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„Als die DDR sich am 3. Oktober 1990 aus der Existenz der Staatenwelt verabschiedete, nahm sie für diese kollektive Flucht quasi den ‚Westausgang’ der Geschichte“, schrieb der Publizist Ulrich Schacht in seiner Rezension des Buches „Westausgang“ von Jürgen K. Hultenreich in der Süddeutschen Zeitung vom 13.01.2006. Für diesen Westausgang hatte sich auch Georg Hull entschieden, eine von drei Hauptfiguren von insgesamt 64 Stories. Im „Altenburger Gespräch“ der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. – moderiert vom Landtagsabgeordneten Fritz Schröter - stellte der Autor dieses Buch vor und las mehrere Auszüge.
Bereits zu Beginn der Diskussion wurde über autobiographische Einflusse im Buch gesprochen. Hultenreich bekundete, dass er viele eigene Erlebnisse in die Geschichten einfließen lassen hat – er selbst identifiziert sich mit Hull, doch tauchen Episoden aus seinem Leben auch bei anderen Figuren auf. Einschneidendes Erlebnis in der Biographie des 1948 in Erfurt geborenen Autors war die Verhaftung nach einem Fluchtversuch über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik. Als der damals Jugendliche beim Gerichtsverfahren die Juristen beschimpfte, sie wären in jeder Diktatur Handlanger des Systems, folgte die Zwangseinweisung in die Psychiatrie – verarbeitet im ebenfalls autobiographischen Roman „Die Schillergruft“.
Erst 1985 gaben die DDR-Behörden dem Ausreiseantrag Hultenreichs statt, so dass dieser den „Westausgang“ nehmen konnte. In Altenburg las der Schriftsteller die entsprechende Geschichte: Er musste seine Freundin und seine Katze in der DDR zurücklassen und hatte auch nur wenige Stunden Zeit, sich von den Freunden zu verabschieden und einige wenige Habseligkeiten zu packen. Wichtig war ihm vor allem eine Sammlung von Steinen sowie eine alte Schreibmaschine und Papier, so dass der schwere Koffer auch von den Grenzkontrolleuren kaum zu schleppen war.
Im Westen erwartete Hultenreich bereits ein Verlag, denn ein heimlich aufgezeichnetes ARD-Porträt dreier Untergrundautoren der DDR, das in den Dritten Programmen gesendet worden war, berichtete über das Publikationsverbot. Zwar hatte Hultenreich mehrere Gedichte und Prosa-Texte bei DDR-Verlagen eingereicht, doch die Lektoren fanden selbst in Naturgedichten politische Inhalte, die vom Verfasser dort nie beabsichtigt waren. Ohnehin war ihm ein Studium angesichts der politischen Vorstrafe stets untersagt geblieben, stattdessen musste sich der literarisch Begabte mit Hilfsarbeiten über Wasser halten, u.a. bei einer Tätigkeit in den Erfurter Malzwerken (das entsprechende Kapitel las der Autor ebenfalls).
Nach dem Filmbeitrag war Jürgen K. Hultenreich allerdings überrascht, dass keine sofortige Verhaftung erfolgte. Im Gegenteil: Die Staatssicherheit ging davon aus, er weile bereits in der Bundesrepublik. Nur aufgrund einer zufälligen Kneipen-Begegnung mit einem Bekannten, der allerdings für das MfS tätig war, entpuppte sich die Stasi-Annahme als Irrtum. Fortan waren 14 Agenten auf den Schriftsteller angesetzt und seine Ausreise schnellstmöglich beschlossen. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die DDR Angst vor einem politischen Skandal hatte – mitten in der internationalen Entspannungspolitik nach Gorbatschows Amtsübernahme in Moskau: Das MfS forderte für Hultenreich 7 ½ Jahre Haft, kreidete ihm sogar „Vergehen“ an, die er niemals begangen hatte, z.B. die Beteiligung an Protesten gegen die Biermann-Ausbürgerung 1976 oder das öffentliche Auslegen systemkritischer Gedichte in Erfurt. Erst Mielkes Stellvertreter Schwanitz notierte in Hultenreichs Akte, man könne sich einen Skandal nicht leisten, denn der Autor sei angesichts des Filmes nun bekannt. Die Zwangsausweisung aus der DDR war somit der einzige Weg, den Eklat zu umgehen – für Hultenreich der „Westausgang“.