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Veranstaltungsberichte

Departements versus Bundesländer

Regionen im französisch-deutschen Vergleich

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mit Dr. Jean-Claude Voisin

Mittwoch, 9. April 2003, 19.00 Uhr

Der 40. Jahrestag der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags bildet den Anlass für eine Vortragsreihe, die sich zum Ziel gesetzt hat, nicht nur an politische Leistungen zu erinnern, sondern nach den Perspektiven und Chancen für das Hier und Heute zu fragen. Im zweiten Teil der Vortragsreihe widmete sich der Berater für thüringisch-französische Angelegenheiten an der Staatskanzlei Thüringens, Dr. Jean-Claude Voisin, der Entwicklung der französischen Departements. Gleichfalls gab er einen Rückblick auf die deutsch-französischen Beziehungen in den Städtepartnerschaften zwischen Frankreich und Deutschland.

Noch zu Beginn der 80er Jahre war Frankreich einer der zentralistischsten Staaten Westeuropas. Erst mit der Wahl François Mitterrands zum Staatspräsidenten und dem damit verbundenen Machtwechsel zugunsten der Linken kam es zu einer Dezentralisierungsreform. Alle wichtigen Partner Frankreichs in der Europäischen Gemeinschaft hatten bereits einen Dezentralisierungsprozess in Gang gesetzt, sei es unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg (Deutschland, Italien) oder in den siebziger Jahren (Spanien). Die oft erfolglosen Dezentralisierungsbemühungen Frankreichs sowie die Probleme der 1982/83 eingeleiteten Reform erklärte Voisin an Hand der Jahrhunderte alten Geschichte Frankreichs.

Seine wichtigsten Züge habe der Zentralismus bereits vor der Industriellen Revolution angenommen. Der schnelle Wandel und erheblich erweiterte Anforderungen der (post-) industriellen Gesellschaft ließen sich mit der überkommenen zentralistischen Verwaltung nicht mehr effizient bewältigen. Die gesamte Entwicklung erforderte deshalb raschere, flexiblere, realitätsnahe Entscheidungen, dazu im größerem Umfang, die nur noch auf regionaler Ebene möglich erschienen. Hierin lag bereits die entscheidende Motivation des Staates für die Regionenpolitik der 60er und 70er Jahre: eine Dekonzentration in größeren, zwischen Zentrale und Departements geschobenen Verwaltungseinheiten. Unterstützt wurde das Bedürfnis durch das Wirtschaftwachstum, welches das räumliche Entwicklungsgefälle zwischen Paris und der Peripherie vergrößerte und schärfer ins Bewusstsein rückte.

Nach der Wahl François Mitterrands begann eine umfangreiche Neuverteilung der Machtbefugnisse, Kompetenzen und Finanzen zwischen dem Staat und den Gebietskörperschaften. Mitterrand machte aus der Dezentralisierung „das große Anliegen", und noch im selben Jahr wurden die ersten Dezentralisierungsgesetze verabschiedet. Wie nie zuvor verzichtete die Staatsspitze damit auf einen Teil ihrer zentralen Zuständigkeit und übertrug sie auf die Gebietskörperschaften.

Das erste Dezentralisierungsgesetz über die „Rechte und Freiheiten der Kommunen, Departements und Regionen" bildete die zentrale Grundlage für die Reform. Die seit 1982 erlassenen Gesetze zielen unter verschiedenen Aspekten auf Dezentralisierung und Regionalisierung ab. Voisin nannte vor allem die Einschränkung der Ämterkumulierung; die Einrichtung regionaler Rechnungshöfe (cours des comptes régionales); die Reform der Planifikation; das Sonderstatut für die Städte Paris, Lyon, Marseille; das Statut und die Kompetenzen für die Region Korsika; als Kernstück des Gesetzeswerkes die Zuteilung von Kompetenzen an Regionen, Departements und Gemeinden sowie die entsprechende Zuteilung öffentlicher Mittel an die Gebietskörperschaften.

Von entscheidender Bedeutung waren für den Referenten die Gesetze über die Neuaufteilung der Kompetenzen zwischen Staat sowie den Gebietskörperschaften Region, Departement und Gemeinde. Drei Hauptinhalte kennzeichnen diese Gesetze: die Aufwertung der 22 Regionen zu rechtlich vollwertigen Gebietskörperschaften; die Übertragung des Exekutivrechts für bestimmte Zuständigkeitsbereiche auf Departements und Regionen sowie die Erweiterung der Kompetenzen der Gemeinden selbst; die Abschaffung der tutelle, der direkten zentralen Staatsaufsicht durch die Präfekten über die Gebietskörperschaften.

Wie in Deutschland ist die Region (Bundesland) global für den Bereich Wirtschaft im weiteren Sinne zuständig; ihr obliegt die regionale Struktur und Wirtschaftspolitik. Außerdem ist sie zuständig für die berufliche Aus- und Fortbildung, das Schulsystem insgesamt, Flurbereinigung, ländliche Infrastruktur, Fischerei und Handelshäfen, Gesundheitsvorsorge und Sozialleistungen usw.

Die mit der Dezentralisierung verbundene starke politisch-administrative Veränderung des französischen Systems beurteilte Voisin als überwiegend positiv. Drei Punkte waren Voisin bei der Bewertung der Dezentralisierung wichtig:

  • die generelle Architektur der Reform, welche im speziellem die Kompetenzverteilung zielt. In der Praxis wurde der Kompetenzentransfer zugunsten der Gebietskörperschaften nie so verwirklicht, wie es in der Theorie vorgesehen war. Dies hat zur Folge, dass eine Gebietskörperschaft nie die ganze Verantwortung für ein Aufgabengebiet hat.

  • die Zahl und Größe der lokalen Gebietskörperschaften. Frankreich ist mit mehr als 36000 Gemeinden, 100 Departements und 26 Regionen zersplittert wie keines seiner Nachbarn. Unter diesen Bedingungen ist eine Überschneidung zwischen den drei Verwaltungsebenen schwer zu vermeiden.

  • die neuen Beziehungen des Zentralstaates zu den Gebietskörperschaften. Eine klare Dezentralisierung sei nach wie vor nicht komplett gelungen. Des häufigeren stellt sich eine „schleichende Lastenverschiebung" ein, indem der Unterhalt des Straßennetzes, Bau von Universitäten und TGV-Strecken von den Gebietskörperschaften mitfinanziert werden muss. Damit entzieht sich der Staat seiner Verantwortung, ohne indessen Entscheidungsgewalt über diese Bereiche abzugeben. Dieser unbefriedigende Zustand der Finanzbeziehungen zwischen Staat und Gebietskörperschaften werde auch vom nationalen Rechnungshof kritisiert.

Die Dezentralisierung hat nach Meinung von Voisin eine Stufe erreicht, in der es neuer Impulse bedarf, die er in einem Vergleich und Austausch mit den deutschen Bundesländern sieht. Wichtig seinen dabei nicht nur der Austausch auf der wirtschaftlichen und politischen Ebene, sondern vor allem in den Städtepartnerschaften sieht er das Potential einer fruchtbaren Beziehung. Eine Weiterentwicklung der territorialen und institutionellen Strukturen Frankreichs wird von ihm, besonders mit Blick auf den EG-Binnenmarkt und die gesamteuropäische Raumentwicklung, als außerordentlich notwendig angesehen.

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Frankreich und seine Regionen: Thüringens Partnerregion Picardie um die Stadt Lille liegt nördlich der Hauptstadt Paris. Als Vertreter der Picardie wirkt Dr. Jean-Claude Voisin in Erfurt.

Die anderen Veranstaltungen der Reihe "40 Jahre Richtung Zukunft. Die deutsch-französische Gemeinschaft feiert Geburtstag":

Vortrag von Dr. Martin Borowsky zur deutsch-französischen Geschichte

Vortrag von Thomas Hoffmann zum französischen Bildungssystem

Podiumsdiskussion zum Studium in Frankreich

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