Länderberichte
Situation:
In den letzten Tagen sind die Kämpfe zwischen Hamas und Fatah im Gaza-Streifen in einer bisher ungekannten Form eskaliert. Es gab Dutzende Tote und mehrere hundert Verletzte, die höchsten Opferzahlen seit den Auseinandersetzungen um den Jahreswechsel. Es wurde selbst in Krankenhäusern gekämpft und – der Fatah nahe stehende – Patienten umgebracht, ganze Polizeistationen wurden überrannt, der Zweitsitz von Präsident Abbas in Gaza angegriffen, ebenso wie das Haus von Ministerpräsident Haniyeh (Hamas). Schulen und Universitäten schlossen und sagten die für die letzten Tage geplanten Abschlussexamen ab, das UN-Flüchtlingshilfswerk UNRWA stellte die Verteilung von Nahrungsmitteln teilweise ein.
Neu an den Kämpfen der letzten Tage ist vor allem die systematische Art, mit der die bewaffneten Milizen der Hamas versuchen, die offiziellen, teilweise dem Präsidenten direkt und teilweise der Regierung unterstellten, meist aber de facto Fatah-nahen Sicherheitskräfte und die Fatah-Milizen auszuschalten. Bisher prägten neben der Parteizugehörigkeit auch politische Splittergruppen in- und außerhalb der beiden großen Parteien sowie verschiedene starke Familienclans die Bruchlinien der Kämpfe. Der entführte israelische Soldat Gilad Shalit befindet sich ebenso wie der britische Journalist Johnson wahrscheinlich in der Hand eines solchen Clans.
Erstmals wurde jedoch eine flächendeckende Kontrolle des Gaza-Streifens von Hamas angestrebt und inzwischen auch fast erreicht. Den verbleibenden Fatah-treuen Kräften wurde ein Ultimatum gestellt, innerhalb von zwei Tagen die Waffen niederzulegen. Inzwischen werden angeblich sämtliche für den Waffenschmuggel aus Ägypten benutzten Tunnels von Hamas oder nahe stehenden Familien kontrolliert. Dem Vernehmen nach ist die militärische Überlegenheit von Hamas erdrückend. Angehörige der Fatah-treuen Truppen wurden von den Hamas-Kämpfern mitunter regelrecht hingerichtet. Ein Hamas-Sprecher in Gaza verkündete laut Medienberichten bereits den Anbruch einer neuen Zeit islamistischer Herrschaft.
Analyse:
Dies zeigt, dass mit der Bildung der Regierung der Nationalen Einheit Ende März die Rivalität zwischen Fatah und Hamas keineswegs aufgelöst wurde. Insbesondere im Hinblick auf die Reform der Sicherheitskräfte und ein einheitliches Kommando über diese wurden die Probleme keineswegs gelöst, sondern nur mit einem Formelkompromiss übertüncht. Dieser begann sich aufzulösen, als der parteilose und als neutral angesehene Innenminister Hani Kawasmeh zurücktrat und Regierungschef Haniyeh (Hamas) dieses Ressort vorübergehend selbst übernahm.
Mit den jüngsten Kämpfen ist die Regierung der Nationalen Einheit zumindest im Hinblick auf ihr wichtigstes Ziel, den inneren Frieden, gescheitert. Dementsprechend hat Präsident Abbas die Regierung aufgelöst, den Aus¬nahmezustand ausgerufen und die Bildung einer Notstandsregierung ange¬kündigt. Diese Maßnahmen werden von Hamas jedoch nicht akzeptiert.
De Facto bedeutet das wahrscheinliche Ergebnis der Kampfhandlungen eine vollständige Machtübernahme der Hamas im Gaza-Streifen, wo mehr als 40% der Bevölkerung der Autonomiegebiete leben. Der andere Landesteil, das Westjordanland (Westbank), wird dagegen von Fatah dominiert. Hier wäre der Versuch einer gewaltsamen Machtübernahme durch Hamas auch wegen der israelischen Militärpräsenz zum Scheitern verurteilt. Deshalb bedeutet der Strategiewechsel von Hamas hin zur Gewalt in Gaza gleichzeitig einen Verzicht auf Einfluss im Westjordanland.
Vor diesem Hintergrund dürften die Ereignisse der letzten Tage vor allem ein weiteres Auseinanderdriften der beiden Gebietsteile der Palästinensischen Autonomie bedeuten: Einen Hamas-Staat in Gaza und eine von Präsident Abbas und seiner Fatah dominierte Westbank. Die Entführung eines hochrangigen Hamas-Funktionärs in Ramallah (Westbank) und die Verhaftung etlicher Mitglieder bewaffneter Hamas-Gruppen dort deutet daher weniger auf ein Übergreifen der Gewalt auf die Westbank hin, als vielmehr auf eine Machtdemonstration der Fatah im Gegenzug zu den Ereignissen in Gaza.
Ausblick:
Ein Auseinanderdriften der Palästinensischen Gebiete könnte weit reichende Folgen für die Entwicklung in der gesamten Region haben. Die Entwicklung in Gaza dürfte schwer kontrollierbar und weit gehend sich selbst überlassen bleiben, da dieses Gebiet strategisch kaum Bedeutung hat und über eine in hohem Maße radikalisierte Bevölkerung verfügt. Die diskutierte Entsendung von Friedenstruppen wird zur Beendigung der Kämpfe nach einem Sieg der Hamas nicht mehr nötig sein; sie wären wahrscheinlich einem dem Irak nicht unähnlichen Szenario mit einer feindlich eingestellten Bevölkerungsmehrheit in dicht besiedeltem Gebiet ausgesetzt.
Für die Westbank ergibt sich ohne den engen Verbund mit Gaza ein geringerer Druck auf ein Ende der israelischen Besetzung sowie eine wieder stärkere „jordanische Option“ – wie auch immer diese aussehen mag. Bereits in der Vergangenheit wurden häufig verschiedene Formen einer Konföderation diskutiert.
Inwiefern es gelingt, die enge Verbindung von Gaza und Westbank zu erhalten, hängt im Wesentlichen davon ab, ob sich Fatah und Hamas nach der jüngsten Eskalation noch einmal zu einer Zusammenarbeit durchringen können.
Schließlich hatte die große Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung (88% nach den von der KAS geförderten Umfragen) sich noch im März dieses Jahres zufrieden mit der Bildung der nationalen Einheitsregierung gezeigt, auch wenn ein Großteil weitere Fortschritte auf dem Weg zur Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen, im Kampf gegen Korruption und bei der Auszahlung von Gehältern anmahnte. Auch das Ausbleiben solcher Fortschritte dürfte für das Wagnis der Extremisten, die offene Auseinandersetzung zu suchen, mit entscheidend gewesen sein.
Eine Zusammenarbeit der Europäischen Union mit dem sehr moderaten Finanzminister Salam Fayyad (Partei des dritten Weges) war diese Woche sogar wieder begonnen worden, wogegen eine volle Wiederaufnahme der internationalen Unterstützung bislang an der Weigerung der Hamas scheiterte, die drei Kriterien des Nahost-Quartetts zu erfüllen.
Besonders bedauerlich ist die jüngste Entwicklung, da mit der Arabischen Friedensinitiative ein Angebot der arabischen Welt auf dem Tisch liegt, das zu nutzen und in einen historischen Friedensschluss zu verwandeln, in der Hand starker und handlungsfähiger Regierungen auf israelischer und palästinensischer Seite läge, die derzeit nicht existieren.