Länderberichte
Verfassungsklage stoppt Wahlen
Das Durcheinander in der tschechischen Politik ist perfekt: Nachdem das Jahr mit dem Sturz der Regierung während der eigenen EU-Ratspräsidentschaft für Tschechien schon turbulent begonnen hatte, scheiterten nun die für Anfang Oktober angesetzten Neuwahlen an einer Verfassungsklage und der Uneinigkeit der Parteien. Der für die Sozialdemokraten (ČSSD) ins Parlament eingezogene, inzwischen aber als unabhängiger Mandatsträger auftretende Abgeordnete Miloš Melčak klagte vor dem Gericht in Brno, dass eine Ansetzung von Neuwahlen lediglich für „außerordentliche Notsituationen, z.B. den Kriegsfall“ verfassungskonform wäre. Dies sei beim Sturz der Regierung Topolanek nicht gegeben. Alle Abgeordneten hätten also das Recht, ihr Mandat über den vollen Zeitraum zu behalten. Das Verfassungsgericht gab der Klage statt, wodurch der Oktober-Wahltermin hinfällig wurde. Schnell einigten sich die Parteivorsitzenden der im Parlament vertretenen Fraktionen – auch auf Initiative des Staatspräsidenten Vaclav Klaus - auf die nächsten Schritte: Gemeinsam sollte im Parlament eine Verfassungsänderung vorgenommen werden. Die notwendige Verfassungsmehrheit war augenscheinlich durch die Einigkeit der Parteien (mit Ausnahme der Kommunisten) gegeben.
Überraschende Kehrtwende
Wie schon des Öfteren in der jüngeren Vergangenheit zeigte sich auch in dieser Frage die Gültigkeit getroffener Abmachungen als eine wackelige Angelegenheit. Für alle Seiten überraschend zog der sozialdemokratische Parteichef Jiři Paroubek in der entscheidenden, gestrigen Sitzung im Abgeordnetenhaus die Unterstützung seiner Fraktion zurück. Eine Auflösung des Abgeordnetenhauses war nun nicht mehr möglich. Das anschließende Durcheinander endete in massiven, gegenseitigen Anschuldigungen zwischen den Protagonisten der Parlamentsparteien. Quintessenz ist nun, dass weder der Termin im Oktober, noch ein nach einer Verfassungsänderung mögliche Termin im November für eine Neuansetzung der Wahlen in Frage kommt. Nun spricht alles dafür, dass die Wahlen spätestens am ursprünglich angesetzten, regulären Wahltermin Ende Mai 2010 abgehalten werden.
Topolanek legt erbost Mandat nieder
In einer ersten Reaktion zeigte sich der im Frühjahr gestürzte Premier und amtierende ODS-Parteichef Mirek Topolanek höchst verärgert über den „Wendehals Paroubek“. Der als impulsiv und emotional geltende Mähre legte demonstrativ sein Mandat nieder mit der Begründung, es gäbe „im Abgeordnetenhaus nur noch Kommunisten“. Seiner Ansicht nach habe die Kehrtwende der Sozialdemokraten zur Folge, dass Tschechien in Zeiten der globalen Wirtschaftskrise noch weiter in Unsicherheit und Handlungsunfähigkeit gedrängt werde. Es hätte gerade jetzt einer starken Hand bedurft. Durch die Verschiebung der Neuwahlen um knapp acht Monate ist das Übergangskabinett von Jan Fischer (parteilos) nun aber in der Pflicht, langfristige Weichen zu stellen und tief greifende Entscheidungen zu treffen. Anhand der aktuellen Entwicklungen im Abgeordnetenhaus und aufgrund des fehlenden Mandats ist das für die Interim-Minister eine schwierige Herausforderung. Mirek Topolanek verkündete zudem, dass er sich „zwei bis drei Wochen lang“ überlegen werde, ob er überhaupt noch in der nationalen Politik weitermachen werde. Beobachter munkeln, dass er durchaus Ambitionen auf den Posten des tschechischen EU-Kommissars hegen würde. Der Zeitpunkt, an dem sich Tschechien festlegen muss, rückt immer näher. Dass er sich nach Alternativen umsieht, ist vielleicht auch aus der Not geboren, denn mit der möglicherweise im Affekt geborenen Niederlegung des Mandates hat Topolanek sich eines wichtigen Kommunikations- und Präsentationskanal für den wohl im Frühjahr anlaufenden Wahlkampfes beraubt.
Auch für die Parteien ist die erneute Verschiebung der Wahlen ein Desaster: In der heißen Wahlkampfphase werden nun die Zelte abgebaut, die Werbematerialien verstaut und die freiwilligen Helfer desillusioniert nach Hause geschickt. Dass damit auch immense Summen an Geldern umsonst verpulvert wurden, einige der Parteien ihre ohnehin klammen Kassen kaum mehr kompensieren können und evtl. der ein oder andere Geldgeber für die zukünftige Wahlkampagne verschreckt wurde, ist dabei ein weiterer Aspekt. Landesweit geben die in Unmengen ausgehängten Wahlplakate der Parteien nun eher ein trauriges Bild ab und müssen nun oft für zeichnerische Verzierungen der Jugend herhalten.
Öffentlichkeit zeigt sich gleichgültig
Wer in so einer Situation nun eine heftige Reaktion der Wählerschaft erwartete, blieb enttäuscht. Die tschechische Öffentlichkeit zeigt sich vom politischen Durcheinander zunehmend paralisiert. Immer mehr scheint sich die Denke einzuschleichen, das alles wäre ja nichts neues, und letztendlich würde nichts mehr überraschen. In der Tat sind die Wirren in der tschechischen Politik nun seit einigen Jahren bereits bedenklich. In den Medien werden die Vorgänge zynisch als „Ein Kessel Buntes“, „Chaos“ und „Bankrott“ kommentiert. Hier zielt die Kritik oft in die Richtung, dass politische Korruptionsfälle und Skandale in beträchtlichem Ausmaße nur mit geringen oder sogar keinen Sanktionen geahndet werden, Vetternwirtschaft im öffentlichen Sektor als „normal“ abgesegnet wird und es den Politikern an Weitsicht, Pflichtgefühl und Verantwortungsbewusstsein mangelt. Angesichts der jüngsten Ereignisse könnte gerade letzterer Punkt einen weiteren Beleg gefunden haben. Die Folgen für die Glaubwürdigkeit der Politik bei den Bürgern sind besorgniserregend: Aktuellen Umfragen zufolge vertrauen nur 22 Prozent der Bürger der Politik – Tendenz fallend. Zunehmend tut sich eine problematische Wahrnehmungskluft auf: Der Politiker wirbt für Vertrauen, der Wähler aber würde genau dieses Merkmal einem Politiker als aller erstes absprechen. Dass zuletzt auch politische Institutionen wie das Verfassungsgericht in Brno hart von der Politik angegriffen wurden, fügt der Systemstabilität in Tschechien einen weiteren Schlag zu.
Verfassungsgericht hält Druck stand
In vielerlei Hinsicht ist die aktuelle Entwicklung tragisch. In einer jedoch gibt sie auch Grund zur Hoffnung: Gerade das Verfassungsgericht hat nicht dem starken Druck der Politik und Öffentlichkeit nachgegeben, sondern hat sich als Hüter der Verfassung gezeigt. Bereits zuvor hatte das Gericht die harte Kritik des Staatspräsidenten Vaclav Klaus einstecken müssen, als es die Klage gegen den Lissabonner-Vertrag einstimmig abwies. Auch dieses Mal kamen heftige Reaktionen von der Prager Burg, aber auch aus den Reihen der Parteien. Dabei bleibt festzuhalten, dass gerade die Politik im Umfeld des Mistrauensvotums es versäumt hat, sich mit den Regulierungen der tschechischen Verfassung vertraut zu machen. Dass hier kaum ein Akteur einen Blick auf die Verfassungsmäßigkeit der abgesprochenen Schritte (Auflösung des Abgeordnetenhauses, Neuwahlen) geworfen hat, sehen Beobachter als Fingerzeig für den Stand professioneller, verantwortungsbewusster Arbeit in der tschechischen Politik. Letzten Endes bringt es die Ironie der Situation mit sich, dass gerade Jiri Paroubek, der Mann, der im Frühjahr die Regierung stürzte, sich in einer ersten Reaktion aber weigerte, selbst eine Regierung zusammenzustellen, nun auch noch die zuvor unter seiner Zustimmung angesetzten Neuwahlen zu Fall brachte. Somit wird also Tschechien in einer Phase der größten Wirtschaftskrise seit der Wende über ein Jahr lang von einer technokratischen Übergangsregierung regiert – eine bedenkenswerte Entwicklung 20 Jahre nach dem Ende des Kommunismus.