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Von den Ufern der Memel ins Ungewisse

Eine Jugend im Schatten des Holocaust

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Lesereise mit Zwi Katz (Holon/Israel)

„Die Deutschen, das sind doch nette, tüchtige Menschen. Das sind gute Soldaten. Ich kenne sie aus dem Ersten Weltkrieg. Sie werden uns sicher helfen gegen die Kommunisten. Wir bekommen unser Haus und unser Grundstück zurück und brauchen keine Angst mehr zu haben. Ordnung wird sein.“ So dachten viele osteuropäische Juden, als die Wehrmacht im Sommer 1941 in der Sowjetunion einmarschierte. Für die Juden sowie für die Angehörigen jener Völker der kommunistischen Großmacht, die von Stalin unterdrückt worden waren, verband sich mit der Ausweitung des Krieges auf die Sowjetunion die Hoffnung auf Freiheit, schließlich hatte Hitler den Krieg zum Feldzug gegen den Bolschewismus deklariert. Dass es zugleich ein Feldzug gegen alle Juden war, wussten in Osteuropa nur sehr wenige Menschen. Kaum jemanden war bekannt, dass die Nationalsozialisten unverblümt mit antisemitischer Propaganda auftraten und dass sie diese nach ihrer Machtergreifung im Januar 1933 auch in die Tat umsetzten: Was mit dem Boykott jüdischer Geschäfte begann, mit der Entrechtung aller Juden („Nürnberger Gesetze“) weiterging und in der sogenannten „Reichskristallnacht“ vom 8./9. November 1938 einen ersten Höhepunkt fand, sorgte bei den jüdischen Menschen jenseits der polnischen Ostgrenze für wenig Aufsehen.

Auch die Familie von Zwi Katz dachte so, wie es aus den eingehenden Worten hervorgeht. Der 1927 geborene Zwi Katz stammt aus einer assimilierten jüdischen Familie und wuchs im litauischen Kaunas auf. Seit jeher zählte die deutsche Kultur zum wichtigsten Gut der Familie: Als erstrebenswert galten das Erlernen der deutschen Sprache, eine humanistische Bildung wie auf deutschen Gymnasien – letzt ein Studium auf einer deutschsprachigen Universität wie Heidelberg oder St. Gallen. Auch Zwi Katz wurde in diesem Sinne von einem deutschen Kindermädchen erzogen. Seine glückliche Kindheit verbrachte er an den Ufern der Memel, doch mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen im Herbst 1939 trübte sich diese Idylle erstmals. Nach dem Zweiten Weltkrieg drang an die Öffentlichkeit, dass die beiden Diktatoren Hitler und Stalin 1939 weite Teile Osteuropas in einem geheimen Zusatzprotokoll zu ihrem Nichtangriffspakt unter einander aufteilten: Das Baltikum mit den drei bislang unabhängigen Staaten Litauen, Lettland sowie Estland geriet so in die Einflusssphäre des Moskauer Despoten, der sogleich seine Truppen in die Region schickte.

„Unternehmen Barbarossa“ galt im Juni 1941 als Codewort für den Bruch jenes Abkommens zwischen Deutschen und der Sowjetunion: Hitler ließ die Wehrmacht zum Eroberungsfeldzug gen Osten marschieren und Stalins Reich besetzen. Im Baltikum wuchs unterdessen die Hoffnung auf eine Befreiung vom Joch der Kommunisten; nationale Kräfte errangen wieder die Souveränität, wenn auch unter Besatzung durch die Deutschen. Zugleich setzten sich die Zahnräder der Vernichtungsmaschinerie gegen die Juden in Bewegung, wobei von jenen nur wenige die Gefahr ahnten. Auch die Familie von Zwi Katz war hin- und hergerissen. Manche Familienmitglieder konnten sich noch rechtzeitig in Sicherheit bringen, doch der Dreizehnjährige blieb mit seinen Eltern und der Schwester im Land. Welches Schicksal dem jungen Mensch fortan widerfuhr, schrieb Zwi Katz in seinem Buch „Von den Ufern der Memel ins Ungewisse“ nieder, mit dem der heute in Israel lebende Autor im Mai 2003 auf Einladung des Bildungswerks Erfurt der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. in Thüringen gastierte. In der Stadt- und Kreisbibliothek Meiningen, im Gymnasium Georgianum Hildburghausen, im Rahmen des Saalfelder Gesprächs, im Gymnasium „Am Weißen Turm“ Pößneck sowie im 1. Staatlichen Gymnasium Sonneberg sprach Zwi Katz über seinen Überlebenskampf im Dritten Reich, las aus seinem Buch und diskutierte mit den Teilnehmern. Zu Gast war ebenso seine Frau Ester, die als einzige ihrer Familie den Holocaust überlebte und sich ebenfalls an den Gesprächen beteiligte.

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Zwi Katz las in fünf Thüringer Städten aus seinem Buch und berichtete über seinen Überlebenskampf im Dritten Reich.

Im Sommer 1941 rollte die nationalsozialistische Welle des Todes über Litauen. Alle Juden wurden aus ihren Häusern geholt, teilweise ermordet, teilweise in Ghettos interniert. Katz berichtete am Beispiel eines Dokuments, dass dabei nur die Befehlshaber der Täter Deutsche waren, die eigentlichen Mörder dagegen Litauer. Die SS fand in den einheimischen Nationalisten willige Helfer, die sich nicht nur der Kommunisten entledigen wollten, sondern zugleich der Juden. Der Referent beschrieb, welch blutige Spur die Nationalsozialisten und ihre litauischen Verbündeten durch die Städte und Dörfer zogen, nannte dabei korrekt dokumentierte Zahlen, wie für die Bürokratie der Vernichtung sprachen.

Und dennoch gab es inmitten der Massaker, denen Katz’ Vater früh zum Opfer fiel, auch Menschen, die ihre humane Gesinnung bewiesen, die Menschlichkeit zeigten. Einer solchen Person begegnete Zwi Katz an jenem Tag seines Lebens, der sich mit seinem größten Glück verband. Seine Schwester hatte bei der deutschen Besatzung von Kaunas einen Passierschein organisiert, damit die Familie in eine benachbarte Stadt reisen durfte, wo die Mutter als Zahnärztin tätig war. Schon an den Kontrollstellen unterwegs gab es mehrere gefährliche Situationen, aus denen sich die Reisenden nur mit Glück befreiten, doch in jenem Städtchen war es ein deutscher Soldat, der Zwi Katz und seiner Mutter rettete. Die meisten Juden dieses Ortes waren bereits ermordet, doch der Soldat half den beiden auf ein zufällig vorbei kommendes Schiff, dass sie in Sicherheit brachte. Katz erinnert sich an die Frage, die der Soldat dem Jungen stellte: „Wie alt bist Du?“ Erst da fiel ihm ein, dass sein Glückstag sein vierzehnter Geburtstag war. Und gern erinnert sich Katz an das Geschenk, dass er an jenem Tag von seinem Helfer erhielt: „Ich wünsche Dir, dass Du auch 15 wirst.“ Zwi Katz bekam an diesem 14. Geburtstag zum zweiten Mal sein Leben geschenkt; er wurde 15, auch 16 und feierte später noch viele Geburtstage, an denen er stets an seinen Retter in deutscher Uniform zurückdachte.

Trotz dieser Rettung fand die Freiheit für Zwi Katz und seine Familie ein jähes Ende. In bewegenden Worten schilderte der Zeitzeuge die Inhaftierung im Ghetto von Kaunas und die Grausamkeiten der dortigen Wachmannschaften, so z.B. die systematische Ausschaltung der jüdischen Intelligenz und die nächtlichen Gewehrsalven. Mit Räumung des Ghettos musste Katz in ein Arbeitslager, dass er später als Außenstelle des Konzentrationslagers Dachau identifizierte. Hier waren die jüdischen Häftlinge in die Produktion von Rüstungsgütern eingespannt, konkret in die unterirdische Herstellung von Düsenjägern. Der Referent beschrieb die körperliche Anstrengung, die Auszehrung durch Mangelernährung, den Überlebenskampf im Lager. Die Teilnehmer der Veranstaltungen erfuhren von den „Muselmännern“, wie der KZ-Jargon jene Häftlinge bezeichnete, die von Arbeit und fehlender Nahrung so arg gezeichnet waren, dass ihnen der Tod kurz bevor stand. Ebenso erzählte Katz von der Unterbringung in Erdhöhlen, dem Kampf mit Läusen und dem Frieren im Winter.

Ein Winter war es auch, in dem das Leid sich noch vergrößerte: Vor den heran nahenden alliierten Truppen ließ die SS im Frühjahr 1945 das Lager evakuieren; die Häftlinge wurden auf einen Todesmarsch geschickt, den nur sehr wenige überleben sollten. Als Nahrung diente ihnen lediglich ein Brot, als Kleidung die gestreifte Häftlingsuniform sowie Holzschuhe. Tausende Juden wurde so in den letzten Kriegstagen quer durch die noch nicht befreiten Gebiete Deutschlands getrieben - bei Minustemperaturen durch tiefen Schnee. Zwi Katz führte der Todesmarsch durch Oberbayern, wobei ihm zweimal kurzzeitig die Flucht gelang. Hilfe bekam er von vertriebenen Deutschen, die als Flüchtlingstreck ebenfalls durch Bayern zogen. Dennoch wurde er zweimal von den nationalsozialistischen Schergen wiedergefunden. Erst als eines Morgens die SS-Wachleute verschwunden waren, wuchs bei den wenigen überlebenden Häftlingen die Hoffnung auf Rettung. Als Zwi Katz schließlich einen US-amerikanischen Panzer sah, war die Erlösung gewiss.

Viele Jahrzehnte schwieg Zwi Katz über sein Schicksal im Dritten Reich. Als „Displaced Person“ in der Nachkriegszeit führte ihn eine monatelange Odyssee nach Israel, wo er im neu gegründeten Staat eine neue Heimat fand. Er traf die Überlebenden seiner Familie wieder, gründete zudem mit Ester eine eigene Familie und arbeitete als Agronom. Erst in den neunziger Jahren begann er sich an die Tragödie seines Lebens zu erinnern, so dass er die Überlebensgeschichte eines litauischen Juden der Nachwelt niederschrieb und mit seinem Buch nach Thüringen reiste.

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Das Buch: Zwi Katz: „Von den Ufern der Memel ins Ungewisse. Eine Jugend im Schatten des Holocaust, Zürich 2002 (Pendo-Verlag), 128 S., 14,90 Euro.

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