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Unterzeichnung des Abkommens über Entschädigungsleistungen Deutschlands für die Ermordung von Juden in der NS-Zeit

von Wolfgang Tischner

"Luxemburger Abkommen"

Als am 10. September 1952 im Rathaus der Stadt Luxemburg Bundeskanzler Konrad Adenauer und der israelische Außenminister Moshe Sharett das Abkommen über Entschädigungsleistungen Deutschlands für die Ermordung der Juden in der NS-Zeit unterzeichneten, war dies der erste Schritt auf dem langen Weg zu einer Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen. Was heute selbstverständlich erscheint – die Sühneleistung für Verbrechen im deutschen Namen –, war innenpolitisch sowohl in der Bundesrepublik wie auch in Israel hoch umstritten.

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Die Ausgangslage

Mit dem Zusammenbruch Hitlerdeutschlands 1945 begann auch die Aufarbeitung des Völkermordes an den Juden. Die Verurteilung der NS-Verbrechen wurde nach 1945 in der deutschen Gesellschaft nicht durchweg geteilt. Die Kriegsverbrecherprozesse von Nürnberg etwa litten unter dem Manko, in Deutschland als „Siegerjustiz“ empfunden zu werden, und entsprechende Maßnahmen der Besatzungsmächte stießen auf deutsche Ressentiments. Nach der Gründung beider deutscher Staaten 1949 nahm die DDR für sich in Anspruch, als „Arbeiter- und Bauernstaat“ per se „antifaschistisch“ zu sein und dementsprechend nicht für NS-Verbrechen haften zu müssen. Während sich auch Österreich zu „Hitlers erstem Opfer“ stilisierte, stellte sich lediglich die junge Bundesrepublik der historischen Verantwortung. Allerdings war auch hier die persönliche Autorität Konrad Adenauers bestimmend, der darauf bestand, dass der erste völkerrechtliche Vertrag der Bundesrepublik der Wiedergutmachung dienen müsse. „Wir mussten das Unrecht, das den Juden angetan worden ist von den Nationalsozialisten soweit gut machen, wie das irgend möglich war“, erinnerte er sich später. Durch ein Interview signalisierte er kurz nach seiner Wahl zum Bundeskanzler die Bereitschaft der Bundesrepublik, Entschädigungszahlungen zu leisten. Nach einigen Verzögerungen kam es dann zu deutsch-israelischen Kontakten, die in offiziellen Verhandlungen mündeten.

 

Die Vertragsverhandlungen

Als Leiter der deutschen Delegation bei den Verhandlungen entschied sich Adenauer auf Vorschlag von Staatssekretär Walter Hallstein Ende 1951 für den Frankfurter Ordinarius Franz Böhm (1895–1977). Böhm, der in der NS-Zeit wegen judenfreundlicher Äußerungen knapp einem Sondergerichtsverfahren und einer Einweisung ins KZ entgangen war, gehörte als ausgewiesener Kartellrechtler und Mitglied der „Freiburger Schule“ auch zu den geistigen Vätern der Sozialen Marktwirtschaft. Er war von der Notwendigkeit einer deutschen Sühneleistung überzeugt und hatte die Bereitschaft dazu zur Vorbedingung für die Übernahme des Verhandlungsmandats gemacht.

In Israel war die Annahme von deutschen Entschädigungen hoch umstritten und wurde von weiten Teilen der Öffentlichkeit als „Blutgeld“ abgelehnt. Andererseits stand der junge jüdische Staat mit dem Rücken zur Wand: verwickelt in einen permanenten militärischen Spannungszustand mit seinen arabischen Nachbarn, war die Wirtschaftsleistung völlig unzureichend, um die für den industriellen Aufbau und die Rüstung notwendigen Mittel zu erwirtschaften. Außerdem war insbesondere Staatsgründer David Ben Gurion von Adenauers persönlicher Lauterkeit überzeugt und machte einen deutlichen Unterschied zwischen der Bundesrepublik und dem „Dritten Reich“.

Verkompliziert wurden die deutsch-israelischen Gespräche, die am 21. März 1952 begannen, durch die gleichzeitigen Verhandlungen in London über die deutschen Vorkriegsschulden. Dort versuchte der deutsche Delegationsleiter Hermann Josef Abs, eine für die Bundesrepublik möglichst geringe Schuldquote auszuhandeln. Dabei war ihm natürlich nicht an der Anerkennung der kaum quantifizierbaren Verpflichtung, Entschädigung für die NS-Verbrechen zu leisten, gelegen. Außerdem gilt im Insolvenzrecht das Verbot der „Gläubigerbevorzugung“, was bedeutet, dass Gläubiger zu gleichen Teilen aus der Insolvenzmasse bedient werden müssen, solange nicht vor der Insolvenz eine Rangfolge festgelegt wurde. Verständlicherweise wiederum bestanden die Israelis auf dem Vorrang der moralischen Schuld vor den reinen Geschäftsschulden des Deutschen Reiches, eine Position, die Böhm und auch Adenauer teilten.

Adenauer selbst musste schwere Bedenken in seinem Kabinett überwinden: Der CSU-Finanzminister Fritz Schäffer versuchte aus buchhalterischen Bedenken die Verhandlungen mit Israel zu torpedieren, und auch die kleinen Koalitionspartner Deutsche Partei und FDP artikulierten lange Vorbehalte. Einen deutlichen Rückhalt fand der Bundeskanzler jedoch bei Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, der mit der Autorität des „Vaters des Wirtschaftswunders“ Zweifel, ob die deutsche Wirtschaft die Last der Entschädigungszahlungen zu schultern vermöge, vom Tisch wischte.

Die eigentlichen Verhandlungen liefen für diplomatische Gepflogenheiten sehr unkonventionell ab. Da die Bundesrepublik und Israel noch keine diplomatischen Beziehungen unterhielten, wurde in Wassenaar bei Den Haag verhandelt. Nach einem sehr frostigen Auftakt gewannen Böhm und sein Stellvertreter, der Rechtsanwalt Otto Küster, ebenfalls kein Karrierediplomat, schnell das Vertrauen ihrer israelischen Gegenparts, vor allem des späteren inoffiziellen israelischen Vertreters in der Bundesrepublik Deutschland, Felix Shinnar. Verhandelt wurde, da alle Beteiligten in Deutschland geboren waren, nicht in den damals üblichen Verhandlungssprachen Englisch oder Französisch, sondern auf Deutsch. Beide Seiten informierten sich gegenseitig über die Probleme, denen sie sich in ihren Heimatländern gegenübersahen – ein Verfahren, dass die jeweiligen Außenministerien kaum gutgeheißen hätten.

Dieses gegenseitige Vertrauen war wohl auch entscheidend dafür, dass der Vertrag überhaupt zustande kam. Die juristischen Probleme waren zwar kompliziert, konnten aber konstruktiv gelöst werden: So etwa die Frage, wie man den zur Zeit des Holocausts noch gar nicht existenten jüdischen Staat für die NS-Verbrechen entschädigen konnte, was über die Konstruktion gelang, ihm die Kosten für die Integration der nach Israel geflüchteten Juden zu ersetzen. Nach Einschätzung Böhms waren die israelischen Forderungen, gemessen an der damals vorhandenen Wirtschaftskraft der Bundesrepublik hoch, aber gering, wenn man sie in Relation zum Ausmaß der NS-Verbrechen setzte. Trotzdem standen die Verhandlungen zwischenzeitlich vor dem Abbruch, als sich Adenauer auf Betreiben von Abs zu einem nur sehr niedrigen deutschen Angebot bei der Gesamtsumme der zu zahlenden Entschädigungen bewegen ließ.

Böhm informierte darüber im Vorfeld die Israelis, die entsprechend harsch mit einer Sistierung der Verhandlungen reagierten. Außerdem traten sowohl Böhm als auch sein Stellvertreter am 18. Mai 1952 zurück und teilten dies der Presse mit, was natürlich die Position Adenauers desavouierte. Wäre Böhm ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes gewesen, so wäre er für diese Schritte entlassen worden. Adenauer wurde jedoch nach einem turbulenten Gespräch mit Böhm deutlich, dass dieser mit seiner moralisch bestimmten Einschätzung richtig lag: „Normale“ diplomatische Gepflogenheiten konnten bei diesen Verhandlungen keine Geltung haben. Adenauer – und hierin liegt sicherlich seine Größe – gestand seinen Fehler ein und bat Böhm, seine Demission zurückzunehmen und die Israelis zu einer Wiederaufnahme der Verhandlungen zu bewegen, was auch gelang.

Am 10. September 1952 unterzeichneten der Bundeskanzler und der israelische Außenminister Moshe Sharett das „Luxemburger Abkommen“ zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staate Israel über Wiedergutmachungsleistungen. Darin verpflichtete sich die Bundesrepublik Deutschland, innerhalb von 12 bis 14 Jahren dem Staate Israel einen Betrag von 3 Milliarden DM zu zahlen bzw. in Waren zu leisten. Darüber hinaus sollten 450 Millionen DM zugunsten der Claims Conference zur Unterstützung, Eingliederung und Ansiedlung außerhalb Israels lebender jüdischer Flüchtlinge dienen.

 

Die Auswirkungen

Der Luxemburger Vertrag hat umfassender gewirkt, als sich dies selbst seine Befürworter ausgemalt hatten. Anders als teilweise erwartet, stand er in der Bundesrepublik nach der Ratifizierung am 18. März 1953 niemals mehr ernsthaft zur Debatte und wurde pünktlich erfüllt. Beide Seiten, sowohl die Bundesrepublik wie auch Israel, waren von großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Bundesrepublik bei der Erfüllung ausgegangen, es gab deshalb sogar eine Wertsicherungsklausel. Das „Wirtschaftswunder“ und der deutsche Exporterfolg ließen diese Probleme verschwinden, und die wirtschaftlichen Argumente der deutschen Vertragsgegner erwiesen sich als Kleinkrämerei. Für die bundesdeutsche Außenpolitik brachte der Vertrag langfristig einen immensen Vertrauensgewinn in der westlichen Welt. Die Befürchtungen, der Vertrag könnte negative Auswirkungen auf das Londoner Schuldenabkommen haben, traten nicht ein. Allerdings kam es temporär zu einer Abkühlung der traditionell guten Beziehungen zu den arabischen Staaten.

Der Weg zur Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen blieb schwierig, jedoch bedeutete das Abkommen den entscheidenden ersten Schritt. Für Israel brachte die deutschen Zahlungen und Sachleistungen eine wesentliche Stabilisierung seiner Wirtschaftslage. Am wichtigsten war die Wirkung in Deutschland selbst: Die Bundesrepublik hatte freiwillig, ohne den Zwang der Siegermächte, als demokratisch legitimierter Staat seine historische Verantwortung anerkannt, was eine entscheidende Wegmarke bei der innergesellschaftlichen Bewältigung der NS-Verbrechen darstellte. Es bleibt das 1965 gezogene Fazit des ehemaligen israelischen Außenministers Sharett: „Es war dies ein historischer Akt, der dem freien Nachkriegsdeutschland Ehre einbrachte und der sich für Israel zu einer Quelle wichtiger konstruktiver Hilfe ausgewirkt hat“.

 

Literaturhinweise:

 

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