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Leipziger Montagsdemonstration mit mehreren zehntausend Teilnehmern

von Jan Philipp Wölbern
30 Jahre nach dem Mauerfall steht die Frage im Raum, welche Akteure und Faktoren in welchem Maße zum Erfolg der friedlichen Revolution in der DDR von 1989 beigetragen haben. Historiker sind sich dabei weitgehend einig, dass monokausale Erklärungen der Komplexität der damaligen Situation nicht gerecht werden. Ohne Zweifel jedoch hatten die Menschen, die in der entscheidenden Phase zwischen Anfang September und Anfang November in der DDR die gesellschaftlichen Probleme in außergewöhnlicher Offenheit ansprachen und friedlich für Veränderungen demonstrierten, einen großen Anteil am Zusammenbruch der SED-Herrschaft.

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Eine kürzlich in der deutschen Öffentlichkeit ausgetragene Debatte konzentrierte sich auf die Frage, welchen Anteil die Kirchen und Bürgerrechtler am Erfolg der friedlichen Revolution in der DDR hatten. Dabei wurde behauptet, der Einfluss der Kirchen und Bürgerrechtler sei für den Gang der Ereignisse nicht entscheidend, ja unerheblich gewesen. Tatsächlich hatten Kirche und Bürgerrechtler jedoch einen großen Einfluss auf die Menschen, die sich an den Demonstrationen im Herbst 1989 beteiligten. Vor allem, dass die Demonstrationen gewaltfrei verliefen, verdankte sich ihrem mäßigenden Einfluss.


Die Kirchen boten den Menschen in der DDR eine Bühne für die freie Rede und einen geschützten Raum, der auch im Herbst 1989 offen blieb. Insbesondere die montäglichen Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche spielten dabei eine wichtige Rolle. Die Tradition dieser Friedensgebete existierte bereits seit Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre in mehreren Städten der DDR. 1989 begannen sie nach der Sommerpause wieder am Montag, dem 4. September. Ungefähr 1.000 Menschen nahmen an diesem Tag an der Andacht in Leipzig teil. Im Anschluss daran gingen etwa 800 Menschen auf die Straße und demonstrierten friedlich mit Transparenten, die unter anderem die Aufschrift „für ein offenes Land mit freien Menschen“ oder „Versammlungsfreiheit – Vereinigungsfreiheit“ trugen. Von Woche zu Woche vergrößerte sich von da an die Zahl der Teilnehmer an den Friedensgebeten und den anschließenden Demonstrationen. Ein vorläufiger Höhepunkt wurde drei Wochen später am 25. September erreicht: Rund 2.000 bis 2.500 Menschen fanden sich auf den Bänken in der Nikolaikirche ein; im Anschluss demonstrierten 4.000 bis 8.000 Menschen auf den Straßen Leipzigs.
 

 

Nicht nur in Leipzig, sondern auch an vielen weiteren Orten in der DDR fanden im Anschluss an Andachten in Kirchen öffentliche Demonstrationen statt. In den Friedensgebeten sprachen die Geistlichen und Laien die gesellschaftlichen Probleme in außergewöhnlicher Offenheit an, riefen beständig zur Gewaltfreiheit auf und gaben praktische Anweisungen für gewaltfreies Handeln – insbesondere mit Blick auf die unmittelbar nachfolgenden Demonstrationen. Das bedeutete weder eine direkte „Steuerung“ der Demonstrationen durch die Kirchen, noch dass ihr Einfluss schlagartig an den Kirchentüren geendet hätte. Zweifellos aber hatten die Andachten eine Wirkung auf die Stimmung, den „Geist“, in dem die Demonstrationen stattfanden. Was in den Friedensgebeten gesagt wurde, sprach die Menschen emotional an. Ein Beispiel aus dem Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche am 25. September 1989 illustriert dies anschaulich: Pfarrer Christoph Wonneberger predigte dort über Gewaltlosigkeit:

„Angst? Angst haben wir, denke ich, alle. Und nicht nur dann, wenn wir einsam sind. … Aber: ‚Fürchtet euch nicht! Mir ist gegeben alle Gewalt, im Himmel und auf Erden.‘ - so sagte einst Jesus. … Gegenüber solcher Vollmacht sind Stasi-Apparat, Hundertschaften, Hundestaffeln nur Papiertiger. (Beifall])Also: Fürchtet euch nicht! Wir können auf Gewalt verzichten. (…) Eines ist aber klar: der erste verletzte Polizist führt unweigerlich zu einer Eskalation der Gewalt, wie wir es uns jetzt wirklich nicht vorstellen können. Deshalb müssen wir, die wir hier versammelt sind, strikt das Prinzip der Gewaltlosigkeit vertreten. Das gilt auch ... (langer Beifall]) gegenüber Provokateuren, die in unseren Reihen sind. (Beifall) Einige Anregungen zu gewaltlosem Handeln wollen wir nachher noch geben. (Beifall)“
 

Das Friedensgebet und die Großdemonstration zwei Wochen später, am Montag, den 9. Oktober, sind als „Tag der Entscheidung“ in die Geschichte eingegangen. In der Vorwoche war es vor allem in Dresden und Berlin zu gewalttätigen Ausschreitungen der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten und Ausreisewillige gekommen. In Leipzig herrschte deshalb große Anspannung, denn es war zu befürchten, dass die Demonstrationen diesmal mit Gewalt niedergeschlagen würden. Gerüchte über militärische Verbände der NVA, die zu diesem Zweck in der Nähe der Stadt zusammengezogen worden seien, verbreiteten sich in der Bevölkerung. In der linientreuen „Leipziger Volkszeitung“ hatte ein Kampfgruppenkommandeur wenige Tage zuvor angekündigt, die bestehende Ordnung notfalls „mit der Waffe in der Hand“ zu verteidigen.

 

Doch die Menschen überwanden ihre Angst und strömten am 9. Oktober 1989 in die vier Leipziger Kirchen, in denen das Friedensgebet an diesem Tag zeitgleich stattfand. Danach vereinigten sie sich mit zehntausenden Demonstranten – einige Schätzungen veranschlagen ihre Zahl auf 70.000 – und zogen über den Leipziger Ring. Ein Aufruf von drei SED-Funktionären der Bezirksleitung und drei Leipziger Prominenten, darunter der Dirigent Kurt Masur, zu „Besonnenheit“ und „friedlichem Dialog“ wirkte deeskalierend. Die Demonstration blieb friedlich, der Schusswaffengebrauch seitens der Sicherheitsorgane blieb aus.


Für diesen Gewaltverzicht der SED-Funktionäre in Berlin und in den Bezirken gab es mehrere Gründe. Das Hauptmotiv der Machthaber war jedoch, dass der Preis für Schüsse auf friedliche, mit Transparenten und Kerzen „bewaffnete“ Demonstranten einen massiven Legitimitäts- und Gesichtsverlust des SED-Regimes bedeutet hätte. Hinzu kam, dass die friedlichen Demonstrationen das ideologische Feindbild der Sicherheitsorgane widerlegten: Die in der Regel im DDR-Sozialismus aufgewachsenen Demonstranten waren unübersehbar keine vom Westen gesteuerten Feinde des Sozialismus, sondern Bürgerinnen und Bürger, die sich um die Zukunft des Landes sorgten und friedlich auf Veränderungen drängten.
 

Insgesamt beteiligten sich in dem für den Erfolg der friedlichen Revolution entscheidenden Phase zwischen Anfang September und Anfang November 1989 grob geschätzt eine Million Menschen an den Demonstrationen. Gemessen an den knapp 16 Millionen Einwohnern der DDR war das zwar eine Minderheit, doch diese setzte sich schließlich gegen die Kräfte der Beharrung durch. Dass die friedliche Revolution weder Invaliden hinterließ noch Todesopfer forderte, ist nicht zuletzt auch damit zu erklären, dass das Regime in den entscheidenden Wochen im Herbst 1989 es nicht mehr wagte, vor den Augen der Weltöffentlichkeit brutal gegen das eigene Volk vorzugehen. Schließlich zeigten die Bilder von der Leipziger Montagsdemonstration , die am 10. Oktober im Westfernsehen und damit auch in der DDR zu sehen waren, friedliche Menschenmassen, die mit der Parole „Keine Gewalt“ und „Wir sind das Volk“ die Leipziger Innenstadt umrundeten und damit wirklich und sinnbildlich am Rad der Geschichte drehten.
 

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