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Flucht und Migration :: Am Beginn einer neuen Ära

von David Brähler
Europa und Deutschland sind aufgeschreckt. Der Ansturm hunderttausender Flüchtlinge im vergangenen Jahr hat zu den gegensätzlichsten Äußerungen von Willkommenskultur einerseits und Fremdenhass andererseits geführt. Doch auch in Lateinamerika bewegen sich heute Millionen Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben – oft jedoch ohne große Notiz der Öffentlichkeit. Die Experten des von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Montevideo organisierten Kolloquiums setzten beide Perspektiven zu einem Mosaik zusammen.

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"Gäbe es keine syrischen Flüchtlinge, endeten nicht einfach die Migrationsströme," räumte der Experte für internationale Beziehungen, Christian Rieck, der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. aus Berlin in seinem Vortrag mit einer Reihe Mythen auf. Europa schaue jetzt auf das Mittelmeer und die Balkanroute, weil es vor seiner Haustür liege. Dabei gebe es seit Jahrzehnten weltweit massive Flüchtlingsströme, die bisher aber niemanden interessiert hätten. In diesem Zuge warf Rieck Europa eine „arrogante Debatte“ vor, die dies ausblende. Auch der Begriff „Flüchtlingskrise“ blende aus, dass es eigentlich um Migration in größerem Umfang gehe, die nicht einfach in wenigen Jahren ende.

Einige Weltregionen hätten deshalb schon vor Jahren Maßnahmen ergriffen, um Migration zu kanalisieren und zu regulieren. „Das sind keine Neuigkeiten, aber Neuigkeiten für die Deutschen“, so Rieck. Gründe für die nun spürbare Migration sieht Rieck in der weltweiten Politik und Globalisierung. „Es gibt klare Ungleichgewichte der Globalisierung und mehr Beweglichkeit“, so Rieck. Menschen machten sich auf den Weg in Regionen, in denen es besser sei als zuhause. Dies sei eine Realität, die sich nicht einfach und nicht kurzfristig ändern lasse.

Die Entwicklungspolitik der westlichen Welt in den vergangenen 50 Jahren habe durch Infrastruktur, Geld und Politik versucht, Entwicklungsländer in ihrer Region und mit dem Westen besser zu vernetzen. Paradoxerweise fördere diese Politik aber gerade Migration. Andere Gründe für Migration seien selbstverständlich staatliche Fragilität, Klimawandel und die von Rieck „Hollywood-Effekt“ genannte Attraktivität eines Zugangs zur globalen, westlich geprägten Gesellschaft durch Migration.

Das Fazit laute also: „Wir stehen an der Schwelle zu einer neuen Migrationsära. Die Politik ist herausgefordert, neue Wege zu suchen“, so Rieck. Und in Deutschland fehlten dafür aktuell an erster Stelle eine kluge Integrationspolitik und eine strategische Migrationspolitik. Die aktuellen Herausforderungen mit dem Asylrecht zu lösen, sei eine reine Behelfslösung. Die Ansicht, die demographischen, wirtschaftlichen und den Arbeitsmarkt betreffende Herausforderungen der deutschen Gesellschaft auf diese Weise lösen zu können, sei ein Mythos. „Deutschland und Europa müssen sich anpassen und ein neues Gesellschaftsprojekt entwickeln." Rieck verbannte auch den reinen Humanitarismus als Leitmotiv der Debatte in das Reich der Mythen. Natürlich motiviere, wie es die Kanzlerin zeige, jedes Schicksal eines jeden Menschen zur Hilfe. Aber der Humanitarismus alleine sei keine ausreichende Strategie auf lange Sicht, so der Berliner Experte.

Nach außen brauche es politische Instrumente, die Menschen in ihren Ländern, z. B. am Rande von Konfliktzonen, adressiere, damit sie sich nicht auf den Weg machten, sondern vor Ort eine gute Zukunft fänden. In Europa fehle zudem eindeutig eine kontinentale Lastenverteilung, da Migration kein rein deutsches Problem sei.

Aus der Sicht des Journalisten referierte Martín Dinatale, außenpolitischer Redakteur der argentinischen Zeitung La Nación, über Migration in Lateinamerika. Weltweit seien etwa 165-190 Millionen Migranten unterwegs, fast so viele, wie die USA Einwohner habe. Daten des Cepal zufolge lebten etwa 20 Millionen Lateinamerikaner außerhalb ihres Heimatlandes, zumeist in Nordamerika. Während die Migrationsströme bis zu den 1970er Jahren aus Europa kamen, habe sich der Strom seit Jahrzehnten in die andere Richtung verkehrt. Unter den verschiedenen Motivationen steche deutlich die Suche nach einem besseren Leben hervor. Einmal im „gelobten“ Ausland angekommen, fließe ein erheblicher Teil an Geldmitteln zurück in die Heimat, die etwa in den Staaten Zentralamerikas 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmachten.

Exemplarisch für Lateinamerika verwies Dinatale auf Argentinien, das 2004 durch den Wandel seiner Einwanderungspolitik eine größere Öffnung vollzogen habe. Seitdem seien zwischen 2004 und 2014 etwa 34 Prozent Paraguayer, 26 Prozent Bolivianer, 16 Prozent Peru und gleichzeitig ein bedeutender Strom von Chinesen eingewandert. Diese hauptsächliche Binnenmigration verlaufe zumindest oberflächlich friedlich und in einem gemeinsamen Kulturraum, worin sie sich von der Migration nach Europa unterscheide. Im Rahmen des Syrienkrieges habe Argentinien zwischen 2010 und 2014 auch 700 syrische Flüchtlinge aufgenommen. Dinatale kritisierte aber die vollmundige Willkommenspropaganda der ehemaligen Präsidentin Christina Kirchner, da im gleichen Zeitraum auch 1200 Asylanträge von Syrern abgelehnt worden seien.

„Migranten stören“, so Dinatale weiter. Deshalb suchten Staaten Wege, Einwanderung zum Beispiel über das Argument des Terrorismus zu erschweren. Die Terroristen der Anschläge der letzten Jahre seien jedoch fast ausnahmslos legale Einwanderer oder junge Leute gewesen, die in den Anschlagsländern aufgewachsen seien. Hier müsse aufgeklärt und der Xenophobie entgegengetreten werden.

Dinatale und auch die anschließende Diskussion traten diesem Mythos entgegen: Es sei falsch, dass die meisten Terroristen Flüchtlinge oder Migranten seien. „Terrorismus ist mehr ein Problem von Integration als von Migration“, so der argentinische Journalist. Es gebe Frustration, die sich auf gewaltsame Art kanalisiere, aber eben ein hausgemachtes Problem sei. Christian Rieck ergänzte, dass früher der Arbeitsmarkt immer als Integrationsfaktor gesehen wurde. Bei verpasster Integration, wie z. B. oft in der USA, werde der Arbeitsmarkt jedoch zum größten Frustrationsfaktor für Immigranten. Es müsse möglich sein, so der Experte der Konrad-Adenauer-Stiftung, dass ein Migrant nicht nur Teil der sozialen Sicherungssnetzen werde, sondern vollständiges Mitglied einer Gesellschaft. Deshalb brauche es mehr Integrationspolitik als Migrationspolitik. Der Staat habe hier eine Protagonistenrolle, eine solche Politik voranzutreiben.

In der anschließenden Diskussion wurde die Verantwortung der Presse für verantwortungsvolle und faire Berichterstattung über Migration eingefordert. Dinatale bekräftigte, dass die Presse weniger stigmatisieren und vielmehr helfen solle, gute Wege einer Gesellschaft in die Zukunft zu suchen. Kristin Wesemann, Leiterin des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. in Montevideo verwies in diesem Zuge auf die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, die nicht müde werde den Deutschen zu erklären, dass es Asylsuchende Einzelschicksale haetten, bei denen nicht generalisiert werden dürfe. Ihr Berliner Kollege ergänzte, dass die Türen für diejenigen offen seien, die Hilfe bräuchten, aber nicht für jeden. Gehe der Humanitarismus verloren, sei dem Populismus Tür und Tor geöffnet. Die Leute, die ankommen, seien Brücken in eine neue Zeit.

David Brähler

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