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Veranstaltungsberichte

Der feine Unterschied zwischen einer Reform auf dem Papier und der Umgestaltung der Realität

von Dr. iur. Christian Steiner

Verfassungsrechtsdebatte zur jüngsten politischen Reform der Verfassung in Mexiko

Mexiko-Stadt, den 16. Oktober 2012

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Im Rahmen der nunmehr 22. Verfassungsrechtsdebatte des

Rechtsstaatsprogramms Lateinamerika, gemeinsam ausgetragen mit dem

Mexikanischen Institut für Verfassungsprozessrecht (Dr. Eduardo Ferrer

MacGregor, jüngst zum Richter des Interamerikanischen Gerichtshof für

Menschenrechte gewählt), haben am vergangenen Dienstag, den 16. Oktober,

Dr. Marcos del Rosario und Dr. Daniel Márquez mit den Teilnehmern über die

jüngste politische Reform der Verfassung in Mexiko debattiert. Mit der

Verfassungsänderung vom 9. August hat der Verfassungsgeber insbesondere

die Möglichkeit von Gesetzesinitiativen aus dem Volk und Referenda

vorgesehen, (partei-)unabhängige Kandidaturen zugelassen, die Regelungen

für die Stellvertretung des Präsidenten der Republik überarbeitet und eine

neue Form der Zusammenarbeit zwischen Präsident und Legislative im

Gesetzgebungsverfahren eingeführt. Außerdem wurden einige Zuständigkeiten

des Obersten Gerichtshofs der Nation neu geregelt.

 

Die Experten waren sich einig, dass mit der Reform wichtige Aspekte des

politischen Systems des Landes angegangen worden sind, allerdings andere,

seit langem anhängige Justierungen der Verfassung ausgelassen wurden (etwa

die Möglichkeit der konsekutiven Wiederwahl von Abgeordneten oder die

Reduzierung ihrer Anzahl auf Bundesebene). Die Teilnehmer debattierten

eingehend zu der Frage, welche praktischen Konsequenzen die Reform haben

würde. Dr. Márquez bezweifelte insofern den wirklichen Reformwillen des

Gesetz- bzw- Verfassungsgebers und verglich die mexikanischen

Institutionen in ihrer Fähigkeit zur Vorspiegelung von Handlungsfähigkeit

mit einem Chamäleon.

 

Reformunwillen lässt sich dem mexikanischen Verfassungsgeber nominal nicht

vorwerfen. Dr. Ferrer rechnete eindrücklich vor, dass in den letzten

Jahren die Verfassung der Republik im Durchschnitt alle zwei Wochen

reformiert wurde. Prof. Dr. Stefan Jost, neuer Vertreter der KAS in

Mexiko, gab angesichts dessen zu bedenken, dass bei einem derartigen

Reformrhythmus vor allem Rechtsunsicherheit, nicht aber Rechtswirklichkeit

geschaffen werde.

 

Dies führte zu einer eingehenden Diskussion über die Gestaltungskraft des

Verfassungstextes. Dr. Steiner stellte die These auf, die

Reformbereitschaft des Gesetzgebers sei proportional zum Grad der

Nichtbeachtung von Normen: Je klarer dem Gesetzgeber sei, dass Normen nur

nach Opportunitätskriterien befolgt würden, desto sorgloser würden diese

erlassen und verändert. Solange die Spielregeln lediglich auf dem Papier

stünden, im entscheidenden momentan aber keine praktische Geltung

erlangten, sei die Arbeit des Gesetzgebers nicht gestaltender, sondern

lediglich deklarativer Natur. Statt kontinuierlich zu reformieren, solle

der Staat zunächst einmal für die Effektivität des geltenden Rechts

sorgen. Hierauf würden die verantwortlichen Akteure in Staaten mit

demokratischen und rechtsstaatlichen Defiziten nicht genügend Kraft

aufwenden. Die Verfassungsreform im Bereich des Menschenrechtsschutzes vom

Juli 2011 könnte in dieser Hinsicht eine Ausnahme darstellen, wenn die

Dynamik, mit der entscheidende Akteure ihre Umsetzung vorantrieben, allen

voran die Präsidentschaft des Obersten Gerichts Mexikos, die

Bundesrichterschule, aber auch Forschung, Lehre, Zivilgesellschaft und

einige Ombudsleute, beibehalten werde. Die Gerichtsbarkeit könne hier,

ähnlich wie in anderen Staaten, etwa Kolumbien und Costa Rica, einen

entscheidenden Beitrag zur Transformation der Verfassungs- und politischen

Kultur beitragen, um die historische Staatslastigkeit des

Staat-Bürgerverhältnisses in Ausgleich zu bringen.

 

Einigkeit bestand weitgehend auch bei der Beantwortung der Frage, ob

zuerst das Ei (Demokratie) oder das Huhn (demokratische Institutionen)

komme: Die Konsolidierung der Demokratie sei ohne Demokraten nicht

möglich; überzeugte Demokraten seien umgekehrt aber auch nicht ohne

demokratisch agierende Institutionen heranzubilden. Prof. Dr. Jost verwies

in diesem Zusammenhang auf die Erfahrungen der deutschen Geschichte. Die

Weimarer Republik habe über eine vorbildliche Verfassung verfügt, sei aber

trotzdem katastrophal gescheitert, weil es an den Demokraten gefehlt habe,

um dem exemplarischen Verfassungstext mit dem erforderlichen

demokratischen Geist praktische Wirksamkeit zu verleihen. Die

Mission "Demokratie" der Konrad-Adenauer-Stiftung sei gerade aus dieser

Erkenntnis erwachsen.

 

Das Rechtsstaatsprogramm der KAS organisiert seit mehreren Jahren

regelmäßig Verfassungsrechtsdebatten zu aktuellen Themen der mexikanischen

Rechtspolitik. An den Diskussionsveranstaltungen nehmen, je nach Thema,

Juristen (insb. Richter, Anwälte, Verwaltungsjuristen, NRO-Angehörige,

Akademiker, wiss. Mitarbeiter an oberen Gerichten) und Rechtspolitiker

teil. Üblicherweise werden hierfür zwei Redner geladen, die zum jeweiligen

Thema konträre Standpunkte vertreten. Nach kurzen Impulsreferaten

diskutieren die Teilnehmer mit den Experten die aufgeworfenen Fragen.

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Dr. iur. Christian Steiner

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