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Unterzeichnung des Schengener Durchführungsabkommens

von Bastian Matteo Scianna
Zugrunde liegt „Schengen“ ein altes und bekanntes Motiv: die Beseitigung geschlossener Grenzen und deren kontrollierender, ein- und abgrenzender Funktion. 1985 –1990 – 1995: das sind die Schlüsseldaten des Prozesses, der in Europa im 20. Jahrhundert wieder zu offenen Grenzen führte.

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Wenn heute von „Schengen“ gesprochen wird, sind damit ganz unterschiedliche Abkommen gemeint, die ein Ganzes bilden. Deshalb gibt es beziehungsweise gab es im Jahr 2020 gleich dreimal etwas zu feiern: Am 19. Juni steht das 30jährige Bestehen des Schengener Durchführungsübereinkommens an und am 14. Juni der 35. Jahrestag der Unterzeichnung des ersten Schengener Abkommens. Das 25jährige Jubiläum des Inkrafttretens des Schengener Durchführungsübereinkommens ging im März während der Hochphase der Corona-Krise teilweise unter. Dabei zeigten gerade die Grenzschließungen im Rahmen der Bekämpfung der Pandemie, dass offene Grenzen keine Selbstverständlichkeit sind.

Zugrunde liegt „Schengen“ ein altes und bekanntes Motiv: die Beseitigung geschlossener Grenzen und deren kontrollierender, ein- und abgrenzender Funktion. 1985 –1990 – 1995: das sind die Schlüsseldaten des Prozesses, der in Europa wieder zu offenen Grenzen führte. 1999 wurde das Schengener Abkommen mit dem Amsterdamer Vertrag in den Besitzstand der Europäischen Union (EU) übernommen. Der Weg dahin war durch viele Initiativen, Arbeitsgruppen, Bedenken und zähe Verhandlungen auf der nationalen, bilateralen und europäischen Ebene geprägt.

Der Abbau von Personen- und Warenkontrollen an den Binnengrenzen der Gemeinschaft ist daher im Integrationsprozess ein stetig wiederkehrendes Motiv gewesen – oftmals jedoch eher als schwammig formulierte idée fixe denn als eine konkrete politische Agenda. Dabei müssen stets zwei Ebenen unterschieden werden: Zum einen ging es um die Differenzierung der Grenzkontrollen, die deshalb von großer Bedeutung waren, weil der Bereich Waren komplexe Sachgebiete umfasste, etwa Steuerfragen, und immer in Verbindung mit der Vollendung des Binnenmarkts gesehen wurde. Zum anderen gab es von Beginn an das Ziel der Personenfreizügigkeit, also des freien Reiseverkehrs der Bürger und der freien Arbeitsplatzwahl jenseits der Grenze des eigenen Nationalstaates.

 

Erste Schritte in der Gründungsphase der Europäischen Union  

Das Streben nach der Verwirklichung dieser konkreten Ziele wurde während des europäischen Integrationsprozesses oftmals von symbolischen, auf Emotionen beruhenden Handlungen begleitet. Die Grenzstürme der Nachkriegszeit mitsamt der Demontage von Schlagbäumen hatten große symbolische Wirkkraft. Noch als Kanzler erinnerte sich Helmut Kohl daran, wie Jugendliche westeuropäischer Nationen aufbrachen, um die alten Symbole zu zerstören oder zumindest an den Zollhäuschen für ein offenes Europa zu demonstrieren. Beispielhaft sei der berühmte „Grenzsturm“ bei Sankt Germanshof und Wissembourg an der deutsch-französischen Grenze im August 1950 genannt.

Die Erfahrung von Exil, von Vertreibung und Flucht und den damit einhergehenden Reisebeschränkungen reichte von Willy Brandt bis Otto von Habsburg.  Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sukzessive eine immer stärkere Mobilität des Einzelnen ein: von Berufspendlern und Studenten über Urlauber bis zu Verliebten – alle nutzten die neuen Freiheiten, die die zunehmende Zahl von Bussen, Autos und Flugzeugen ihnen eröffneten. Immer breitere Schichten profitierten auf den Straßen und in der Luft von den neuen Möglichkeiten. Zöllner und Schlagbäume wurden zu den Antagonisten dieser frühen „Anywheres“ und versinnbildlichten gerade zur Urlaubszeit die noch vorhandene Trennung durch nationalstaatliche Grenzen innerhalb der Gemeinschaft.

Die Integrationsbestrebungen, angefangen bei dem Europarat und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), bewirkten auch hier geradezu Revolutionäres. Die Herstellung des freien Personenverkehrs wurde als Ziel der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in den Römischen Verträgen von 1957 verankert. Auch wenn dies nicht sofort erreicht wurde, befeuerte die Binnen- und Arbeitsmigration der folgenden Jahre diesen Trend. Um „Europa“ seinen Bürgern näher zu bringen, wurden immer wieder verschiedene Initiativen beschlossen, etwa die Einführung eines gemeinsamen europäischen Passes.

 

Deutsch-französische Zusammenarbeit unter Kohl und Mitterand

Die europapolitischen Initiativen Helmut Kohls und des französischen Präsidenten François Mitterrand in den 1980er Jahren beinhalteten auch das Saarbrücker Abkommen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik vom 18. Juli 1984. Dieses legte fest, dass Fahrzeuge in Schrittgeschwindigkeit die Grenzen überqueren sollten und dabei nicht mehr zur Kontrolle gestoppt würden, das heißt nunmehr eine einfache Sichtkontrolle genügte. Ein ähnliches Abkommen wurde mit den Benelux-Staaten geschlossen. Politischer Wille verband sich daher mit den immer präsenten föderalistischen Ideen eines Abbaus der Grenzkontrollen. Schon in seiner ersten Regierungserklärung am 13. Oktober 1982 hatte Helmut Kohl „mehr Abbau der Grenzkontrollen“ gefordert. Die europapolitische Wende François Mitterrands 1984 und die Entwicklungen auf den Gipfeln in Fontainebleau und Mailand, die zu der Entstehung der Einheitlichen Europäischen Akte führten, sind eng mit der Entwicklung des Schengener Abkommens verbunden. Denn ein Kerngedanke der Einheitlichen Europäischen Akte und der neuen Bestrebungen zur Herstellung einer Europäischen Union war die Vollendung des Binnenmarkts, die bis 1992 erreicht werden sollte und die vollständige Freiheit im Waren- und Personenverkehr beinhaltete. Das Schengener Abkommen war damit ein wichtiger Eckpfeiler in Helmut Kohls Europapolitik, die immer auch für die einzelnen Bürger spürbare Erleichterungen im Alltag bringen sollte.

Die Initiativen mit Frankreich und den Benelux-Staaten führten zur Unterzeichnung des Abkommens am 14. Juni 1985. Man wählte den kleinen luxemburgischen Grenzort Schengen als Ort für die feierliche Zeremonie, dessen Name seitdem symbolisch für ein Europa ohne Grenzen steht. Die Unterzeichnerstaaten (Frankreich, Belgien, die Niederlande, Luxemburg und die Bundesrepublik Deutschland) waren zwar alle Mitglieder der Europäischen Gemeinschaften (EG), aber nicht alle Mitgliedsstaaten unterzeichneten das Abkommen. Großbritannien, Irland, Dänemark, Griechenland, Italien, später auch Spanien und Portugal waren nicht dabei. Großbritannien und Irland sowie Griechenland hatten keine Binnengrenzen zu anderen Mitgliedstaaten; die irisch-nordirische Grenze stellte eine weitere Besonderheit dar. Spanien und Portugal steckten mitten in einem von vielen Problemen gezeichneten Beitrittsprozess zu den EG. Dänemark stand einer vertieften Integration skeptisch gegenüber und konnte mit der Idee aus verschiedenen Gründen nicht warm werden. Auch Italien, immerhin ein Gründungsmitglied der EGKS und EWG, war zunächst nicht mit von der Partie, und das obwohl das Land traditionell ein glühender Verfechter der europäischen Integration gewesen war und stets größere Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft gefordert hatte. Rom hatte damit nicht zuletzt die Interessen der italienischen Einwanderer in der Bundesrepublik, Belgien und Frankreich vertreten wollen, die in den 1950er und 60er Jahren als sogenannte Gastarbeiter dorthin gekommen waren.

Das Schengener Abkommen von 1985 steht daher beispielhaft für die Methode einer differenzierten Integration der europäischen Staaten, bei der Gruppen von Mitgliedsstaaten eine Vertiefung auf einem Gebiet ad-hoc forcieren, zum Teil außerhalb der europäischen Verträge und Institutionen, während andere Mitgliedstaaten diesen Integrationsschritten zunächst fernbleiben. Was jedoch bedeutete das Schengener Abkommen konkret? Das Abkommen legte den „schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen“ im Waren- und Personenverkehr fest, das heißt, es sah deren stufenweise Erleichterung vor.

Die Lockerung der Personenkontrollen galt zunächst nur für Bürger der EG-Mitgliedsstaaten, was in der Praxis nicht immer einfach zu trennen war. An den Landgrenzen gab es daher eine Scheibe mit einem grünen „E“, die in die Windschutzscheibe der PKWs gelegt werden sollte. Diese symbolisiert die Erklärung, dass nur Bürger von Staaten der EG im Auto saßen und keine Warenfreimenge überschritten wurde. Dennoch kam es zu stichprobenartigen Kontrollen, und viele komplexe Probleme stellten sich, etwa die Einfuhr von Tieren und Waffen oder Erhebung von Steuern. Diese Fragen mussten durch Expertengruppen beantwortet und nationale Richtlinien harmonisiert werden. Das Bestreben der folgenden Jahre war, den Teilnehmerkreis zu erweitern und das Schengener Abkommen auf europäischer Ebene zu verankern. Hierzu wurden das Asyl- und Ausländerrecht sowie die Visapolitik harmonisiert. Gleichzeitig wurde die Zusammenarbeit von Polizei- und Justizbehörden sowie die Maßnahmen zur Kontrolle an den Außengrenzen der Unterzeichnerstaaten verstärkt.

 

Schrittweise Unterzeichnung durch die Mitgliedstaaten

Dieser Prozess gipfelte im Schengener Durchführungsübereinkommen vom 19. Juni 1990, also dem Übereinkommen zur Durchführung des Abkommens vom 14. Juni 1985, welches jedoch zunächst wieder nur von Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet wurde. In der Folge traten jedoch weitere Mitgliedstaaten der EG beziehungsweise, seit 1992/93, der Europäischen Union dem Abkommen bei: Italien im November 1990, Spanien und Portugal 1991, Griechenland 1992 und Österreich 1995. Das Schengener Durchführungsübereinkommen legte die Ausgleichsmaßnahmen für die wegfallenden Kontrollen an den Binnengrenzen fest, zum Beispiel ein einheitliches Visum für den Schengenraum, Harmonisierung des Asylantrages, Maßnahmen gegen grenzüberschreitende Kriminalität und Drogenhandel sowie einen Katalog zur verstärkten Zusammenarbeit im Polizei- und Justizwesen. Viele dieser Punkte fanden sich auch im Vertrag von Maastricht von 1992 wieder, vor allem in der ersten und dritten „Säule“ der Europäischen Union.

Das Ende des Kalten Krieges sorgte jedoch für eine grundlegende Veränderung der geopolitischen Lage. Die Grenzen zu den ost- und mitteleuropäischen Staaten, die in den 1990er Jahren in den Beitrittsprozess eingetreten waren, sowie die Aufnahme Finnlands, Österreichs und Schwedens im Jahr 1995 schufen neue Probleme für die Durchführung. Nach der Vollendung des Binnenmarkts 1993 und der Verankerung der vier Grundfreiheiten (freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital) trat auch das Schengener Durchführungsübereinkommen am 1. September 1993 in Kraft, konnte jedoch erst nach Errichtung der notwendigen technischen, rechtlichen und fachlichen Ausgleichsmaßnahmen (unter anderem der computergestützten Datenbank des Schengener Informationssystems) am 26. März 1995 praktisch umgesetzt werden. Diese letzten Schritte vollendeten damit eine zehnjährige Entwicklung, die mit dem Amsterdamer Vertrag mit Wirkung zum 1. Mai 1999 das Schengener Abkommen in die EU integrierte. Auch danach wurde der Schengenraum stetig erweitert, auch um Nicht-EU-Mitglieder wie Island, Norwegen, die Schweiz und Liechtenstein.

 

Auswirkungen und Kritik

Die Genese des Schengenraums führte daher von der anfänglichen Verbesserung des Reiseverkehrs nur für Bürger der Europäischen Gemeinschaft auch zu Erleichterungen für auswärtige Besucher: ein einheitliches Visum ermöglichte nun den Aufenthalt von bis zu 90 Tagen in allen Mitgliedstaaten und beim Überschreiten der Binnengrenzen entfielen auch für diese Nicht-EU-Bürger die Kontrollen.

Auch wenn die offenen Binnengrenzen in Meinungsumfragen meist als eine der wichtigsten Errungenschaften der europäischen Einigung genannt werden, ist seit Beginn des Schengener Abkommens immer wieder Kritik daran geübt worden. Zum einen gab es datenschutzrechtliche Bedenken aufgrund der zentralen Sammlung und des Austausches großer Datenmengen. Auch wurden immer wieder Vorbehalte hinsichtlich der Wirksamkeit der Ausgleichsmaßnahmen geäußert und der Schengenraum als El Dorado für organisierte Kriminalität bezeichnet, obwohl seit 2004 die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) die betroffenen Mitgliedsstaaten bei der Kontrolle der Außengrenzen unterstützen soll. Zusätzlich entstand die Formel von der „Festung Europa“, die sich durch eine restriktive gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik abschirme. Die Flüchtlings- und Migrationskrise 2015 sowie die Covid-19-Pandemie des Jahres 2020 verdeutlichten, dass der Schengenraum als eines der Kernprojekte der europäischen Integration immer wieder Stresstests ausgesetzt sein wird. Der Traum von den offenen Grenzen ist durch die wegweisenden und geradezu revolutionären Grundsatzentscheidungen bis 1985 Wirklichkeit geworden. Doch er bleibt gefährdet.

 

Erschienen am 15. Juni 2020.

Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Potsdam. Gegenwärtig arbeitet er, unterstützt durch ein Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung, an einem Habilitationsprojekt über die Entstehung des Schengenraums.

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