Vorläufer
Mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) am 23. Juli 1952 entstand auch die Gemeinsame Versammlung. In diese entsandten die Mitgliedsländer Italien, Frankreich, Belgien, Luxemburg, die Niederlande und Deutschland insgesamt 78 Repräsentanten, deren Funktion und Kompetenzen stark limitiert waren.
Aber mit der Entscheidung, eine solche Versammlung zu schaffen, begründeten die Väter der europäischen Integration eine moderne, einzigartige Institution. Zum einen war es die erste internationale Versammlung mit garantierten, legalen Rechten. Diese beschränkten sich jedoch zunächst auf die die Diskussion des Rechenschaftsberichts der Hohen Behörde sowie auf die Möglichkeit eines Misstrauensvotums gegen diese Institution. Zum anderen war bemerkenswert, dass sich die Mitglieder nicht nach nationalen Interessen organisierten, sondern sich schon bald in politischen Gruppierungen zusammen fanden. Deren Gewicht zeigte sich schon bald in der nach Zusammengehörigkeit und nicht national oder alphabetisch ausgerichteten Sitzordnung und in der Wahl des ersten Parlamentspräsidenten. Paul-Henri Spaak wurde mit den Stimmen aller Sozialisten und Sozialdemokraten gewählt – auch der Deutschen, die damit gegen ihren christdemokratischen Landsmann Heinrich von Brentano stimmten. Folgerichtig bildeten sich bald politische Gruppen, als erstes am 23. Juni 1953 die christliche-demokratische Gruppe, gefolgt von den Sozialisten und Liberalen.
Anfänge
Am 1. Januar 1958 nahmen die neugegründete Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) und deren jeweilige Institutionen ihre Arbeit auf. Während nunmehr durch das Fortbestehen der EGKS drei Kommissionen nebeneinander arbeiteten, war beschlossen worden, für alle drei Institutionen nur eine Versammlung einzurichten. Diese wurde auf 142 Mitglieder erweitert. Am 19. März 1958 kamen die - weiterhin von den nationalen Parlamenten entsandten - Repräsentanten zum ersten Mal zusammen – auch mit der Aufgabe, der neuen Institution einen Namen zu geben.
Bereits am 17. März trafen sich die christlich-demokratischen Abgeordneten zu einer Fraktionssitzung, in der es auch um die Frage der Bezeichnung ging. Um Verwechslungen mit anderen internationalen Versammlungen zu vermeiden, schlug der Präsident der Gruppe, Pierre Wigny, vor, den Namen „Europäische Parlamentarische Versammlung“ zu verwenden. Nach der Zustimmung seiner eigenen Gruppe konnte Wigny in der Sitzung am nächsten Tag auch das Einverständnis der anderen Gruppen vermelden – mit Ausnahme einiger weniger Sozialisten. Wiederum einen Tag später, auf ihrer ersten Sitzung, stimmte die Versammlung dem von der christlich-demokratischen Gruppe vorgeschlagenen Namen schließlich zu.
Das gesteigerte Selbstbewusstsein der christlich-demokratischen Fraktion zeigte sich auch darin, dass man betonte, den Präsidenten der neuen Institution stellen zu wollen. Dafür wurde Robert Schuman vorgeschlagen, der dann von der Europäischen Parlamentarischen Versammlung schließlich auch gewählt wurde.
Auf dem Weg zu direkten Wahlen
Die Artikel 138,3 des EWG-Vertrags sowie 108,3 des Euratom-Vertrags sahen vor, dass die Abgeordneten der Parlamentarischen Versammlung direkt gewählt werden sollten. Die Versammlung selbst erhielt durch die Verträge den Auftrag, eine Vorlage für die Abhaltung einer Direktwahl zu erstellen.
Dieser Auftrag gestaltete sich schwieriger und langwieriger als vorauszusehen war, obwohl die Versammlung selbst schon im Mai 1961 einen ersten Entwurf für die Durchführung einer Direktwahl vorlegte, gefolgt von zwei weiteren 1963 und 1969. Eine nicht unwichtige Zwischenetappe bildete die Entscheidung der Versammlung vom 20. März 1962, sich selbst Europäisches Parlament zu nennen. Offiziell wurde dieser Name jedoch erst im Jahr 1987 durch die Einheitlichen Europäischen Akte bestätigt.
Insgesamt und trotz kleinerer Kompetenzerweiterungen konnte sich die Parlamentarische Versammlung im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens nicht deutlich weiterentwickeln. Das lag sicherlich auch daran, dass die Europäischen Gemeinschaften von Juli 1965 an mit der sogenannten „Politik des leeren Stuhls“ durch den Rückzug der französischen Vertreter insgesamt eine schwere Zeit erlebten. Erst mit dem Inkrafttreten des Fusionsvertrags am 1. Juli 1967 konnte diese Krise beendet werden. 1971 und 1975 wurden dem Europäischen Parlament schließlich erste Haushaltsrechte zugestanden, die weltweit in parlamentarischen Versammlungen im Zentrum der demokratischen Kompetenzen stehen.
Durch die Erweiterung der EWG 1973 um Dänemark, Irland und Großbritannien vergrößerte sich auch das Parlament auf insgesamt 198 Mitglieder. Ein Jahr später entschied der Pariser Gipfel am 9./10. Dezember 1974, 1978 direkte Wahlen zum Europäischen Parlament abzuhalten, die dann schließlich mit leichter Verzögerung vom 7. bis 10. Juni 1979 stattfanden.
Kampf für mehr Kompetenzen
Zwar änderte die Abhaltung der Direktwahlen zunächst nichts Grundlegendes an der Stellung des Europäischen Parlaments, aber sie sorgten doch für einige wichtige Begleiterscheinungen. Eine davon war die Gründung der Europäischen Volkspartei (EVP) am 8. Juli 1976 und in der Folge die Umbenennung der christlich-demokratische Fraktion und die Verabschiedung eines Grundsatzprogramms auf dem ersten EVP-Kongress am 6./7. März 1978. Auch die anderen politischen Strömungen schlossen sich zusammen. Es war allerdings nur die EVP, die konsequent den Schritt bis zur konkreten Parteigründung und zur Ausarbeitung eines detaillierten Programms gegangen ist.
Durch die auf 410 um mehr als das Doppelte erhöhte Anzahl von Abgeordneten musste sich das direkt gewählte Europäische Parlament eine neue Geschäftsordnung geben. Diese interne Festlegung konnte 1981 abgeschlossen werden und regelt bis heute die Grundlage der Arbeit des Parlaments. Außerdem erhöhte die Direktwahl der Parlamentsmitglieder deren politische Autorität, was der Volksvertretung insgesamt mehr Selbstbewusstsein gegenüber den europäischen Institutionen gab.
In den nächsten Jahren kämpfte das Europäische Parlament vor allem um die Erweiterung seiner Kompetenzen. Aus dem Parlament heraus setzte sich dafür eine Gruppe um den italienischen Abgeordneten Altiero Spinelli ein, die „Crocodile Club“ genannt und 1981 als Institutioneller Ausschuss zu einer festen Einrichtung wurde.
Erfolge stellten sich nach und nach ein. Hierzu zählten die Festlegungen in der Feierlichen Deklaration zur Europäischen Union von Stuttgart 1983, die 1987 in Kraft getretene Einheitliche Europäische Akte sowie die Verträge von Maastricht (in Kraft 1993), Amsterdam (1999), Nizza (2003) und Lissabon (2009). Der Vertrag von Maastricht und der Vertrag von Lissabon brachten dabei die besonders weitreichenden und entscheidenden Änderungen.
Ein nach außen gut sichtbares Symbol für den Bedeutungszuwachs durch den Lissabonner-Vertrag war die Aufstellung von Spitzenkandidaten für die Wahl des Europäischen Parlaments 2014, die Jean-Claude Juncker durch die entsprechende Stimmenmehrheit seiner Unterstützer letztlich auch den Posten als Kommissionspräsident einbrachte. Die zunehmende Bedeutung zeigt sich auch in der Tatsache, dass die „Nicht-Beteiligung“ des Europäischen Parlaments an der Formulierung europäischen Rechts von über 70 Prozent zum Zeitpunkt des Abschlusses des EWG-Vertrags auf 34,8 Prozent abgenommen hat.
Ein bleibendes und gravierendes Thema, nicht nur für die inzwischen 751 Abgeordneten, sondern auch für die Legitimität der gesamten Europäischen Union ist die Wahlbeteiligung. Während 1979 noch 63 Prozent der Bevölkerung der damaligen Europäischen Gemeinschaften zur Wahl gingen, waren es 2014 nur noch rund 48 Prozent. Von der erfolgreichen Mobilisierung der Wähler hängen schließlich auch die Autorität und das Selbstbewusstsein des Europäischen Parlaments ab. Wenngleich nicht verschwiegen werden darf, dass die Wahlbeteiligung im Durchschnitt auch bei den nationalen Wahlen eher abnehmend ist. Wie auch immer sich hier der Trend entwickeln wird: Der Weg zu mehr Kompetenzen des Parlamentes und einer damit auch immer deutlicher steigenden demokratischen Legitimität des europäischen Einigungswerkes, der aus der Gesandten-Versammlung ein einflussreiches Parlament gemacht hat, ist jedenfalls unumkehrbar.
Literatur:
- Borchard, Michael (Hrsg.): Deutsche Christliche Demokraten in Europa. Sankt Augustin/Berlin 2020.
- Corbett, Richard/Jacobs, Francis/Shackleton, Michael (Hg): The European Parliament. London 2007.
- Dialer, Doris: Handbuch zum Europäischen Parlament. Baden-Baden 2015.
- Amie Kreppel: The European Parliament and supranational Party System. A Study in International Development. Cambridge 2002.
- Andreas Maurer: The Legislative Powers and Impact of the European Parliament, in: JCMS 41,2 (2003), S. 227–247.
- Jürgen Mittag: 30 Jahre Direktwahlen zum Europäischen Parlament. Baden-Baden 2011.