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In Wildbad Kreuth beschließt die CSU-Landesgruppe, die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU im Bundestag zu beenden

von Tim B. Peters
Die Nachricht schlägt wie eine Bombe ein: Am 19. November 1976 gibt die CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag nach zehnstündiger Diskussion den wartenden Journalisten die Aufkündigung der Fraktionsgemeinschaft mit der CDU bekannt. Die Landesgruppe, die in Wildbad Kreuth zu ihrer Klausurtagung zusammentrifft, setzt damit ein Zeichen, das trotz der Rücknahme des Beschlusses am 12. Dezember 1976 als „Geist von Kreuth“ überdauert hat.

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Mythos „Kreuth“

Bis heute dient der Name des oberbayerischen Kurorts als plakatives Schlagwort beim Aufkommen von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Schwesterparteien. Doch täuscht dieser Mythos darüber hinweg, dass die Frage einer Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU bereits seit dem Zusammentritt des ersten Bundestages immer wieder gestellt wird. „Bleiben wir doch jetzt am Anfang im Verlobungsstand und warten wir ab, ob daraus eine Ehe wird“, äußert der spätere Bundesfinanzminister im Kabinett Adenauer, Fritz Schäffer, im August 1949. In seinem Sinne entscheiden sich die CSU-Abgeordneten für eine eigenständige bayerische Landesgruppe in einer CDU/CSU-Fraktionsgemeinschaft. Dennoch bleibt diese Gemeinschaft nicht unumstritten. Ihre Fortsetzung muss zu Beginn jeder Wahlperiode neu beschlossen werden. Der vielzitierte Trennungsbeschluss von Kreuth ist daher – genau genommen – lediglich die Nichterneuerung einer Vereinbarung, die in ihrem zeitgeschichtlichen Zusammenhang gesehen werden muss.

 

Bundestagswahl 1976

Nach einem intensiv geführten Wahlkampf der CDU unter dem Motto „Freiheit statt Sozialismus“ – die CSU entscheidet sich für den Slogan „Freiheit oder Sozialismus“ – rechnet die Union fest damit, die sozialliberale Koalition nach sieben Regierungsjahren wieder abzulösen. Die Mehrheit aus eigener Kraft scheint greifbar nah. Bis zuletzt liefern sich Regierungs- und Oppositionsparteien einen harten Schlagabtausch. So dauert die von ARD und ZDF live übertragene Elefantenrunde der Parteivorsitzenden von CDU, CSU, SPD und F.D.P. drei Tage vor der Wahl über vier Stunden.

Am Wahlabend des 3. Oktober 1976 fahren die Unionsparteien bei einer Wahlbeteiligung von über neunzig Prozent dann ihr bis dato zweitbestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl ein. Sie steigern ihren Stimmenanteil gegenüber 1972 um 3,7 Prozentpunkte auf 48,6 Prozent und bilden klar die stärkste Fraktion im 8. Deutschen Bundestag. Dennoch ist die Ernüchterung bei Christdemokraten und Christsozialen groß. Der CDU-Vorsitzende und gemeinsame Spitzenkandidat, Helmut Kohl, steht am Ende mit leeren Händen da. Die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt erreicht trotz Stimmenverlusten eine hauchdünne Mehrheit. Kohls Koalitionsangebot an den F.D.P.-Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher und sein demonstrativer Besuch bei Bundespräsident Walter Scheel laufen ins Leere. Bereits am 5. Oktober statten auch Genscher und der SPD-Vorsitzende Willy Brandt dem Bundespräsidenten einen Besuch ab und demonstrieren damit ihren Willen zur Fortführung der gemeinsamen Regierungsarbeit.

 

Strauß und die „Vierte Partei“

Die herbe Enttäuschung über den so denkbar knapp gescheiterten Regierungswechsel führt schnell zu gegenseitigen Schuldzuweisungen im Unionslager. Die Frage nach der richtigen Oppositionsstrategie, die seit 1969 im Raum steht und bereits bei der Auseinandersetzung um die Ratifizierung der Ostverträge brisant wurde, wird erneut diskutiert. Franz Josef Strauß macht die Wahlkampfführung der CDU verantwortlich für die wenigen fehlenden Stimmen. Seitens der CDU wiederum wird das polarisierende Image des CSU-Vorsitzenden als ausschlaggebend für die knappe Niederlage gesehen. Vor diesem Hintergrund trifft sich die Landesgruppe zu ihrer Klausurtagung in Kreuth, bei der in geheimer Abstimmung mit 30 Ja- und 18 Nein-Stimmen die Bildung einer eigenen Fraktion beschlossen wird.

Die überraschende Ankündigung wird sogleich mit den persönlichen Ambitionen von Franz Josef Strauß und dessen unionsinterner Konkurrenz zu Helmut Kohl in Verbindung gebracht. Letzterer erfährt „offiziell“ erst aus den Medien von der Trennung. Zwar ist Kohl – wie er in seinen Erinnerungen schildert – durch einen Vertrauten in der CSU bereits informiert, doch der unverhüllte Affront aus Bayern prägt die weiteren zwischenmenschlichen Beziehungen. Wenige Tage später, am 24. November 1976, gewinnt die Rivalität zwischen beiden zusätzlich an Brisanz, als Strauß in der sogenannten „Wienerwald-Rede“ vor dem Landesausschuss der Jungen Union Bayern Kohl die Befähigung zur Führung des Amtes des Bundeskanzlers abspricht. Die in der Münchner Hauptverwaltung eines Gastronomiekonzerns gefallenen Äußerungen werden heimlich aufgezeichnet und geraten an die Presse.

Vor dem Hintergrund der seit 1969 regierenden sozialliberalen Koalition und des Drei-Fraktionen-Parlaments spielen aber auch handfeste taktische Überlegungen eine gewichtige Rolle. Der Union fehlt die F.D.P als notwendiger Koalitionspartner, so dass der Gedanke an eine bundesweit agierende „Vierte Partei“ für einige Parteistrategen bei der CSU durchaus interessant erscheint. Eine Ausweitung auf weitere Bundesländer könnte der CSU – so die Überlegung – neue Wählerschichten erschließen, um gemeinsam mit der CDU wieder mehrheitsfähig zu werden. Neben der politischen Mitte könnten so in der gesamten Bundesrepublik auch rechtskonservative Wählergruppen angesprochen werden. Über den damit verbundenen Bedeutungsgewinn für die CSU hinaus erhofft sich Strauß durch die Auflösung der Fraktionsgemeinschaft zudem mehr Redezeit und Ausschusssitze im Parlament.

 

Sorge vor „Weimarer Verhältnissen“

In weiten Kreisen der CDU, aber auch in Teilen der CSU, wird die Ankündigung hingegen mit blankem Entsetzen zur Kenntnis genommen. Der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl bezeichnet den Landesgruppenbeschluss in einer Sondersitzung des Präsidiums am 20. November 1976 als „die tiefgreifendste Entscheidung im deutschen Parteiengefüge seit 27 Jahren, deren Konsequenzen für die weitere politische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht abzusehen sind“. Andere Kritiker des Beschlusses, wie der CDU-Bundestagsabgeordnete und frühere Bundesminister Johann Baptist Gradl, warnen vor einer Parteienzersplitterung und der damit verbundenen Wiederkehr „Weimarer Verhältnisse“. Viele fühlen sich an die fatale Rolle der Bayerischen Volkspartei (BVP) erinnert, die bei der Reichspräsidentenwahl 1925 dem demokratischen Zentrumspolitiker Wilhelm Marx ihre Unterstützung verweigerte und stattdessen Paul von Hindenburg ins höchste Amt der Republik verhalf. Auch zwischen Zentrum und BVP hatte bis 1920 eine Fraktionsgemeinschaft im Reichstag bestanden. Die konfessionsübergreifende Einheit der Union, die nach 1945 unter großen Mühen erreicht wurde, erscheint nun durch den bayerischen Sonderweg gefährdet.

 

Fortsetzung der „Fraktionsehe“

Um die Einheit der Union zu verteidigen, zeigt sich die CDU kampfbereit. Am 22. November 1976 fordert der CDU-Bundesvorstand die CSU auf, „ihren Willen zur Aufrechterhaltung der Einheit der Union in einer satzungsmäßig verbindlichen Form zum Ausdruck zu bringen“. Andernfalls werde es zur Ausweitung der CDU und der Gründung eines eigenen Landesverbands Bayern kommen. Eine Woche später, am 29. November 1976, erneuert der Bundesvorstand diese Ankündigung in einer Presseerklärung und bekräftigt sie auf ultimative Weise. Spätestens bis zur konstituierenden Sitzung des 8. Deutschen Bundestages am 14. Dezember 1976 soll die Fraktionsgemeinschaft wiederhergestellt sein. In dieser angespannten Situation kommt es am 1. Dezember 1976 zu einem ersten Gespräch zwischen den Parteiführungen. Es bildet den Auftakt zu mehreren Verhandlungsrunden, die allerdings zunächst ohne Durchbruch bleiben und die Fraktionstrennung zu besiegeln scheinen. CDU-intern laufen daher die Vorbereitungen für den Fall der Fälle weiter. Zahlreiche enttäuschte CSU-Mitglieder bieten in Briefen ihre Unterstützung an, Kostenpläne für den Organisationsaufbau werden erstellt, Plakatentwürfe ausgearbeitet, Strategien der Mitgliederwerbung in Bayern konzipiert und ein Landesparteitag der CDU Anfang 1977 in Nürnberg angedacht. Sollte die CSU-Landesgruppe ihren Kreuther Beschluss aufrechterhalten, so ist der CDU-Bundesvorstand „entschlossen, die Einheit der Unionspolitik und ihrer Vertretung im Deutschen Bundestag für die ganze Bundesrepublik Deutschland durch die Kandidatur der CDU auch in Bayern zu ermöglichen“, wie der Presse am 9. Dezember 1976 mitgeteilt wird. Dennoch bleibt das übergeordnete Ziel in der größeren Schwesterpartei, die durch getrennte Fraktionen unweigerlich entstehende Spaltung der Union zu verhindern. Die aufgebaute Drohkulisse zeigt schließlich Wirkung in Bayern. Am 12. Dezember 1976 einigen sich die Spitzen von CDU und CSU auf eine Fortsetzung der Fraktionsgemeinschaft. Die Rückkehr zum Status quo ante, wie er seit 27 Jahren Bestand hatte, ist damit erreicht.

In der neuen Fraktionsvereinbarung wird jedoch die Eigenständigkeit der bayerischen Gruppe stärker herausgestellt. Erstmalig werden auch die Grundlagen der politischen Zusammenarbeit in einer eigenen Vereinbarung zwischen den Schwesterparteien fixiert. Eine paritätisch zu besetzende Strategiekommission soll auf Grundlage des Wahlprogramms von CDU und CSU die gemeinsame Oppositionspolitik entwickeln. Die CSU kann so den für ihr Selbstverständnis als eigenständige Partei wichtigen bundesweiten Geltungsanspruch bei den von ihr vertretenen Positionen deutlicher betonen. Die CDU-Spitze um Helmut Kohl wiederum hat dank ihres entschlossenen Auftretens die Einheit der Union und die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU sichern können – und damit die Basis für seine erfolgreiche Arbeit als Bonner Oppositionsführer in den folgenden Jahren gelegt.

 

Literatur:

  • Günter Buchstab, Ein parlamentarisches Unikum: die CDU/CSU-Fraktionsgemeinschaft, in: Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Die Fraktion als Machtfaktor. CDU/CSU im Deutschen Bundestag 1949 bis heute, München 2009, S. 255–274.
  • Wolfgang F. Dexheimer, Die CSU-Landesgruppe. Ihre organisatorische Stellung in der CDU/CSU-Fraktion, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 3. Jg. (1972), H. 3, S. 307–313.
  • Robert Graeff, Der Versuch einer Neuformierung der Opposition: Die Kreuther Beschlüsse der CSU und ihre Folgen, in: Heino Kaack/ Reinhold Roth (Hrsg.), Parteien-Jahrbuch 1976. Dokumentation und Analyse der Entwicklung des Parteiensystems der Bundesrepublik Deutschland im Bundestagswahljahr 1976, Meisenheim am Glan 1979, S. 404–426.
  • Alf Mintzel, Der Fraktionszusammenschluß nach Kreuth: Ende einer Entwicklung?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 8. Jg. (1977), H. 1, S. 58–76.
  • Ders., Franz Josef Strauß und die CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, in: Friedrich Zimmermann (Hrsg.), Anspruch und Leistung. Widmungen für Franz Josef Strauß, Stuttgart-Degerloch 1980, S. 281–307.
  • Dieter Oberndörfer, Kreuth und die Parteienlandschaft nach der Wahl, Interview in: Herder Korrespondenz, 31. Jg. (1977), H. 1, S. 18–25.
  • Peter Quay, Die Union nach Kreuth, in: Sonde. Neue Christlich-Demokratische Politik, 9. Jg. (1976), Nr. 4, S. 29–36.
  • Otmar Schneider, Zur Fraktionsgemeinschaft zwischen CDU und CSU, in: Sonde. Neue Christlich-Demokratische Politik, 13. Jg. (1980), Nr. 4, S. 21–26.
  • Andreas Zellhuber/ Tim B. Peters (Bearb.), Die CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949–1972 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Vierte Reihe, Bd. 15/I), Düsseldorf 2011.

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