Veranstaltungsberichte
Zicherie-Böckwitz ist ein Doppeldorf in der Altmark, deren beiden Teile seit vielen Generationen unterschiedlichen Reichen angehörten. So war das westlich gelegene Zicherie einst Teil des Königreichs Hannover, während Böckwitz zu Preußen gehörte. Dennoch fühlten sich die Einwohner einander zugehörig – sie feierten gemeinsame Feste und pflegten untereinander verwandtschaftliche Beziehungen. Nach 1945/49 lagen die beiden Dörfer nicht nur an der Grenze zwischen den beiden deutschen Teilstaaten, sondern genau auf der Linie zwischen zwei verfeindeten Machtblöcken, die sich im „kalten Krieg“ gegenüberstanden.
Der Journalist Heinrich Thies setzt sich in seinem Buch „Weit ist der Weg nach Zicherie“ mit der Geschichte dieses Doppel-Dorfes auseinander und schildert das Leben im einstigen Grenzgebiet. Dazu hat er viele Zeitzeugen befragt, mehrmals die Orte besucht und Dokumente ausgewertet. Im Rahmen einer Veranstaltung des Bildungswerks Erfurt der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. stellte er sein Buch im Grenzmuseum Schifflersgrund vor. Wolfgang Ruske vom Arbeitskreis Grenzinformation betonte in seiner Begrüßungsansprache, dass es notwendig sei, die Geschichte der Grenze nicht nur aus Büchern oder Filmen allgemein zu kennen, sondern dass persönliche Schicksale besser zum Verständnis des Leids an der innerdeutschen Grenze beitragen.
In Zicherie-Böckwitz durchzog diese bis 1989 unüberwindliche Barriere Gebäude und Gehöfte. So verlief die Grenze mitten durch die Dorfkneipe – am Tresen befand man sich in der DDR, auf der Toilette in der Bundesrepublik. In der ersten Phase der deutschen Teilung wurden Flüchtlinge durch das Toilettenfenster geschleust - bis zum Abriss des Gebäudes. Thies erwähnte überdies die „Aktion Ungeziefer“, als die DDR 1952 als „politisch unzuverlässig“ geltende Personen aus dem Grenzgebiet umsiedelte. Viele Böckwitzer Bauern flüchteten nach Zicherie und mussten fortan den Zerfall ihrer einstigen Höfe beobachten. Des weiteren sprach der Referent über die Schnelligkeit und Absurditäten des Systemwechsels von einer Diktatur in eine andere: Nachdem sich die sowjetischen Truppen zurückzogen, übernahmen (ost-)deutsche Grenzsoldaten die Bewachung – mit der typisch deutschen Genauigkeit und umgefärbten Wehrmachtsuniformen!
Heinrich Thies las mehrere Episoden aus seinem Buch, die das Leben und die Schicksale an der Grenze besser verdeutlichten. So beschrieb er den Ausbruch mehrerer Rinder aus einem Zicherier Stall. Die Tiere irrten ins Minenfeld und kamen qualvoll ums Leben; nur eine Kuh überlebte und wurde von einem DDR-Grenzer gerettet, der für sein Handeln eine Strafe erhielt.
Eine weitere Episode beschrieb vier westdeutsche Jugendliche, die während eines Volksfestes betrunken zur Grenze liefen und Grenzsoldaten provozierten. Als sie kurz DDR-Territorium betraten, wurden sie verhaftet – nur einer konnte fliehen. Die Folge waren mehrere Jahre Zuchthaus wegen „Verletzung von DDR-Hoheitsgebiet“ – hinzu kam, dass ein Jugendlicher gerade seinen Wehrdienst leistete, ein anderer seinen Dienst bei der Bundeswehr eben beendet hatte; beide zählten als „Spione“.
In der abschließenden Diskussion sprachen die Teilnehmer über ihre Erlebnisse im Grenzgebiet und über die Notwendigkeit, das Geschehen von damals nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, sondern über die junge Generation der Nachwelt zu überliefern. Anwesend war zudem ein einstiger Bürger aus der Region um Zicherie, der Thies’ Recherchen weitgehend bestätigte, einige der vom Autor genannten Personen und Ereignisse selbst kannte, so die Feier anlässlich der Grenzöffnung wenige Tage nach dem Fall der Mauer in Berlin.