Die letzten zwei Jahre im größten Flächenstaat auf dem afrikanischen Kontinent waren turbulent. Nach fast zwanzig Jahren im Amt verkündete Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika nach landesweiten Protesten am 2. April 2019 seinen Rücktritt. Bouteflika ging, doch die Protestbewegung, der sogenannte „Hirak“ (arabisch für Bewegung) blieb. Vorbei sollte es sein mit undurchsichtigen Machtstrukturen und Klientelismus, die sich an den Ressourcen des Landes bereicherten, während sich Demokratiestandards und Rechtsstaatlichkeit weiterhin auf einem Minimum bewegten. Die algerische Politik reagierte – auch, weil sich die hauptsächlich friedlichen Proteste mit dem Rücktritt Bouteflikas nicht zufriedengaben. Die Präsidentschaftswahl am 12. Dezember 2019 erwies sich als Fiasko für die politischen Eliten des Landes, mit einer offiziellen Wahlbeteiligung von lediglich 39%. Der neu gewählte Präsident Tebboune, selbst langjähriges Mitglied der Regierungspartei FLN (Nationale Befreiungsfront), ist Teil des politischen Establishments und wird von vielen Teilen der Bevölkerung nicht als Element der Neuerung gesehen. Zu stark sind außerdem noch die traditionellen Eliten ohne politisches Amt, die auch als Pouvoir(Machtzirkel) bekannt sind. Auch Bekenntnisse Tebbounes, die Ära Bouteflika durch Parlamentswahlen, die einen Generationenwandel garantieren sollten, endgültig in die Geschichtsbücher zu verbannen, stehen noch am Anfang. Zwar warben sowohl Regierung als auch Tebboune selbst für junge Kandidatinnen und Kandidaten bei den Wahlen, die durch großzügige Subventionen unterstützt wurden, Berichte über Verhaftungen von Demonstrierenden, Foltervorwürfen und rhetorischen Attacken auf den Hirak, der laut Tebboune „mittlerweile Terroristen und Separatisten nahestehe“, lassen zumindest Raum für Zweifel. Darüber hinaus versuchten Kritiker vermehrt, die vorgezogenen Wahlen als Strategie des Zeitgewinnens öffentlichkeitswirksam zu diskreditieren. Unter anderem auch aus diesem Grund rief der Hirak sowohl in Algerien als auch in der Diaspora dazu auf, die Wahlen zu boykottieren.
Who is who? Die relevanten Akteure
Der wahrscheinlich wichtigste Akteur im Übergangsprozess hat keine aktive Rolle während der Wahl eingenommen. Die führerlose Bewegung Hirak ist gekommen, um zu bleiben, bis sich die politische Situation in Algerien grundlegend ändert. Der Boykott der Parlamentswahlen, zu dem Teile der Bewegung aufgerufen hatten, wird jedoch die erste Zerreißprobe für die Bewegung sein. Das grundsätzliche Misstrauen in Parlament und Präsident ist zwar grundsätzlich verständlich, ein kategorischer Boykott ist allerdings wenig konstruktiv. Neben dem Hirak hatten vor allem verschiedene linke Oppositionsparteien den Wahlboykott angekündigt und erschienen demnach nicht auf den Wahlzetteln.
Darüber hinaus wird einer weiteren Gruppe eine große Bedeutung beigemessen. Mehr als 1200 unabhängige Listen und Kandidatinnen und Kandidaten hatten sich im Vorfeld der Wahlen registriert und kämpften um den Einzug ins 407 Sitze umfassende Parlament. Auch wenn einige Kandidatinnen und Kandidaten Parteien und Bewegungen sowie Akteuren des pouvoir nahestehen, so zeigt sich eine Gemengelage, die sich durch verschiedene Wahlen in der ganzen Region zieht – das Misstrauen in politische Parteien.
In der Pole Position standen trotz aller Unzufriedenheit die beiden Regierungsparteien FLN (sozialistisch) und RND (mitte-Rechts) mit einer stabilen Stammwählerschaft und einer Nähe zum pouvoir.
Die große Unbekannte in den Wahlen war die den Muslimbrüdern nahestehende Gesellschaftliche Bewegung für den Frieden (MSP), die bei den letzten Parlamentswahlen im Mai 2017 noch drittstärkste Kraft wurde. Auch wenn der politische Islam in den letzten 20 Jahren in Algerien politisch unbedeutend war, so zeigen Entwicklungen in den Nachbarländern, dass ein neuer islamischer Konservatismus gesellschaftlich opportun ist, aber vor allem durch starke Mobilisierung der Hauptzielgruppen bessere Ergebnisse als die säkularen Gegenspieler erzielen kann.
Ergebnisse/ Szenarien für die Koalitionsbildung
Die Wahlbeteiligung lag landesweit bei gerade einmal 23%. Das ist die niedrigste Bürgerbeteiligung seit mehr als 20 Jahren. Von daher ist auch der erneute Wahlsieg der FLN mit gut 25% aller Stimmen nicht als Erfolg zu bewerten. Auch gebetsmühlenartige Bekundungen, sich zu erneuern, führte zu keinem erneuten Vertrauensvorschuss, sodass sie mehr als ein Drittel ihrer Stimmen verlor. Die RND musste fast 50% ihrer Sitze einbüßen, kommt auf 14% aller Stimmen und ist damit der zweite große Verlierer der Wahlen. Die unabhängigen Kandidatinnen und Kandidaten konnten sich mit 19% zur zweitstärksten Kraft aufschwingen – gefolgt von der MSP mit 16% als drittstärkste Kraft. Für deren Parteichef Abderazzak Makri wird das ausgezeichnete Ergebnis dennoch nur ein kleines Trostpflaster sein – er erklärte seine Partei bereits am Tag nach der Wahl zur Siegerin. Das starke Wahlergebnis der MSP sollte allerdings realistisch betrachtet werden. Sie schaffte es zwar mit am besten, ihre Stammwähler zu mobilisieren und einige neue Wähler dazuzugewinnen, doch boykottierten vor allem säkulare Akteure aus dem Hirak und linke Parteien die Wahl. Von daher wäre die Bewertung, dass der politische Islam eine große Renaissance in Algerien feiert, noch viel zu verfrüht.
Folgende Szenarien werden in den nächsten Wochen von allen Beteiligten diskutiert werden:
- Die Koalition aus FLN und RND besteht weiter und wird vom Großteil der unabhängigen Kandidaten unterstützt.
- Die FLN geht ein Bündnis mit der MSP und der RND ein und könnte so eine Mehrheit erzielen. Dies würde die Opposition massiv fragmentieren.
- Die MSP wird von sich aus versuchen, mit anderen (kleineren) Parteien und den Unabhängigen zu koalieren, um die existierende Koalition zu stürzen.
Was bleibt offen?
Die Legitimitätsfrage wird weiterhin die Konstante in allen Debatten rund um die Parlamentswahl sein. Mit gerade einmal 23% Wahlbeteiligung ist es die niedrigste unter allen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen seit mehr als 20 Jahren. In der Bevölkerung einflussreiche Akteure wie der Hirak haben die Wahl abgelehnt und werden auch nach den Wahlen weiterhin auf die Straße gehen. Weder die Covid-19-Pandemie, noch Einschüchterungsversuche einiger Sicherheitskräfte und zeitweilige Verhaftungen von Schlüsselpersonen der Bewegung haben den Hirak aufhalten können. Offen bleibt die Frage, inwiefern der versprochene Neuanfang durchgesetzt werden kann. In einer semipräsidentiellen Republik wie Algerien, in der das Parlament derzeit noch beschränkt Gestaltungsspielräume hat, sind diese Wahlen nur eine Variable in der Gleichung. Der Wille des Neuanfangs muss also gemeinsam von verschiedenen Akteuren der Politik, den existierenden informellen Machtstrukturen und gesellschaftlichen Akteuren getragen werden. Dies kann gelingen, ist aber dennoch eine Mammutaufgabe.
Was bedeutet dies für Europa und Deutschland?
Algerien hat ein traditionell eher schwieriges Verhältnis zu Europa, welches sich in den letzten Jahren – auch aufgrund eines konstanten sozioökonomischen Drucks im Land selber – vorsichtig gebessert hat. Die COVID-19-Pandemie hat den Druck auf die algerische Wirtschaft weiter erhöht, sodass eine Politik der Isolation gegenüber den nördlichen Nachbarn kaum noch haltbar wäre. Der politische Status Quo ohne große Veränderungen würde auch für die europäisch-algerischen Beziehungen ein weiteres Beschnuppern bedeuten. Sollte die MSP an die Macht kommen und ihr Amt als Regierungspartei auch so ausüben können, wie es die Verfassung vorschreibt, wird es spannend werden, inwiefern sich die martialische Rhetorik, insbesondere Frankreich und seinem Erbe gegenüber, weiterführen kann. Man wird zwar weiterhin eine sehr reservierte Politik gegenüber Europa fahren und Einmischungen in interne Gelegenheiten unterbinden, eine neue Eiszeit ist jedoch vorerst nicht zu erwarten. Schwierig wird es werden, einen Ton zu finden, der bei stagnierender oder abnehmender Reformbereitschaft und damit einhergehend schlechteren Werten in Presse- und Meinungsfreiheit angeschlagen werden kann, ohne das langsam wachsende Vertrauen zu zerstören. Offene Kommunikation, wie dies teilweise mit einem Reformpartner wie Tunesien geschieht, ist noch nicht möglich.
Wie geht es für Algerien weiter?
Die neue Regierung wird sich mehreren Herausforderungen stellen müssen: Neben einer ernstgemeinten politischen Transformation ist es vor allem der gesellschaftliche Frieden und das Vertrauen in Politik und öffentliche Institutionen, welche (wieder)hergestellt werden müssen. Daneben wird der wirtschaftliche Druck, die ehemalige Rentenökonomie zukunftsweisend zu transformieren, ein Drahtseilakt werden. Fast zwangsläufig werden Subventionen zurückgeschraubt werden müssen, um die Staatsausgaben zu senken. Dass sich neben sich ankündigenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krisen noch eine politische hinzugesellt, ist unglücklich. Von daher bedarf es gemeinsamen Handelns der gewählten Akteure mit existierenden Eliten, um diese drohenden Krisen abzufedern und das Land aus einer schwierigen Situation herauszuführen.