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KAS - Forschung: Reflexionen über das Indigene im heutigen Bolivien

Am 29. und 30. August stellte die Konrad- Adenauer Stiftung (KAS) die erste Ausgabe des Journals: KAS- Forschung: politische Analysen und Reflexionen, unter dem Titel: Reflexion über das indigene Thema im heutigen Bolivien, in Santa Cruz und La Paz vor.

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Die Repräsentantin und Leiterin des Büros der KAS in Bolivien, Susanne Käss, eröffnete das Event und begrüßte die anwesenden Autoren und Gäste sowie das Publikum. In ihren Eröffnungsworten erläuterte sie den Grund und die Relevanz der Publikation für die Arbeit der KAS in Bolivien. Susanne Käss erzählte, dass sie beim Antritt ihrer Arbeitsstelle in La Paz die politische Entwicklung unter Evo Morales, dem ersten indigenen Staatsoberhaupt in Bolivien, mit großer Neugier verfolgt hatte. Mittlerweile hat die Etablierung eines plurinationalen Staates zu vielen Veränderungen, nicht nur im politischen Sektor sondern auch im gesellschaftlichen Zusammenleben, geführt. Besonders die Situation der indigenen Bevölkerung hat seit mehreren Jahren einen Wandlungsprozess erfahren und wird sowohl von nationaler wie auch internationaler Seite aufmerksam beobachtet. In dem vorliegenden Journal wird die die Situation der indigenen Bevölkerung und deren politische sowie gesellschaftliche Position anhand von vier Artikeln aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Die wissenschaftlichen Autoren reflektieren das indigene Thema in Bolivien aus philosphischer, soziologischer, ökonomischer und schließlich aus einer Perspektive des Katerismus (Der Katerismus beschreibt eine politische Bewegung, welche sich nach ihrem Gründer Túpai Katari benennt und ein wesentliches Element der politischen Identität der Aymara widerspiegelt. Die Bewegung basiert auf zwei grundlegende Verständnisse: Erstens: koloniale Herrschaftstrukturen galten auch nach der Unabhängigkeit und Zweitens, dass die indigen Bevölkerungsanteil eine Mehrheit an der gesamten bolivianischen Gesellschaft stellt. Der Katarismus betont eine Unterdrückung der indigenen Bevölkerung in klassenspezifischer sowie ethnischer Hinsicht.) In diesem Kontext stellte Susanne Käss auch das Regionalprogramm der KAS: “Partizipation indigener Führungskräfte“ vor. Das Programm organisiert Veranstaltungen und fördert den Dialog zwischen indigenen und weiteren Akteuren in der gesamten Region Lateinamerika. Für Bolivien konnte ein spezielles Ausbildungsprogramm indigener Führungskräfte entwickelt werden, welches die Stärkung von Kompetenzen für indigene politisch aktive Personen auf der einen Seite und deren Sensibilisierung für neue politische Modelle auf der anderen Seite fördert. Parallel dazu bieten die Publikationen der KAS eine Amplifizierung von Wissen über politische, rechtliche und gesellschaftliche Prozesse in Lateinamerika durch eine qualitativ hochwertige und wissenschaftlich fundierte Informationsaufbereitung. Die KAS stellt bezüglich der Auseinandersetzung mit dem Indigenen praktische und theoretische Elemente der Weiterbildung und Auseinandersetzung zur Verfügung. Frau Käss schloss ihre Eröffnungsrede mit einem Dank an die Autoren und wünschte allen Anwesenden eine spannende Diskussion.

Als erster Autor übernahm der Soziologe, Kommunikationswissenschaftler und Direktor des Institutes für Kommunikationswissenschaften an der Univeristät „Católica Boliviana“, Rafael Loayza, das Wort. Er begrüßte zunächst alle Anwesenden und dankte der KAS für deren Vertrauen in die Ausarbeitungen der einzelnen Artikel. Rafael Loayza begann seinen Vortrag mit der Darstellung der sozialwissenschaftlichen Herangehensweise an ein solches sozial und politisch brisantes Thema. Er merkte an, dass eine große Herausforderung darin bestehe die Gesellschaft als Untersuchungsgegenstand zu präzisieren um Aussagen über dessen Entwicklungen zu machen. Für diesen Prozess werden Variablen benötigt, welche allerdings auf soziale Konstruktionen beruhen und einem ständigen sozialen Wandel unterworfen sind. Daraus ergibt sich eine hohe Wahrscheinlichkeit von Fehldiagnosen weshalb es einer sorgfältigen Forschungsweise bedarf. Rafael Loayza wies darauf hin, dass in Bolivien viele Diagnosen über die Gesellschaft ausschließlich von staatlicher Seite stammen, wodurch ein brüchiges sozialwissenschaftlich fundiertes Gesellschaftsbild entstehe. An diese Einführung anknüpfend stellte der Autor wesentliche Inhalte aus seinem Artikel: „Der plurinationale Staat: Der Weg zu einem unmöglichen Zusammenleben“ vor. Ausgehend von Daten, die für die letzten Jahre einen starken Anstieg sozialer Konflikte verzeichnen, stellt Loayza in diesem Artikel die These auf, dass ein friedliches Zusammenleben der Einwohner Boliviens unter der neuen Staatlichkeit durch erhöhtes Konfliktpotenzial erschwert wird. Laut den Angaben der „Unidad de Análisis de Conflictos“ der Stiftung „UNIR“ konnten für das Jahr 2011 insgesamt 1300 soziale Konflikte gezählt werden. Bei 90 Prozent dieser Konflikte war der Staat als Konfliktaktuer involviert. Dies deutet auf eine signifikante Korrelation zwischen der Ausgestaltung des Staats und einem parallel dazu entstehenden Konfliktpotenzial hin. Die von Loayza genannten Konflikte stehen im Gegensatz zu der von der Regierung idealisieren Integration aller Einwohner Boliviens durch den plurinationalen Staat. Diesbezüglich wies der Autor darauf hin, dass der Plurinationalismus in Bolivien multizivilisatorisch funktioniere. Dies bedeutet die gleichzeitige Etablierung mehrerer Nationen und unterschiedlicher ethnischer Kulturen in einem Staat. Damit einhergehend gab er dessen tatsächliche Existenz kritisch zu bedenken, da Angaben zu dessen Existenz jediglich von Seiten der Zentralregierung stammen. Im Fall des bolivianischen Staates wird die Unmöglichkeit alle Rechte der unterschiedlichen Nationen, insgesamt werden 36 Nationen gezählt, und ethnischen Kulturen einzuhalten, vor dem Hintergrund der gestiegenen Konflikte sichtbar. Die Idee der Plurinationalität existiere folglich nur auf nationalstaatlicher Ebene, erläuterte der Autor. Dabei verweisen drei Indikatoren auf die Differenz zwischen der politischen Idee und der tatsächlichen Realität: die Sprache, die Frage nach dem Territorium und deren Souveränität. Bezüglich des ersten Indikators stellt die Erhaltung und Unterstützung der indigenen Sprachenvielfalt eine zentrale Säule des plurinationalen Staates dar. Die Realität bringt allerdings andere Facetten hervor: Aus dem Zensus von 2001 ging hervor, dass nur 37 Prozent der Einwohner Boliviens eine indigene Sprache als Muttersprache angaben wohingegen 63 Prozent Spanisch als ihre Muttersprache angaben. Hinsichtlich der regionalen Autonomie zeichnet sich in der aktuellen Entwicklung eine zunehmende Urbanisierung der Gesellschaft ab. Angaben des Census von 2011 leben 75 Prozent der Bevölkerung in städtischen Gebieten. Ein Großteil der restlichen 25 Prozent leben darüber hinaus jenseits der Gebiete auf denen sich ihre ursprünglichen Vorfahren aufhielten. Die Voraussetzungen der Souveränität von autonomen indigenen Gebieten ist folglich nur auf knapp 7,3 Prozent der Bevölkerung anwendbar. Der Artikel schließt mit dem Resultat, dass eine Idealisierung der indigenen Identität im plurinationalen Staat vollzogen wird. Dabei steht diese im Antagonsimus zur Realität. Es ist zu beobachten, dass die indigene Identität vielmehr zu einem politischen Instrument wird was die Schaffung einer einheitlichen Staatlichkeit verhindert und zudem zu einer Überbewertung der indigenen Identität gegenüber einer bolivianischen Identität führt.

H.C.F. Mansilla, Politikwissenschaftler und Doktor der Philosophie an der Freien Universität Berlin, übernahm anschließend das Wort. In seinem Artikel analysiert er den „Indigenismo“ Boliviens vor dem Hintergrund der Zunahme globaler ökonomischer und sozialer Einflüsse. In diesem Prozess ist die Kontrastierung einer indigenen Weltanschauung auf der einen Seite von eine erschwerten Differenzierung zwischen genuinen Entwicklungen und dem Einfluss westlicher Lebensweisen geprägt. Auf der anderen Seite führt der Diskurs der Dekolonialisierung oftmals zu einer Verschleierung autoritärer Regierungspraktiken im alltäglichen gesellschaftlichen Leben.

Dr. Mansilla stellte in seiner Analyse zunächst fest, dass der aktuelle in Bolivien geführten Diskurse über „Indigenismo“ kaum Raum für Infragestellung der Grundwerte, historischen Überzeugungen und Zukunftsvisionen aufweist. Dadurch wird die Erzeugung von wahrhaftigem Wissen verhindert, zeigte der Autor auf. Dr. Mansilla verwies in diesem Zusammenhang auf die Sprecher des „Indigenismo“, deren Argumentationen auf einer Doktrin basieren, die für kritische Gedanken und Zweifel undurchlässig sind. Er führte des Weiteren aus, dass die radikalen Regierungen in Lateinamerika Ideologien erzeugen, welche aus einer prekolumbianischen Tradition hervorgehen und welche einerseits deren Popularität sichern, gleichzeitig aber ein kritisches Selbstbewusstsein der Betiligten hemmen. Dr. Mansilla benannte in diesem Zusammehang eine Kausalität zwischen der unkritischen Beibehaltung kultureller Traditionen und der dadurch entstehenden Unterbindung eines natürlichen evolutiven Veränderungsprozesses, welcher die Verlängerung inhumaner Praktiken stützt. Das kulturelle Erbe Boliviens beruht auf autoritären, nationalistischen, kollektivistischen und konservativen Grundpfeilern, fügte der Autor hinzu. Zudem ging er auf die in sozialen Bewegungen und Parteien in Lateinamerika geführten Diskurse ein. Diese enthalten oftmals die Revitalisierung der indigenen Kultur und seine Emanzipation gegenüber der okzidentalen Kultur, einhergehend mit einer ausgeprägten politischen Selbstbestimmung. Die in diesem Zusammenhang oftmals genannte Theorie der Dekolonialisierung enthält hinzukommend eine starke Emotionalität, welche sich durch ein jahrhundertelanges Leiden und die Diskriminierung der indigenen Bevölkerung erklären lässt. Im Rahmen eines Radikalisierungsprozess führt diese zur Unterbindung einer analytisch- rationalen Legitimation, erläuterte Dr. Mansilla. Diese Emotionen dienen außerdem als Grundlage für die Rechtfertigung radikaler Ansichten und hemmen eine auf analytisch-rationaler Argumentationsweise basierende Legitimation. In diesem Zusammenhang wies er auf den besonderen Umstand hin, dass die benannten Diskurse vor dem Hintergrund einer Anpassung an technische und ökonomische Entwicklungen aus dem westlichen Wirtschaftsraum geführt werden. Den ideologischen Leitbildern steht die voranschreitende Entwicklung, einer auf globalisierten, ökonomischen Grundsätzen basierenden Lebensweise der Bevölkerung, gegenüber. Dabei verlieren die Säulen der indigenen Identität, die Sprache und das Territorium zunehmend ihre Bedeutung. Die bereits von Loayza erwähnte Tendenz einer sich urbanisierenden Gesellschaft und die verstärkte Aneignung der spanischen und englischen Sprache zeugen laut Dr. Mansilla von pragmatischen Leitsätzen, welche in ihrer Bedeutung für die Lebensführung der indigenen Bevölkerung wachsen. Der Autor geht zudem von einem steigenden Bedürfnis der bolivianischen Bevölkerung nach einer modernen sozialen Ordnung aus, welche er anhand der Fortentwicklung effizienter werdender öffentlicher Dienste, einem freien Zugang zum Schulwesen sowei dem freien Zugang zu einem Markt unter guten Bedingungen und dem Ausbau von Infrastruktur identifiziert. Daran anschließend eröffnete Dr. Mansilla eine kritische Perspektive auf die sozialwissenschaftliche Wissens- und Informationsproduktion in Bolivien und benannte in diesem Zusammenhang mangelhafte Erklärungen zum Umgang mit dem kulturellen Erbe sowie eine fehlende Auseinandersetzung mit zukünftigen Entwicklungsprozessen. Dabei beobachtet er die Einnahme einer, von derzeitigen Modererscheinungen geprägten wissenschaftlichen Perspektive, welche vor allem eine antimperialistische und globalisierungskritische sowie vormoderne Sichtweisen beinhalte. Dr. Mansilla erläuterte, dass die Entstehung einer pluralistischen und demokratischen Mentalität durch ein unkritisches und die Vergangenheit verschönerndes Verständnis sowie durch fehlende Fragen nach Orientierungswerten verhindert werde. In Bezug auf die Situation der Sozialwissenschaften erwähnte er zudem eine Tendenz die negative bzw. kritische Auseinandersetzung mit der Entwicklung der indigenen Völker vermeidet. Daraufhin stellte der Autor fest, dass sich die Gesellschaft vor einer großen Herausforderung befinde, die vor allem daraus bestehe eine grundsätzlich kritische Mentalität vor dem Hintergrund rationaler und moderner Aspekte zu etablieren. In diesem Sinne gratulierte er der KAS zu ihrer besonderen Unterstützung der freien Forschung in den Sozialwissenschaften, welche weder in Europa noch in den Vereinigten Staaten eine Selbstervständlichkeit darstellt. Damit einhergehend benannte er die in Europa bestehenden intellektuell geführte Diskursen und bemerkte eine Tendenz, die von einer unkritischen Betrachtungsweise gegenüber der populistischen Regierungen Lateinamerikas zeugt. In den europäischen Sozialwissenschaften sei eine relativistische und multikulturalistsiche Tendenz zu erkennen, welche das Fortschreiten populistischer Regierungen unterstützt, stellte er kritisch fest. Ein damit einhergehender Relativismus der Werte beruht Dr. Mansilla zufolge auf Theorien, welche nicht auf rationalen Logiken sondern auf nicht feststellbare Phänomene und einer spekulative Vision der Notwendigkeit einer auf historischen und sozialen Gerechtigkeit gründenden Solidarität, basiert. Der Autor schloß seinen Vortrag mit den Worten, dass eine Rückbesinnung auf wertvolle ,in Deustchland aus der Reaktion und Erfahrung mit den dort totalitären Regierungen entstandenen Traditionen anzustreben sei. Dazu bedarf es, wie Theodor W. Adorno sagte, einem starken Ausdruck des „Neins!“, auch wenn sich dieser gegen gängige Konventionen richtet.

Fernando Untoja, Doktor der Wirtschaftswissenschaften an der Université Paris-X Nanterre und Dozent für Wirtschaftswissenschaften and der Universidad Mayor de San Andrés von La Paz, übernahm als weiterer Redner das Wort. Sein Artikel beinhaltet die Reflexion über das Aufeinandertreffen von Demokratie und Pluralismus vor dem Hintergrund des „Indigenismo“ und „Katerismus“ im aktuellen Bolivien. Der Autor beschäftigt sich darin mit Fragen über die Bildung einer geeinten bolivianischen Identität in einem von demokratischen Prinzipien geprägten Staat. Dabei beleuchtet er sowohl den geschichtlichen Verlauf der Entwicklung des Staates Bolivien nach dessen Gründung 1825, wie auch die Konstitution und die Weiterentwicklung der indigenen Einwohner. In seinem Vortrag schilderte Untoja die Dominanz der von Leid und Zerstörung geprägten Ansichten zur bolivianischen Identität und erläuterte in diesem Zusammenhang, dass diese zur Vermeidung der Definition einer Kultur und Identität führen. Die Berufung auf das Identitätsbild: „originario campesino“ ist demgegenüber veraltet und in der aktuellen bolivianischen Gesellschaft so nicht mehr existent. Im Rahmen seiner Reflexionen über eine einheitliche bolivianische Identität griff Untoja die Kultur der Kolla auf. Ihre kulturellen Bräuche und Wertvorstellungen haben in der bolivianischen Gesellschaft deutliche Spuren hinterlassen und zu einer bestimmenden Mentalität geführt, merkte der Autor am Abend der Buchpräsentation an. Die aus diesem Rahmen resultierende Wertvorstellung weist zudem optimistische Aspekte auf, welche beispielsweise daran deutlich werden, dass national entstandene Produkte wertgeschätzt werden. Dadurch kann eine das Land charakterisierende Essenz für deren Einwohner greifbar gemacht werden und eine verbundene Identität fördern, zeigte Untoja auf. In diesem Kontext kommt dem wirtschaftlichen Handel eine wesentliche Bedeutung zu. Dieser bringt eine Wirkungskraft mit sich, welche einzelne Personen zu freien Individuen und selbstverantwortlichen Entscheidungsträgern ausbildet. Der Autor deutete in diesem Kontext darauf hin, dass die bolivianische Identität am stärksten von den Volksgruppen Quechua und Aymara geprägt ist. Diese Personen besetzen viele Stellen des wirtschaftlichen Produktionsraum und produzieren nach Untojas Argumentation somit bedeutende Aspekte einer kollektiven Identität. Daneben weist der Autor auf einen beunruhigenden Standpunkt im Diskurs über die bolivianische Identität hin. Dieser kommt in der Dichotomisierung zwischen den „Einen“ (den Mestizen und Nachfahren der Kolonisatoren) sowie den „Anderen“ (den Indigenen) zum Ausdruck. Die sich gegenüberstehende und von Hass und Zerstörung geprägte Dichotomie macht die Bildung einer gemeinsamen bolivianischen Identität unmöglich. Des Weiteren bedenkt Untoja in seinem Artikel die Gründung und Entwicklung eines Staates und seiner Charaktereigenschaften vor dem Hintergrund der Globalisierung und ihrer zunehmenden Einflussnahme auf soziale und wirtschaftliche Entwicklungen. Damit einhergehend stellt er fest, dass die Gründung Boliviens im Jahr 1825 aus kolonial geprägten Umständen hervorging und die Konstruktion des Staates unter feudalen Vorstellungen passierte. Untoja fügt der Definition des Staats Bolivien eine Zustandsbeschreibung zu in welcher der Staat ohne Nation vorliegt und in dessen Rahmen keine Auseinandersetzung mit aufkommenden Problemen stattfindet. Weiterhin erläuterte er in seiner Rede, dass sich dieser Zustand erst mit der Revolution von 1952 änderte. Daran anknüpfend spielte ein weiterer Aspekt, der eine Dynamisierung der Gesellschaft bewirkte, eine wichtige Rolle: Die indigenen und kataristischen Protestbewegungen der 70-iger Jahre in Bolivien. Der bolivianisches Staat befindet sich jedoch nach wie vor in einem von latenten sozialen und politischen Konflikten getragenen Prozess wieder und scheint von der Etablierung einer einheitlichen Identität noch weit entfernt, schlussfolgerte der Autor an diesem Abend. Diesbezüglich ist die Notwendigkeit stabiler Institutionen von großer Bedeutung, was sich vor der Problematik über das koloniale Erbe des Staates ohne Nation aber als problematisch erweist. Der Autor sieht in einem nationslosen Staat eine Konservierung des kolonialen Prozesses wieder. Zudem stehen dem Staat die einzelnen Nationen, wie beispielsweise Quechua- Völker, welche eine eigene Sprache sprechen, eigene Territorien besitzen und eine spezifische Kultur vertreten, gegenüber. Die Etablierung des „Indigenismo“ als einheitliche Identität weist Untoja zufolge Mängel auf und kann nicht konkretisiert werden. Die Frage, wen der 36 Nationen die Politiker meinen wenn sie von Indigenen sprechen bleibt zudem unbeantwortet. Darüber hinaus geht Untoja davon aus, dass der „Indeginismo“ eine koloniale Konstruktion darstellt. In diesem Sinne bedarf es der Bildung einer einheitlichen bolivianischen Identität, welche als Nation im Staat Bolivien existiert. Untoja zufolge muss dazu zunächst eine Separierung des Kontextes und der Dekonstruktion gedanklicher Verbindungen und Ideen stattfinden. In diese Überlegungen bezieht er das kataristische Gedankengut, von dem er ausgeht, dass es die bolivianische Gesellschaft in eine gerechte freie und solidarische Gemeinschaft transformieren kann, ein. Ihmzufolge stellt der Katarismus eine Philosphie dar, welche sich mit der Konstruktion der menschlichen Umwelt beschäftigt und versucht die Komplexität des Lebens zu umfassen. Die Vielfalt dieser Weltanschauung fasst die unterschiedlichen Lebensweisen der Aymara und Quechua zusammen und beinhaltet somit die notwendige Grundlage für die Bildung einer einheitlichen Identität. Untoja machte in seinem Vortrag deutlich, dass im Katarismus die Kraft der Nation liegt. Mit Blick auf die aktuelle Situation wies er darauf hin, dass die Aufgabe der aktuellen Generation darin bestehe eine Ursupation der Macht auf Grundlage von Täuschung und Betrug im Namen eines fundamentalen Indigenismo zu identifizieren und zu demaskieren.

Der Autor des vierten Artikels, Iván Velásquez, Ph.D. an der Georg- August Univeristät in Göttingen und Koordinator der KAS in Bolivien, stellte als weiterer Redner einen Beitrag zu Gründen und Charakteristika von extremer Armut und Ungleichheit indigener Bevölkerungsgruppen in Bolivien vor. Zunächst erläuterte er die Ausgangssituation: In Bolivien herrscht nach wie vor eine hartnäckige und breite Armut, die sich vor allem in ländlichen Gebieten konzentriert. Entgegegen sinkender Tendenzen der Armut in urbanen Gebieten ist die extreme Armut auf dem Land nach wie vor hoch. Dabei ist die Merheit der ländlichen Bevölkerung indigen. Die meisten der Einwohner gehören quechua,- aymara oder guaranísprechenden Gruppen an. Besonders diese Bevölkerungsgruppen zeigen eine hohe Anfälligkeit für Armut, ausgelöst durch klimatische, ökonomische oder soziale Veränderungen. Der Autor machte vor dem Publikum deutlich, dass ein klares Verständnis über den sozialökonomischen Status der ländlichen indigenen Bevölkerung eine notwendige Voraussetzung ist um effektive Programme zur Minderung der Armut einrichten und eine gleichmäßige sozioökonomische Entwicklung voranzutreiben zu können. In seinem Artikel stellt Velásquez zwei, auf multivariate und ökonometrische Verfahren beruhende Analysen, vor. In der ersten Analyse werden auf Grundlage von Daten des nationalen Statistikinstituts der Grad der extremen und moderaten Armut, ihre Folgen sowie die Einkommensungleichheit zwischen 1996 und 2008 auf nationaler Ebene untersucht um so einen Überblick über die Entwicklung zu erhalten. Die zweite Analyse basiert auf der Exploration zentraler Aspekte, Determinanten und Charakteristika der ländlichen Armut. Die Daten stammen dabei aus einem Panel, der zwischen 2004 und 2005 in 822 Haushalten in den Regionen La Paz. Oruro, Potosi und Chuquisaca erhoben wurden. Die gesamte Erhebung lehnt am Konzept des Living Standard Measurement study survey (LSMSS) an, welches von der Weltbank zur Messung und Identifikation von Armutsentwicklung elaboriert wurde. Darüber Hinaus werden ebenso Einflüsse aus klimatischen Veränderungen auf die Armutsentwicklung in Bolivien überprüft. Für die methodische Vorgehensweise wurde aus mehreren Instrumenten und Berechnungsmethoden ausgewählt. Zudem wurde das Ausmaß der Armut anhand verschiedener Indikatoren erfasst und überprüft: Armut nach generellem Ausmaß, Armut nach ländlichen Regionen, Armut nach Geschlecht, Armut nach Ethnie, chronische Armut in Haushalten, Grad der Ungleichheit, Grad der Mobilität des Einkommens, Bestimmungsgrößen des Wohlstandes und Bestimmungsgrößen chronischer Armut. Die Auswertung der Daten ergab folgende Ergebnisse: (1) Einwohner indigener Abstammung sind häufig von Ungleichheit und Armut betroffen, dabei besteht zwischen den Indigenen und Nicht- Indigenen nach wie vor hohe Differenzen zwischen dem ökonomischen Wohlstand. (2) Indigene Bevölkerungsgruppen, die in ländlichen Gebieten leben sind häufig von schwerer und chronischer Armut betroffen. (3) Die Einkommensungleichheit innerhalb der armen Bevölkerungsgruppe ist mittelschwer, das Vieh und der Boden sind allerdings ungleich verteilt. (4) Zwischen den Einkommensgruppen besteht kaum Mobilität: die Daten zeigen einen relativ geringen bis gar keinen Spielraum für den Wechsel zwischen einzelnen Quantilen. Aus den Ergebnissen der Untersuchung geht zudem hervor, dass ein Zusammenhang zwischen Ethnizität (indigene Herkunft), Armut und Ungleichheit besteht. Folgende Merkmale konnten dabei abstrahiert werden: Isolation, Mangel an produktiven Ressourcen, Mangel an nachhaltigen Produktionsverfahren sowie starke Einschränkung der agrikulturellen Produktion. Außerdem ist die Anfälligkeit von chronischer und extremer Armut betroffen zu sein mit weiteren Faktoren verknüpft: (1) niedriges Bildungsniveau, (2) Mangel an landwirtschaftlichen Technologien und Infrastruktur, (3) Mangel an Möglichkeiten das Einkommen sowie die Ressourcen zu diversifizieren, (4) geringe Prdouktivität der Böden und niedrige Preise, (5) Subsistenzwirtschaft, (6) Fehlen von Eigentumsrechten, (7) klimatische Einwirkungen, z.B. plötzlicher Frost oder Überschwemmungen, die sich auf die Erträge auswirken. Velásquez hob in diesem Kontext des Weiteren die mangelhafte Infrastruktur von Bildungseinrichtungen im ruralen Raum hervor. Analphabetismus und das Beenden der Bildungslaufbahn nach dem ersten oder zweiten Bildungsabschluss fördern die soziale Exklusion der auf dem land lebenden Indigenen. Zudem besteht in der nach wie vor hohen Einkommensungleichheit zwischen großen Gruppen mit niedrigen Einkommen und kleinen Gruppen mit hohem Einkommen ein Konfliktherd sozialer Spannungen. Diese Daten verdeutlichen die Notwendigkeit eines Eingreifens von staatlicher Seite um die hohe Armutsrate nachhaltig zu senken. Zum Abschluss seines Vortrages deutete Velásquez auf die Notwendigkeit der Ausweitung von Untersuchungen in diesem Themenfeld hin: In Zukunft werden mehr Studien über die Dynamiken von Armut, die Verwundbarkeit und die Fallen die zur Armut führen benötigt um elaborierte Ansätze und Kriterien für die Umsetzung politischer Maßnahmen zu erhalten. Des Weiteren bedarf es einer flächendeckenden Analyse des gesamten bolivianischen Raums. Von staatlicher Seite sollen in diesem Zusammenhang Daten bereitgestellt werden. Darüber hinaus müssen die Ursachen für den Rückgang der Armut in der letzten Periode festgestellt werden.

Die Artikel und Vorträge der einzelnen Autoren wurden jeweils kommentiert. In Santa Cruz übernhahm Oscar Ortíz Antelo, Sekretär der Entwicklungskoordination und institutionellen Autonomie der Regierung des Departaments Santa Cruz, diese Aufagabe. In La Paz kommentierte Victor Hugo Cardenas, ehemaliger Vize- Präsident die Publikation.

Ortíz verwies in Santa Cruz zunächst auf die grundlegende Frage nach der Bedeutung einer plurinationalen Nation, dessen realpolitischen Umsetzungen und Einhaltung des Rechtsstaats. Diesbezüglich gebe es in Bolivien noch eine Menge zu tun, wobei eine landesweite Diskussion ,in der eine wichtige und vielversprechende Kraft stecke, nicht fehlen dürfe, merkte der Redner an. Ortíz griff vor allem das Thema des vierten Artikels auf und bemerkte, dass Armut ein häufig angesprochenes Thema in Bolivien ist, bei dem allerdings eine gemeinsame und konkrete Idee über den Begriff von Armut fehlt. Obwohl in Bolivien ein Anstieg von Wohlstand und wirtschaftlichem Wachstum zu verzeichnen ist herrscht in der Bevölkerung nach wie vor eine hohe Armut. Diesbezüglich gilt es Lösungen zu finden und politische Mittel zu eruieren um diesen Zustand zu überwinden. In diesem Zusammenhang verwies Ortíz auf die Spannung zwischen Modernität und Tradition, die sich sowohl in der Politik als auch im Kontext des Plurinationalismus widerfindet. Es stellt sich die Frage ob Wohlstand auch in Beibehaltung des Traditionellen herbeigeführt werden kann und ob das „sistema communitario“ (Gemeinschaftssystem) für die Beseitigung von Armut überhaupt sinnvoll ist. Schlußfolgernd erläuterte Ortíz, dass Armut auch in den kommenden Jahren ein schwieriges und herausforderndes Thema in Bolivien sein wird.

Victor Hugo Cardenas ging in seinem Kommentar vor allem auf den Diskurs über Indigenität und dessen Materie im plurinationalen Staat ein. Er stellte die Frage wer eigentlich darüber entscheide, wer oder was indigen ist. Innerhalb des geführten Diskurses existiert keine Definitionsbasis, stattdessen bestehen mehrere Vorschläge zu dem Begriff Indigenität. Zu den einzelnen Beiträgen äußerte sich Cardenas folgendermaßen: Der Arbeit von Manzilla sprach er ein hohes intellektuelles Maß zu. Er bemerkte dazu kritisch, dass auch die indigene Tradition demokratische Elemente, wie beispielsweise direkte und partizipative Demokratie beinhaltet und dies nicht übersehen werden darf. Damit einhergend befürwortete er ein kritisches Denken über indigene Kultur- bzw. Politiksysteme.

Zu den Beiträgen von Loayza und Velásquez merkte Cardenas an, dass die praktische Umsetzung von politischen Zielen stets eine Herausforderung ist. In der qualitativen Analyse von Loayza und der quantitativen Vorgehensweise von Velásquez wird die Frage, welche Beziehung zwischen Staat und indigenen Völkern bestehen soll tangiert und fortentwickelt. Diesbezüglich existieren bisher allerdings noch wenige Antworten und es tauchen demgegenüber vermehrt Diskrepanzen zwischen der Konstitution und den staatlichen Autoritäten in Bezug zur indigenen Identität auf. Ein Beispiel ist die Diskussion um die Identifikation mit dem Mestizentum. Dieses Thema ist mit viel Leid, aber auch Unverständnis verbunden. Cardenas erläuterte abschließend, dass in Bolivien eine Entwicklung zu einem subnationaler Staat, in dem 36 Nationen leben, vorangetrieben wird. Dabei fokussiert die Regierung eine Etablierung der Bürgerschaft aus ethnischer statt politischer Perspektive.

Daran anschließend wurden aus dem Publikum zahlreiche Fragen gestellt und Kommentare geschildert auf welche die Vortragenden ausführlich antworteten. Iván Velásquez schloss die Veranstaltung mit herzlichen Dank an alle Anwesenden und lud zum Empfang ein.

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