen der nunmehr neuen Herrscher.

Also auf nach Westberlin, jedoch nicht zu den dort lebenden „typischen“ Nachkriegsdeutschen. Sondern sogleich ganz international ins British Information Centre, ins Amerika-Haus und ins Maison de France, wo die westlichen Besatzungsmächte Informationsmaterial frei verfügbar hielten – keine Propaganda, sondern tatsächlich Informationen über den Charakter der Demokratie, das heißt über freie und geheime Wahlen, über institutionell garantierte Meinungs- und Pressefreiheit und über Bürgerrechte. Und: Sie gingen zum RIAS, zum bereits damals legendären Rundfunk im Amerikanischen Sektor, in die Kufsteiner Straße 69. Und trafen dort auf einen Journalisten namens Löwenthal. Die beiden Autoren des erwähnten Ausstellungskatalogs über den Studentischen Widerstand an der Universität Leipzig 1945 – 1955 gaben dessen Vornamen mit Richard an. Und das war ja auch plausibel: Richard Löwenthal, aktiver jüdischer Nazi-Gegner und Exilant in London, nach dem Krieg zurückgekehrt, um als Sozialdemokrat vor der neuen Gefahr des sowjetischen Totalitarismus zu warnen und dann, als an den westlichen Universitäten nach 1968 nicht nur frische Luft, sondern auch nicht zu knapp ideologischer Mief einzog, Mitbegründer des „Bundes Freiheit der Wissenschaft“. Und da Richard Löwenthal selbstverständlich auch im Monat publizierte, hätte es gewiss nahe gelegen, dass sich Herbert Belter und seine Freunde bei ihm mit geistigen Verteidigungswaffen eingedeckt hatten.

Es war allerdings ein anderer Löwenthal. Doch auch nicht Leo Löwenthal, Mitbegründer der Frankfurter Schule, Exilant in den USA und dort Verfasser einer jüngst wieder aufgelegten Studie über Falsche Propheten, die autoritären Fake-News-Streuer der damaligen Zeit. Nein, es war der später deutschlandweit als Leiter des „ZDF-Magazins“ bekannt gewordene Gerhard Löwenthal, bei dem die jungen Leute vorstellig geworden waren. Auch er aus einer jüdischen Familie stammend, die Großeltern nach ihrer Deportation nach Theresienstadt in der Shoah ermordet, er selbst Überlebender des KZ Sachsenhausen. Nach dem Krieg ein überzeugter Antikommunist, hatte er es sich bereits als junger RIAS-Journalist zur Aufgabe gemacht, über die Restriktionen an den östlichen Universitäten und über die gesamten Menschenrechtsverletzungen in der „Zone“ aufzuklären und ostdeutsche Studenten mit Broschüren und Büchern zu versorgen. In seiner Autobiographie erinnert er sich namentlich an die Studenten Georg Wrazidlo, Manfred Klein und Gerda Rösch, deren nachfolgende Verhaftung ihn tief getroffen hatte. Im „ZDF-Magazin“ wird er dann später die verdienstvolle Aktion „Hilferufe von drüben“ ins Leben rufen, die unendlich vielen Bedrängten in der DDR westliche Öffentlichkeit und damit einen gewissen Schutz verschaffte. Dass Gerhard Löwenthals Nachkriegs-Blick leider nur bei linken Diktaturen auf scharf gestellt war, hat seinem noblen Engagement nicht zu knapp Schaden zugefügt – es sei jedoch hier nur am Rande erwähnt und zwar als Beispiel einer freien Entscheidung, die, wie fragwürdig auch immer, nur in einer pluralistischen Gesellschaft getroffen werden konnte, einer Gesellschaft wie sie sich auch die jungen Oppositionellen aus dem Osten vorstellten.

Und noch einmal: Verbindungslinien und Verknüpfungen. Kein Zufall, dass die Studenten in ihrer Suche nach fundierter Literatur, die ihren Grundforderungen nach freien Wahlen und freier Rede ein zusätzliches intellektuelles Gewicht geben könnte, die antitotalitären jüdischen Intellektuellen entdeckt hatten, die im Monat publizierten. So wie Jahrzehnte später der 1975 von der Universität Jena zwangsexmatrikulierte und 1977 nach Stasihaft in den Westen abgeschobene Schriftsteller Jürgen Fuchs dort intellektuelle Mentoren fand, so Manés Sperber in Paris und Heinz Brandt in Frankfurt am Main, der die Nazi-Konzentrationslager und danach Ulbrichts Bautzen überlebt hatte und für den wiederum die Propheten der Bibel eine wichtige Referenz waren: Einzelne – gewiss auch Vereinzelte – die mutig aufstanden gegen die Anmaßungen der Macht und gegen das Schweigen der Mehrheit. So wie der 1948 verhaftete Student Wolfgang Natonek Kraft fand im imaginierten Zwiegespräch mit seinem Vater Hans, der in den dreißiger Jahren als jüdischer Schriftsteller von den Nazis außer Landes getrieben worden war, bis ins ferne Amerika. Wolfgang Natonek hat acht schlimme Haftjahre überlebt, danach aber ab 1956 in Göttingen sein Studium weitergeführt – und konnte nun endlich auch den Briefwechsel mit dem Vater wiederaufnehmen, bis zu dessen Tod 1963. Vor einigen Jahren hat die Leipziger Autorin Steffi Böttger diese transatlantische Korrespondenz als Buch herausgegeben, das allen zu empfehlen ist, die sich nicht damit abfinden wollen, dass Väter und Söhne auf ewig dazu verdammt sind, einander misszuverstehen und dass Erfahrungen versanden. Aber nein, im Gegenteil!

Denn auch darauf gilt es zu bestehen, gegen alle Relativierer gestern und heute: Antinazistischer und antikommunistischer Widerstand aus demokratischer Motivation gehören zusammen, in der Wertschätzung und auch in der Erinnerung. Ich glaube, dass die Anerkenntnis dessen von ganz entscheidender Bedeutung ist – umso mehr hier auch nichts konstruiert werden muss. Da überdies ja auch die andere Seite, die der Täter, über Zeit- und Landesgrenzen hinaus operiert. Da die Einschätzung der Stasi, bei den im Sommer 1950 in Leipzig aufgefundenen Zetteln mit dem Buchstaben „F“ handele es sich um „Hetzbuchstaben“, von allen Bütteln und menschenverachtenden Regimes geteilt wurde und diese Einschätzung zum Jagen, Verhaften und Töten animierte, bleibt das „F“ die Chiffre für Freiheit. Derjenige, der Herbert Belter im April 1951 in einem Moskauer Keller ins Genick schoss, war überdies kein anderer als Wassili Blochin, der berüchtigte KGB-Offizier mit der deutschen Walther-Pistole und der ledernen Metzgerschürze, die ihn vor dem Blut seiner Opfer schützen sollte. Zuvor hatte Blochin höchstselbst u. a. den Dichter Isaak Babel erschossen und Tausende kriegsgefangene polnische Offiziere und Intellektuelle ermordet – er rühmte sich, dabei auf eine „Quote“ von 200 bis 350 Opfern pro Nacht zu kommen. (So wie im Frühjahr 2022 der ukrainische Schriftsteller Wolodymyr Wakulenko von den russischen Besatzern mit einer Makarow-Pistole ermordet wurde – wie seinerzeit Babel auch wegen seiner Texte.)

Wir könnten nun fragen, wo ist der deutsche Andrzej Wajda, wo ist der Film – ähnlich dem über das Massaker von Katyn – der Menschen wie Herbert Belter vor dem Vergessen bewahrt? Nun, so lange es einen solchen nicht gibt, müssen wir versuchen, ihn, der ebenso wie viele andere in einem Massengrab in Moskau verscharrt wurde, zumindest mit Worten aus dieser Einsamkeit und Anonymität herauszuholen. Und wir müssen darauf bestehen, dass er und seine Freunde trotz allem eben nicht allein geblieben sind, sondern dass ihr Eintreten für die Demokratie Nachfolger gefunden hat – bis heute und weltweit. Da sind diejenigen, die am 17. Juni 1953 unter höchstem Risiko demonstrierend auf die Straße gegangen sind, da sind die Dissidenten der sechziger und siebziger Jahre, die jungen Christen, Kriegsdienstverweigerer und andere Oppositionelle in den Achtzigern, da ist schließlich die immerhin Hunderttausende zählende Minderheit der 89er-Herbstdemonstranten in Leipzig, Berlin und an so viel anderen Orten.

Gerade in Deutschland mit seiner Wucht autoritärer, ja massenmörderisch totalitärer Vergangenheit gilt es an diese andere Traditionslinie aus dem 20. Jahrhundert zu erinnern – und sie ins Heute fortzusetzen, auch über Ländergrenzen hinweg. Denn wie sagte Joshua Wong, der Studentenaktivist aus Hongkong, den ich am Neujahrstag 2020, auf der letzten freien Großdemonstration in der Stadt getroffen hatte? „Ich war letzten September in Berlin, was für eine inspirierende Stadt! Wenn man es dort geschafft hat, diese Mauer... Nun, jetzt sind wir Frontstadt, eine asiatische Staat, deren Bewohner keiner totalitären Staatspartei und keinem Führer kollektiv Applaus spenden wollen.“ 

Es ist das gleiche universelle Gefühl für vergewaltigte Gerechtigkeit, das in Protest und Widerstand mündet: Bei den Jugendlichen in St. Petersburg, die mit friedlichem Gesang gegen Putins Mordmaschinerie protestieren, den jungen Frauen im Iran gegen das Mullah-Regime, den Demonstranten in Tbilissi, die von ihrer korrupten Regierung nicht erneut ins Dunkel des Kreml-Orbits gezerrt werden wollen, bei all den Hellwachen der so benannten „Generation Z“, die in Marokko und Madagaskar friedlich auf die Straße gehen, Studenten ohne akademischen Dünkel und mit Anderen ihres Alters verbunden im Einsatz für einen politisch freien und wirtschaftlich prosperierenden Rechtsstaat. Vor allem aber sind es die Studenten und Studentinnen in der Ukraine, die seit 2014 und noch mehr nach der russländischen Vollinvasion vom 24. Februar 2022, ob in der Armee oder in der Zivilgesellschaft, mit ihrem Leben dafür einstehen, dass Freiheit bewahrt und verteidigt wird – und zwar auch unsere Freiheit, inklusive der Freiheit, uns heute hier in Leipzig angstfrei und ohne Raketenangriffe versammeln zu können.

Vielleicht, aber das nur in Klammern, ist das ja auch ein Grund dafür, weshalb die ostdeutschen Studenten der Endvierzigerjahre im Westen ebenso vergessen sind wie die heutigen weltweiten Freiheitsbewegungen von weiten Teilen westlicher juste milieus ignoriert werden: Womöglich ist es ja nicht aufregend-provokativ genug, praktische Lösungen vorzuschlagen anstatt in apolitisch-utopischen Slogans zu machen, vielleicht ist der Rekurs auf einen Rechtsstaat in unseren Breiten ja inzwischen viel zu langweilig und „klickt“ nicht genug auf Social Media. Oder weil es schlicht bequemer ist – und zudem seit Ewigkeiten eingeübt – in Seminaren und Sit-ins für nahezu alle Probleme zuvorderst die Juden und den Staat Israel verantwortlich zu machen? So aber agieren Verwöhnte, die sich freiwillig fürs Nicht-Wissen entschieden haben, und sie sind keine Opfer, sondern Mitläufer, nicht selten auch Mittäter der Manipulateure.    

Aber entfernen wir uns, am Ende dieser Rede nicht erneut von den Mutigen von Leipzig? Im Gegenteil. Es ist der Versuch, sie nicht isoliert in der Vergangenheit zu belassen, sie nicht in ein historisches Ereignis einzukästeln, sondern sie und ihr Tun als etwas Gegenwarts-Relevantes wertzuschätzen. Die Frage, was sie wohl heute sagen, schreiben und tun würden, ist deshalb nicht nur Spekulation. Denn ganz gewiss würden sie, die das Kreml-Regime im furchtbarsten Sinn in Aktion erlebt hatten, heute kaum die wahrheitsverleugnende Bezeichnung von den „zwei Kriegsparteien“ akzeptieren, sondern klar auf den existentiellen Unterschied bestehen zwischen der tödlich angegriffenen Ukraine und dem Aggressor-Staat des KGB-sozialisierten Wladimir Putin. Ebenso schwer vorstellbar, dass Hans Belter und seine Studentenfreunde sich heute in schwarzweiß gewürfelte Kufiyas hüllen würden, um solcherart die gerechtfertigte Empathie mit der palästinensischen Zivilbevölkerung umzufälschen in einen ebenso dumm wie schamlos herausgeblökten Campus-Hass auf Juden. Und diejenigen, die Workuta überlebt hatten und nach ihrer Freilassung in den Westen flohen, wo sie endlich weiter studieren konnten und danach in ihren frei gewählten Berufen auf beeindruckende Weise reüssierten: Sie könnten uns heute aus solcher Lebenswirklichkeit heraus noch viel mit auf den Weg geben in Bezug auf das Humane und wirtschaftlich Prosperierende einer in Balance gehaltenen Sozialen Marktwirtschaft. 

Vor allem und niemals zu vergessen: Das klare Verständnis von Institutionen, für die die Universität ja nur ein pars pro toto ist. Wie schnell Institutionen kippen können, wenn demokratiefeindliche Kräfte sie kapern, wie flugs etwa selbst zuvor noch kritische Studenten überlaufen, wenn sich aufgrund von Wahl- und Gesetzes-Manipulationen die Machtverhältnisse gedreht haben – Sebastian Haffner hat es mit Blick auf das Geschehen von 1933 in seiner Geschichte eines Deutschen beschrieben, die jungen Leipziger Oppositionellen erlebten es in den Jahren nach 1945 angesichts der von den Sowjets unterstützten SED und der FDJ und deren ausgefeilten Techniken des Konkurrenten-Ausschaltens. Bis schließlich die gesamte Gesellschaft den Kotau zu leisten hatte. Ganz so wie es im gegenwärtigen Russland der Fall ist, wie es aber auch in Ungarn droht und mittlerweile sogar in den Vereinigten Staaten.

Und hier und heute? Die klügelnden Versuche, erklärte Feinde des Rechtsstaats „einzubinden“, mit ihnen „rote Linien zu verhandeln“, ihnen „zuzuhören“, sie „nicht zu dämonisieren“ etc – Herbert Belter und all die anderen würden uns gewiss noch heute vor den furchtbaren Konsequenzen eines solchen Selbstmordes eindringlich warnen. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Konrad-Adenauer-Stiftung

Marko Martin verließ im Mai 1989 als Kriegsdiensttotalverweigerer die DDR und lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin. Neben literarischen Tagebüchern zu Tel Aviv, Hongkong, Kuba und Südafrika erschienen in der Anderen Bibliothek zwei Erzählbände sowie der Porträtband „Dissidentisches Denken“. Zuletzt erschienen „`Brauchen wir Ketzer?` Stimmen gegen die Macht“ (Arco Verlag Wien) sowie die Essaybände „Und es geschieht jetzt. Jüdisches Leben nach dem 7. Oktober“ und „Freiheitsaufgaben“ (Tropen Verlag). 2025 erhielt Marko Martin den Reiner-Kunze-Preis sowie den Ovid-Preis für sein literarisches Werk.

Die folgende Rede von Marko Martin wurde am 27. Oktober 2025 im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Universität Leipzig gehalten. Anlass war der 75. Jahrestag der Flugblattaktion der Belter-Gruppe, die für ihren mutigen Widerstand gegen die SED-Diktatur bekannt wurde. Die Gedenkveranstaltung im Paulinum der Universität Leipzig erinnerte an Herbert Belter und seine Mitstreiter und stellte die Bedeutung ihres Vermächtnisses für die demokratische Kultur heute heraus. Neben Marko Martin sprachen unter anderem die Rektorin der Universität Leipzig, Prof. Dr. Eva Inés Obergfell, sowie der Präsident des Sächsischen Landtags, Alexander Dierks. Einen ausführlichen Bericht zur Veranstaltung finden Sie hier: 
www.kas.de/de/web/sachsen/veranstaltungsberichte/detail/-/content/75-jahrestag-der-flugblattaktion-der-belter-gruppe

Aktuelle Themen

comment-portlet

Asset-Herausgeber