Länderberichte
Machtkämpfe in Gaza
Nach dem Abzug der israelischen Armee und der Siedler aus dem Gazastreifen, der am 12. September beendet war, bleibt die Lage angespannt. Besonders die befürchteten Machtkämpfe zwischen einzelnen palästinensischen Fraktionen eskalierten in den letzten Wochen. Zu den wichtigsten der bewaffneten Fraktionen in Gaza zählen zur Zeit die Sicherheitsdienste der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), (welche jedoch oftmals eher ihrem Anführer als der PA Loyalität erweisen), die Hamas und andere islamistische Gruppierungen sowie radikale Splittergruppen der Fatah.
Den Anfang machte die Ermordung des ehemaligen Kommandeurs der Nationalen Sicherheitskräfte und Neffen Yasser Arafats, General Moussa Arafat, durch hundert Bewaffnete des Volkswiderstandskomitees, einer radikalen Splittergruppe der Fatah, in der Nacht des 9. September. Moussa Arafat war einer der korruptesten und meist gehassten Mitglieder der alten Führungsclique um Yasser Arafat, verantwortlich für Folterung und viele Hinrichtungen. Der Grund der Ermordung ist nach wie vor unklar, zum einen könnte Moussa Arafat einem Machtkampf mit den anderen Führern bewaffneter Gruppen erlegen sein, ein anderes denkbares Motiv ist die Rache von Angehörigen früherer Opfer.
Die Zentralgewalt der PA scheint nur noch teilweise durchsetzbar. Der Gazastreifen wird von verschiedenen bewaffneten Familienclans und Interessensgruppen, wie der Hamas oder Flügeln der Fatah, kontrolliert. Des Weiteren kam es im Sep-tember zu einer Spirale gegenseitiger Entführungen ranghoher Mitglieder der Hamas und der Fatah, für die sich beide verantwortlich machten. Die Lage eskalierte Ende September nicht zuletzt durch den ernsthaften Versuch der PA, wenigstens das öffentliche Tragen von Waffen durch militante Gruppen in den Straßen von Gaza zu unterbinden. Es entbrannten schwere Gefechte in deren Verlauf ein hochrangiger Polizeioffizier der PA getötet wurde.
- Hintergrund für diese Ereignisse ist der interne Konflikt zwischen der PA und Hamas. Während Präsident Abbas für eine Entwaffnung der Hamas und der anderen bewaffneten Fraktionen und damit für die Etablierung einer Zentralgewalt in Gaza eintritt, lehnen diese jegliche Vorschläge einer Entwaffnung ab, solange die Besat-zung der West Bank und des Gaza-Streifens andauere.
Am 23. September explodierte während einer Hamas-Militärparade zur Feier des israelischen Abzuges durch einen fahrlässigen, technischen Fehler ein Lastwagen im Flüchtlingslager Jabalia in Gaza. Dabei kamen 19 Menschen ums Leben und 18 wurden verletzt, darunter viele Kinder.
Noch am selben Tag verurteilte der palästinensische Innenminister die Hamas in einer Pressekonferenz aufs schärfste für den Unfall, und forderte die Ent-waffnung der islamischen Widerstandsgruppen. Im Gegensatz dazu behauptete die Hamas, dass die Explosion durch Raketenangriffe israelischer Kampfflugzeuge stattgefunden habe. Diese Behauptung konnte jedoch eindeutig widerlegt werden und wurde weder von weiten Teilen der palästinensischen Bevölkerung noch von der Pa-lästinensischen Autonomiebehörde akzeptiert, welche die Hamas dazu aufforderte, ihre militärischen Aktivitäten einzustellen.
- Zuverlässigen Quellen aus Journalistenkreisen zufolge gibt es ein „Gentlemen`s Agreement“ zwischen den radikalen Gruppen, welches beinhaltet, dass man Israel für jeden solchen Vorfall, der in Gaza durch die eigenen Kräfte verursacht wird, verant-wortlich macht. Auf diese Weise konnten die Gruppen ihr Ansehen in der Bevölkerung bei früheren Ereignissen ähnlicher Art meist bewahren.
Der Unfall im Flüchtlingslager setzte eine Spirale der Gewalt in Gang: Stunden nach der Pressekonferenz des Innenministers am 23. September feuerte die Hamas mehrere Raketen auf die israelische Stadt Sderot ab, um ihre Position zu bekräftigen.
Die islamistischen Bewegungen, Teile der Al-Aqsa Brigaden und das Volkswiderstandskomitee machten klar, dass der Waffenstillstand vor dem Aus stehe. Israel umstellte die nördlichen Grenzen Gazas mit Panzern und flog mehrere Luftangriffe, bei denen mindestens sechs Mitglieder der Hamas und des Islamischen Jihad getötet wurden. Premierminister Scharon versicherte, dass die israelische Armee alles nötige unternehmen werde, um die Raketenangriffe aus dem Gaza-Streifen zu stoppen. Im Westjordanland inhaftierte Israel 300 Mitglieder der Hamas und des Islamischen Jihad, unter ihnen auch Scheich Hassan Yousif und Mohammed Ghazal, beide politische Anführer der Hamas und Kandidaten für die Parlamentswahlen.
Die Stimmung in Gaza nach dem Rückzug Israels
Diese Ereignisse überschatteten die hoffnungsvolle Stimmung, welche in Gaza nach dem Rückzug der israelischen Armee und der Siedler vorgeherrscht hatte.
Unerwarteterweise hatte Israel sich nicht nur aus den Siedlungen in Gaza zurückgezogen, sondern bereits zu diesem Zeitpunkt auch von der Philadelphia-Linie, dem Grenzstreifen zwischen Gaza und Ägypten. Letzteres ermöglichte den Palästinensern erstmals für kurze Zeit die freie, unbeschränkte Grenzüberquerung. Da jedoch in den ersten Tagen die Grenzposten auf beiden Seiten den Andrang nicht kontrollieren konnten, wurde die Grenze nach drei Tagen wieder geschlossen. Mo-mentan wird über die Etablierung eines kontrollierten Grenzverkehrs diskutiert.
Man kann davon ausgehen, dass sowohl der von der Hamas verursachte Unfall in Jabalia, als auch die Qassam- Raketenangriffe auf Sderot und die darauf folgende Bombardierung Gazas durch die israelische Luftwaffe die Hamas einige Sympathie-punkte in der Bevölkerung gekostet haben. Denn obwohl die Hamas den israelischen Rückzug aus dem Gaza Streifen als den Sieg ihres bewaffneten Widerstandes gegen den Feind gefeiert hatte und dies auch von einem Großteil der Palästinenser so gese-hen wird, könnte gerade dieser Sieg scheinbar paradoxerweise die Hamas einige Stimmen kosten.
- Nach den von uns geförderten Umfragen des PSR (Palestinian Centre for Policy and Survey Research) dankt die Bevölkerung der Hamas ihren Kampf und ihre Opfer zur Befreiung Gazas, möchte aber nun, dass die Angriffe auf Israel eingestellt werden, um Präsident Abbas die Möglichkeit zu geben, mit Israel Friedensgespräche zu füh-ren und die wirtschaftliche und soziale Lage in Gaza zu verbessern. Dies ist jedoch unmöglich, sollte Hamas durch Angriffe von Gaza aus israelische Gegenschläge pro-vozieren. Diese Einstellung wurde in der jüngsten Umfrage erneut belegt: 84% der Palästinenser sehen den israelischen Abzug als einen Sieg des bewaffneten Widerstands (hauptsächlich den der Hamas), doch 62% sind gegen eine Fort-setzung der Angriffe vom Gaza-Streifen aus.
Kommunalwahlen als Indikator
Die PA hatte vor einem Jahr entschieden, dass die Kommunalwahlen in den Palästi-nensischen Autonomiegebieten in mehreren Phasen stattfinden. Nachdem die Hamas in den ersten beiden Phasen in den ländlichen Gebieten und den Städten des Gaza-Streifens große Erfolge feiern konnte, fand am 29. September in 104 Städten, Dörfern und Flüchtlingslagern in der West Bank die dritte Phase der Kommunalwahlen statt. Nach den offiziellen Ergebnissen ereichte die Fatah, die Partei des Präsidenten Abbas, 53,6% und die Hamas nur 26, 03% der Stimmen. Der Rest verteilt sich auf mehrere linksgerichtete und unabhängige Kandidaten.
- Die verschiedenen Wahlgänge liefen an sich demokratisch ab. Dennoch muß bei einer Bewertung der Kommunalwahlen bedacht werden, daß die PA nicht nur einen für sie positiv erscheinenden Termin festsetzte, sondern auch, dass im August 2005 nach bereits zwei Wahlphasen das Mehrheitswahlrecht, im Interesse der Fatah, hin zum Verhältniswahlrecht geändert wurde.
Außerdem war die Hamas war nur in bevölkerungsarmen Gebieten nicht aufgestellt. Insofern kann das Resultat der Kommunalwahl als Indikator für die bevorste-henden Parlamentswahlen am 25. Januar gesehen werden. Diese Auffassung wird von den neusten Meinungsumfragen in der West Bank und Gaza gestützt: Demnach würden sich derzeit bei Parlamentswahlen 47,7% der Palästinenser in der West Bank und 47% in Gaza für Fatah entscheiden. Hamas könnte lediglich auf 30,9% der Stimmen aus der West Bank und 35,1% der Stimmen in Gaza hoffen. Komplette Studie: >>hier
- Die vierte Phase der Kommunalwahlen wird am 15. Dezember stattfinden, die fünfte und letzte wahrscheinlich im Februar 2006. Diese letzten beiden Phasen sind die wichtigsten, da dann in den großen Städten der West Bank gewählt wird.
Währenddessen kündigten Israels Ministerpräsident Sharon und Außenminister Shalom an, alle nötigen Schritte zu unternehmen, um die Beteiligung der Hamas an den Parlamentswahlen am 25. Januar 2006 zu verhindern. Ein Resultat der Angriffe von Gaza war u.a. die Verhaftung vieler Hamas-Mitglieder im Westjordanland im September. Daher sieht sich die Hamas derzeit vor die Frage gestellt, die Wahlen entweder doch noch zu boykottieren, sie für illegitim zu erklären und an Militäraktionen festzuhalten, oder trotz der Schwächung an den Wahlen teilzunehmen.
- Die letzte Parlamentswahl, welche 1996 stattfand, wurde von der Hamas boykottiert, seitdem ist aber ein klarer Trend innerhalb der Gruppe abzusehen, sich mehr und mehr in das politische System der palästinensischen Gebiete einzufügen und sowohl intern als auch international Anerkennung durch eine Teilnahme an den Wahlen und demokratische Legitimierung zu erreichen. Dies drückte sich zum Beispiel durch die Teilnahme der Hamas an den Gemeinderatswahlen in mehreren Bezirken der West Bank und Gaza aus.
So wird die Hamas wahrscheinlich an den Wahlen teilnehmen und als stärkste Oppositionspartei zur Fatah in das Parlament einziehen. Stark genug, um die Wahlen zu gewinnen, ist die Hamas zurzeit sicherlich nicht.
Perspektiven
Wir beobachten einen Wandel in der politischen Ausrichtung der palästinensischen Gesellschaft nach dem israelischen Rückzug aus Gaza. Obwohl der radikalislami-schen Hamas der Rückzug der Israelis zugeschrieben wurde, wendet sich nun die Mehrheit der Bürger der gemäßigteren Fatah zu.
Mit dem Rückzug Israels aus Gaza haben sich die Prioritäten innerhalb der Gesellschaft verschoben: Während unseren Umfragen zufolge 40% der Palästinenser Armut und Arbeitslosigkeit als größtes nationales Problem ansehen, sagen dies nur 25,4% über die Besatzung. Auch sprechen sich 77% der Palästinenser für die Beibe-haltung des Waffenstillstandes und 73% für die Ausrufung eines palästinensischen Staates in Gaza aus, welcher dann graduell auch auf die West Bank übergehen würde. Diese Verschiebung der nationalen Prioritäten erklärt die zunehmende Popularität der Fatah, der die Palästinenser laut Umfrage eher als der Hamas zutrauen, die wirtschaftlichen Probleme zu lösen (Fatah 46,2%, Hamas 31,2%), den Waffenstill-stand mit Israel zu halten und die Entwicklung eines palästinensischen Staates durch Verhandlungen zu erreichen (Fatah 63,7%, Hamas 21,3%).
Die immer noch hohe Popularität der Hamas erklärt sich unter anderem mit der Korruption innerhalb der PA und der Fatah (25,1% halten dies für das größte nationale Problem) und mit dem Vertrauen der Bürger in die Integrität der Hamas und ihrem Willen, die Mißwirtschaft in der PA zu bekämpfen (45,7% trauen dies der Hamas und nur 37,1% der Fatah zu).
Die Frage, ob die Parlamentswahlen im Januar tatsächlich stattfinden werden, kann vorsichtig bejaht werden. Denn obwohl Israel nach wie vor damit droht, die Wahlen zu verhindern, sollte die Hamas teilnehmen, hat President Bush beim Gipfel-treffen mit Präsident Abbas am 20. Oktober deutlich gemacht, daß die USA die Wah-len unterstützen werden, auch wenn Hamas teilnimmt. Anderseits würde ein Boykott durch Hamas die Legitimität des Parlaments erheblich einschränken.
Weitere Unsicherheitsfaktoren sind die konfuse Sicherheitslage im Gaza-Streifen und die Möglichkeit eines Anschlages mit entsprechender israelischer Reaktion und der dadurch eingeschränkten Bewegunsfreiheit für Palästinenser. Beides könnte es sehr erschweren, eine Wahl ordnungsgemäß durchzuführen.