Länderberichte
28 Jahre nach den ersten freien Wahlen in Ungarn wird wieder am 8. April der nationale Urnengang stattfinden. Der offizielle Wahlkampf beginnt immer 50 Tage vor dem vom Staatspräsidenten ausgerufenen Wahltermin. Mit der Fastenzeit wurde auch die heiße Phase des ungarischen Wahlkampfes eingeläutet. Mitte Februar startete wie jedes Jahr der politische Betrieb in Ungarn, die Parlamentsfraktionen hielten ihre Klausurtagungen ab und die Nationalversammlung tagte. Die ordentliche Sitzungsperiode umfasste aufgrund des anstehenden Wahlkampfes und der zu Ende gehenden Legislaturperiode jedoch nur zwei Tage, den 19. und 20. Februar. Die Abgeordneten reisten anschließend in ihre Wahlkreise, um auch die für die Nominierung als Wahlkreis-Direktkandidat notwendigen 500 Unterstützungsunterschriften einzuwerben. Alle Bewerber von Fidesz-KDNP konnten bereits am zweiten Tag die erforderlichen vollständigen Dokumente beim lokalen Wahlamt abgeben.
Am 18. Februar hielt Ministerpräsident Viktor Orbán seine 20. Rede zur „Lage der Nation“, mit der traditionell zum Jahresbeginn die politische Saison eingeläutet wird. „Ungarn zuerst“ war nicht nur das Motto dieser Rede, sondern ist auch die grundlegende Botschaft des Wahlkampfes der Regierungsparteien.
Die Ausgangslage
Seit der Wende im Jahre 1989 gab es in Ungarn bisher keine vorgezogenen Parlamentswahlen. Dies ist nicht nur für Mittelosteuropa eine Ausnahme, sondern auch ein Ausdruck der politischen Stabilität im Lande. Bestätigt im Amt wurden jedoch nur die Regierungen im Jahre 2006 (Sozialisten) und 2014 (Fidesz-KDNP). Die am 6. April 2014 gewählte Ungarische Nationalversammlung setzte sich aus 133 Abgeordneten von Fidesz-KDNP, 38 der Linksallianz (MSZP-DK-Együtt-PM-MLP) sowie 23 Vertretern von Jobbik und 5 von LMP zusammen. Die Regierungsparteien bekamen rund 45% der Listenstimmen und gewannen 96 von 106 Direktmandaten. Dieses Ergebnis reichte denkbar knapp für eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit (siehe KAS-Bericht vom 7. April 2014) und war die sichere Grundlage einer Wiederwahl von Viktor Orbán als ungarischer Ministerpräsident. Das Linksbündnis kam auf etwa 25% der Stimmen, Jobbik auf 20% und LMP auf rund 5%. Nur das linke Parteienspektrum konnte Direktkandidaten durchbringen (10 von 106). Bei zwei notwendigen Nachwahlen im Jahre 2015 verloren die Regierungsparteien aber die Zweidrittelmehrheit. Anders als in Deutschland rückt bei Ausscheiden eines direkt gewählten Abgeordneten kein Listenkandidat nach. Die beiden Nachwahlen im Komitat Veszprém markierten auch einen Tiefpunkt in der Wählergunst von Fidesz-KDNP, etwa die Hälfte der Fidesz-Wähler soll den Urnen ferngeblieben sein. Die Opposition hingegen war vor Ort sehr aktiv. Vor allem die Linke unterstützte erfolgreich einen unabhängigen Kandidaten im Wahlkreis Veszprém 1, Jobbik hingegen siegte im Wahlkreis Veszprém 3 (siehe KAS-Berichte vom 23. Februar 2015 sowie vom 13. April 2015). Seitdem beschäftigen die beiden Ergebnisse viele Wahlanalysten. Einige gehen davon aus, dass die Kritiker von Fidesz bei den Wahlen taktisch vorgehen und den jeweils chancenreicheren Kandidaten der Opposition unterstützen würden. Eine direkte Kooperation zwischen den Parteien sei somit eigentlich nicht mehr so notwendig. „Veszprém“ gilt bei Fidesz seither als ein Warnschuss.
Die Bürgermeisternachwahl in Hódmezővásárhely
Die Bürgermeisternachwahl in der südungarischen Komitatsstadt Hódmezővásárhely am 25. Februar wurde von politischen Analysten als ein Testlauf für die Parlamentswahlen bezeichnet. Die Stadt gilt als traditionelle Fidesz-Hochburg, sie ist mit Kaposvár die einzige Komitatsstadt, die seit der Wende nur von konservativen Politikern regiert wurde. Bei den Kommunalwahlen 2014 erreichten die Regierungsparteien hier ein Ergebnis von 61%, bei 8.160 Wählern, während die Opposition mit drei verschiedenen Kandidaten insgesamt 5.210 Stimmen einfuhr (39%). Ein ähnliches Ergebnis ließ sich bei der Wahl des Direktkandidaten für die Ungarische Nationalversammlung beobachten. Dieses Mal trat die Opposition nur mit einem einzigen Bewerber an: Péter Márki-Zay, ein siebenfacher Familienvater mit konservativen Werten und Vorsitzender des örtlichen römisch-katholischen Pfarrgemeinderates. Nach eigener Aussage habe ihn die Regierungsarbeit von Fidesz entfremdet. Er wurde von Jobbik, LMP, Momentum und den linken Parteien unterstützt, was dieser Lokalwahl sechs Wochen vor dem nationalen Urnengang eine landesweite Bedeutung zukommen ließ.
Das Ergebnis war eine große Überraschung. Péter Márki-Zay gewann mit 57,49% der Stimmen, der Fidesz-Kandidat errang 41,63%. Bei einer für eine Kommunalnachwahl sehr hohen Wahlbeteiligung von 62,45% konnte Fidesz mit ihren 9.468 Wählern die gewohnte Stammwählerschaft ansprechen, wohingegen der Oppositionskandidat mit 13.076 Stimmen sehr erfolgreich mobilisierte. Dass Péter Márki-Zay keinen ernstzunehmenden oppositionellen Mit-bewerber hatte, war sicherlich eine notwendige, nicht aber hinreichende Voraussetzung. In Hódmezővásárhely stellte der bürgerliche und von Jobbik maßgeblich unterstützte Kandidat wohl eine überzeugende Alternative zum Fidesz-Vertreter dar und brachte so einen Großteil der bisher inaktiven Wähler an die Urnen. In seiner Siegesrede in der Wahlnacht fasste er sein Credo zusammen: „Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, Europa“. Ein gemeinsamer Kandidat der Opposition kann aber außerhalb Budapests und einiger weniger linker Hochburgen nach Einschätzung politischer Beobachter nur dann unentschiedene und neue Wähler erreichen, wenn er nicht als ein Kandidat der Linken wahrgenommen wird. Die Wahl hat gezeigt, dass die Strategie, mit einem einzigen Kandidaten Fidesz herauszufordern, erfolgreich sein kann.
Für die Regierungsparteien ist diese Niederlage eine unerwartete Warnung, während die Opposition jetzt Morgenluft wittert. Ministerpräsident Viktor Orbán erklärte dazu, dass Fidesz nunmehr mit dreifacher Kraft am Wahlsieg arbeiten müsse. Der Wähler müsse entscheiden, ob Ungarn ein Einwanderungsland werde oder nicht. Nur eine Fidesz-Regierung könne dies verhindern, so die Kernaussage des Wahlkampfs von Fidesz. Es gibt aber erste Anzeichen, dass knapp einen Monat vor der Wahl nunmehr stärker die Erfolge der Regierungsarbeit in den Mittelpunkt gerückt werden sollen. Die Negativwahlkampagne der Regierungsparteien sowie die persönlichen Angriffe gegen Márki-Zay in Hódmezővásárhely scheinen eine gegenteilige Mobilisierungswelle ausgelöst und auch bürgerliche Wähler abgeschreckt zu haben. Die Opposition will nun verstärkt die Möglichkeiten einer Absprache in den einzelnen Wahlkreisen prüfen. LMP initiierte bereits Gespräche mit Jobbik und MSZP. Mit Skepsis betrachtet Jobbik immer noch den Vorschlag, durch Rücktritte von Wahlkreiskandidaten sich gegenseitig zu unterstützen. Die Partei erklärte, dass dies gar nicht notwendig sei, da die Wähler genau wüssten, welcher Kandidat in ihrem Wahlkreis die besten Aussichten hätte. MSZP hingegen wolle sich zunächst mit LMP einig werden, bevor man mit Jobbik rede, so deren MP-Kandidat Karácsony. Viel Zeit bleibt den Parteien nicht: Am 5. März endet die Frist der Kandidatenaufstellung. Neue, unabhängige Bewerber können zeitlich fast nicht mehr gefunden und präsentiert werden. Wie politische Beobachter bemerkten, gibt es nur in einem kleinen Teil der 106 Wahlkreise einen unabhängigen oder für alle beteiligten Oppositionsparteien akzeptablen Kandidaten vom Format eines Márki-Zay. Diese Strategie sei verspätet und nicht mehr durchführbar. In der überwältigenden Mehrheit der Fälle ist die schwierige Entscheidung zu treffen, welcher der Parteibewerber sich jeweils als integrativste Kraft erweisen könnte, wie sich Absprachen auf die Glaubwürdigkeit und die Kohärenz der Parteien auswirken und ob Wählerbewegungen zwischen den einzelnen Parteibewerbern überhaupt möglich sind – eine Rechnung mit vielen Unbekannten.
Exkurs: Ungarisches Wahlrecht
Das in den Jahren 2010, 2011 und 2012 reformierte Wahlrecht wird nun zum zweiten Mal angewendet (siehe KAS-Berichte vom 3. Dezember 2012 mit allen Neuerungen sowie vom 10. Januar 2013 mit den Änderungen, die durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts erfolgt sind). Die Veränderungen erweiterten u.a. auch Elemente des Mehrheitswahlrechts. Im In- und Ausland wurde kritisiert, dass nur durch die Modifikation des Wahlrechts die Regierungsparteien ihre Zweidrittelmehrheit knapp verteidigen konnten.
Die 199 Abgeordneten der Ungarischen Nationalversammlung werden für vier Jahre gewählt. Ungarn hat ein Zweistimmenwahlrecht. 106 Abgeordnete werden in den Einzelwahlkreisen mit einer relativen Mehrheit gewählt (Mehrheitswahlrecht) und 93 Listenabgeordnete durch eine Verhältniswahl bestimmt, es gilt die 5%-Hürde. Es gibt keine Überhang- oder Ausgleichsmandate. Die Stimmen der Wahlkreisverlierer werden jedoch zur Landesliste ihrer jeweiligen Partei addiert (Verliererkompensation). Gleiches gilt für die zur Erreichung des Mandats nicht mehr benötigten Stimmen der Wahlkreisgewinner (Gewinnerkompensation). Voraussetzung für die Gültigkeit einer Parteilandesliste ist, dass die Partei in mindestens 27 Wahlkreisen in neun Komitaten und in Budapest Direktkandidaten aufstellt. Eine genaue Übersicht über das ungarische Wahlrecht in deutscher Sprache befindet sich auf der Website des Nationalwahlamts. Die detaillierten Ergebnisse und aktuellen Zahlen sind leider nur auf Ungarisch abrufbar.
In der Anlage dieses Berichts ist eine kurze Übersichtsgrafik über das ungarische Wahlsystem beigefügt.
Zahlen und Fakten
Grundlage vieler Prognosen sind nicht nur die Ergebnisse der Meinungsumfragen, sondern auch die nationalen Statistiken. Von den etwa 8 Millionen Wahlberechtigten nehmen erfahrungsgemäß 5 Millionen an den Wahlen teil. Es wird angenommen, dass Fidesz-KDNP rund 2,3 Millionen Stammwähler hat. Dies entspricht ziemlich exakt den Wahlergebnissen von 2002, 2006 und 2014. Lediglich das Jahr 2010 bildete mit 2,7 Millionen Wählern eine Ausnahme. Im Jahre 2017 nahmen auch 2,3 Millionen an der Konsultation über den sog. „Soros-Plan“ teil. Die Unterstützung aller Oppositionsparteien wird auf rund 2,8 Millionen Wähler geschätzt. Die Analysten gehen davon aus, dass Fidesz die Wahl gewinnen würde, wenn es der Partei gelinge, ihre Wähler an die Urnen zu bringen. Eine höhere Wahlbeteiligung als 62-65% würde traditionell eher den oppositionellen Parteien zu Gute kommen, da Fidesz keine Wählerreserven mehr habe. Die eher regierungskritischen Unentschiedenen und die Nichtwähler seien für Fidesz kaum zu gewinnen. Würden die Oppositionsparteien jedoch alle an einem Strang ziehen, könnte ein „Veszprém / Hódmezővásárhely“-Szenario für die Regierungsparteien eine Herausforderung bedeuten. Bei den Parlamentswahlen bekam 2014 Fidesz-KDNP nur in 20 Wahlkreisen mehr als 50% der Stimmen, in 61 Wahlkreisen erreichte der Fidesz-Direktbewerber zwischen 40% und 50%, in 25 Wahlkreisen lag das Ergebnis unter 40%.
Trotz der jüngsten Wahlergebnisse in Hódmezővásárhely ist es sehr unwahrscheinlich, dass eine heterogene und bisweilen zerstrittene Opposition in den Direktwahlkreisen in großer Anzahl ihre Kandidaten durchbringt, auch wenn im Gegensatz zur Wahl vor vier Jahren die Erkenntnis in Oppositionskreisen gewachsen ist, dass nur eine enge Abstimmung zu Gunsten des chancenreichsten Kandidaten einen Regierungswechsel überhaupt ermöglichen würde. Interessant ist in diesem Kontext die Strategie der Unterstützung von „unabhängigen“ Kandidaten wie etwa in Pécs oder bei der Bürgermeisternachwahl in Hódmezővásárhely. Die Oppositionsparteien verzichten nach diesem Vorgehen auf eigene Kandidaten und unterstützen einen „Unabhängigen“. Diese mögliche Strategie ist aber mit Nachteilen verbunden: Die Parteien müssten auf die „Verliererkompensation“ verzichten. Zusammen mit den Kompensationsstimmen (s.o.) gehen etwa 8,2 Millionen Stimmen in die Mandatsverteilung ein, 2014 reichten etwa 88.000 Stimmen für ein Mandat („Preis eines Mandats“). Daher gibt es immer wieder gerade im linken Lager Vertreter, die auf den möglichen Verlust dieser Verliererstimmen (Verliererstimmen für einen Unabhängigen werden nicht zu den Zweitstimmen einer Partei addiert) und somit einiger Listenmandate hinweisen und deswegen eigene Parteikandidaten präferieren.
Darüber hinaus ist die Anzahl der wahlberechtigten Auslandsungarn für das Endergebnis nicht unerheblich. In dieser Gruppe werden die Angehörigen der autochthonen ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern und die weltweite ungarische Diaspora zusammengefasst, die keinen ungarischen Wohnsitz haben. Da sie keinem Wahlkreis im Mutterland zugeordnet werden können, haben die Auslandsungarn auch keine Erststimme für den Direktkandidaten, sondern nur die Zweitstimme. Im Jahre 2014 votierten 122.638 für die Liste von Fidesz-KDNP, was in dieser Wählergruppe ein Ergebnis von 95% bedeutete. Bis zum 4. März wurden 355.261 Wähler in dieses Wählerverzeichnis aufgenommen, Tendenz steigend. Das erklärte Ziel der Regierungsparteien ist es, etwa eine halbe Million dieser Wählergruppe zu erreichen. Es wird davon ausgegangen, dass diese Personen überwiegend Fidesz-Anhänger sind. Während 2014 diese Wählergruppe 1-2 Mandate für Fidesz gebracht hat, kann diese Zahl bei den Wahlen 2018 sogar 4-5 betragen. Die Auslandsungarn können sich bis zum 24. März registrieren. Die Stimmabgabe erfolgt per Brief, der dann bis zum 7. April eingehen muss.
Anders als die Auslandsungarn haben die 13 staatlich anerkannten autochthonen Nationalitäten des Landes die Möglichkeit, sich als Angehörige ihrer Nationalität registrieren zu lassen. Dies geschieht in zwei Schritten. Zunächst kann diese Wählergruppe sich für die Wahlen der Minderheitenselbstverwaltungen anmelden, die zeitgleich mit den Kommunalwahlen stattfinden. In einem weiteren Schritt können sie diese Anmeldung auch auf die Wahlen zur Ungarischen Nationalversammlung „ausweiten“. Nur mit der zweiten Entscheidung eröffnet sich für den Nationalitätenwähler die Möglichkeit, bei den Parlamentswahlen dem Wahlvorschlag seiner Nationalitätenselbstverwaltung die Stimme zu geben. Dies ist dann die Zweitstimme, d.h. es entfällt die Möglichkeit, für Parteilisten zu stimmen. Die Erststimme für den Wahlkreisbewerber bleibt erhalten. Für die Nationalitätenabgeordneten gilt eine „ermäßigte Quote“ von einem Viertel der zur Mandatserreichung benötigten Stimmen (s.o.), erfahrungsgemäß rund 22.000 gültige Stimmen (2014: 22 .022 Stimmen). Die Ungarndeutschen verfehlten 2014 die Wahl eines eigenen Abgeordneten mit 11.415 Stimmen deutlich, per 4. März verfügen sie über 27.225 registrierte Wähler. Die Registrierung endet am 23. März. Es wird damit gerechnet, dass nur die Ungarndeutschen und eventuell auch die Roma erfolgreich sein werden. Anders als die Auslandsungarn fallen diese beiden Gruppen stimmenmäßig kaum ins Gewicht und würden sicherlich weniger Mandate „wegnehmen“ (die Mandate werden von den 93 Listenmandaten abgezogen) als die Auslandsungarn zusätzlich bringen. Der Kandidat der Ungarndeutschen, Emmerich Ritter, war früher bei Fidesz aktiv.
Eine weitere Wählergruppe, die in der politischen Auseinandersetzung eine wichtige Rolle spielt, sind die im Ausland lebenden oder arbeitenden Ungarn. Nach inoffiziellen Angaben umfasst dieser Kreis mehrere hunderttausend Personen. Von diesen nahmen 2014 aber nur 28.452 an den Wahlen teil. Es wird davon ausgegangen, dass viele damals zum Wahlwochenende nach Ungarn gefahren sind. Da diese Personengruppe über einen Wohnsitz in Ungarn verfügt, gelten sie nicht als Auslandsungarn. Nur mit Aufgabe des Wohnsitzes (und Abgabe der in Ungarn gebräuchlichen „Wohnsitzkarte“) wären sie Auslandsungarn und müssten sich entsprechend registrieren. Sie hätten dann aber keine Erststimme mehr (s.o.). Aus praktischen Gründen geben aber viele (unzulässigerweise) ihren Wohnsitz in Ungarn nicht auf. Sie werden also so behandelt wie ein vorübergehend sich am Wahltag nicht im Land aufhaltender Ungar (z.B. wie ein Student, Urlauber oder Geschäftsreisender). Der Wahlzettel kann dann am ungarischen Konsulat im Gastland ausgefüllt werden, für die Stimmabgabe muss man sich bis zum 31. März 2018 anmelden. Ein vergleichbares Verfahren gilt für Personen, die sich am Wahltag innerhalb Ungarns in einem anderen Wahlkreis befinden. Diese müssen sich bis zum 6. April ummelden. In beiden Fällen werden die Wahlunterlagen zur Sicherstellung des Wahlgeheimnisses nicht am Stimmabgabeort ausgezählt, sondern im Heimatwahlkreis. Aus diesem Grund wird in allen 106 ungarischen Wahlkreisen jeweils ein Wahllokal ausgewählt, in dem später die Stimmen der An- und Umgemeldeten eingehen und mit den Stimmen dieses Wahllokals vermischt werden. So lassen sich keine Tendenzen in der Parteipräferenz ablesen.
Die Opposition wirft der Regierung vor, die Stimmabgabe dieser Wähler bewusst zu erschweren (keine Briefwahl wie für Auslandsungarn, mühsame Anreise zum Konsulat mit meist langen Warteschlangen). Sie geht davon aus, dass die von der Orbán-Regierung Enttäuschten und ins Ausland Gegangenen einen Großteil dieses Wählerreservoirs ausmachen. Als ein – sehr schwaches – Indiz dafür wird das Wahlergebnis der Europawahlen 2014 aufgeführt. Da es sich dabei um eine reine Listenwahl handelte, mussten die Ergebnisse nicht anonymisiert werden (s.o.). Die 6.253 an den Außenvertretungen abgegebenen Stimmen spiegelten ziemlich genau die landesweite Unterstützung von Fidesz-KDNP mit 45% der Stimmen wider, hingegen bekamen LMP 15% und Együtt-PM 17% deutlich mehr Stimmen. Jobbik und MSZP waren schwächer (siehe dazu die Website des Nationalwahlamts). Diese Wähler dürften aber auf Grund der bisherigen geringen Beteiligung weiterhin ohne große Bedeutung bleiben. Die Opposition versucht aber dennoch das Engagement dieser Gruppe zu stärken. Die aus der Anti-Olympia-Bewegung hervorgegangene neue Partei Momentum schlug vor, Mitfahrgelegenheiten zu organisieren und Busse zu chartern.
Die politischen Auseinandersetzungen vor der Wahl
In der europäischen Flüchtlings- und Migrationskrise ging Ungarn seinen – insbesondere in den internationalen Medien heftig attackierten – umstrittenen eigenen Weg. Die ungarische Regierung konzentrierte sich dabei vor allem auf den Schutz der EU- und Schengenaußengrenze. Ungarn weigerte sich weiterhin, die 1.294 Flüchtlinge gemäß der EU-Quote aufzunehmen. Gemeinsam mit der Slowakei klagte die ungarische Regierung erfolglos vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg gegen das Zustandekommen des entsprechenden Ratsbeschlusses der Innenminister aus dem Jahre 2015. Die Europäische Kommission wiederum verklagte Ungarn, Polen und Tschechien, weil sie die Flüchtlinge nicht aufnahmen. Das Verfahren ist anhängig, genauso wie andere Klagen vor dem EuGH hinsichtlich der umstrittenen Gesetze aus dem Frühjahr 2017 (siehe KAS-Bericht vom 27. Juni 2017) dies betrifft die Änderung des ungarischen Hochschulgesetzes („Lex CEU“) und die Zivilorganisationen („Zivilgesetz“). Bei Letzterem wandten sich einige Organisationen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Sie unterstellen, dass die lange Klageanhängigkeit vor dem ungarischen Verfassungsgericht eine bewusste Obstruktion sei.
Auch gegen das zur Jahresmitte 2017 verabschiedete „Plakatgesetz“ wurde vor dem Verfassungsgericht geklagt. Das Gesetz legt fest, dass u.a. Parteien auf Plakatträgern nur zum Listenpreis werben dürfen. Dies war eine Reaktion auf die großzügig gewährten Preisnachlässe für Jobbik durch den bei Fidesz in Ungnade gefallenen ungarischen Geschäftsmann und Medienmogul Lajos Simicska. Das Gesetz wurde sofort in die Tat umgesetzt: Aufgrund einer Durchsuchung bei Jobbik und den festgestellten Abweichungen zum Listenpreis verhängte der staatliche Rechnungshof eine Geldstrafe von umgerechnet knapp 2 Millionen Euro.
Auch gegen andere vom Rechnungshof geprüfte oppositionelle Parteien wurden (erheblich kleinere) Geldstrafen ausgesprochen. Nach der seit 2014 geltenden Gesetzeslage dürfen im Geschäftsleben keine Vergünstigungen für Parteien gewährt werden, da diese als unzulässige Parteifinanzierungen angesehen werden. Im Falle der linken Oppositionsparteien wurden beispielsweise von der Behörde Büromietzahlungen als unter dem Marktwert bezeichnet. In einigen Fällen sind diese Zahlungen in derselben Höhe vor einigen Jahren vom Rechnungshof nicht beanstandet worden. Zwar entwickelten sich die Immobilienpreise in der Tat in den vergangenen Jahren steil nach oben, aber Rechtsexperten wiesen darauf hin, dass etwa ein mehrjähriger Vertrag nicht zwangsweise geändert werden könne, nur um dem Gesetz nachzukommen. Nach Protesten von Jobbik und der übrigen Opposition gegen diese Strafen wurden die Zahlungsfristen auf die Zeit nach der Parlamentswahl verschoben und eine Ratenzahlung angeboten. Jobbik klagte dagegen. Die Vorgehensweise der Behörde brachte nicht nur ein bisher unbekanntes gemeinsames Auftreten von Jobbik und des linken Parteispektrums zustande, sondern auch eine intensive Diskussion über Rechtssicherheit und mögliche Behördenwillkür.
„Stop Soros“
Am 20. Februar 2018 wurde erstmals die „Stop Soros“-Gesetzesinitiative der ungarischen Regierung in der Nationalversammlung behandelt. Ein Beschluss wurde aber auf die Zeit nach den Parlamentswahlen verschoben, zur Verabschiedung eines möglichen Gesetzes wird wohl zumindest in Teilen eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit notwendig sein. Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass sich Organisationen um eine Genehmigung durch den Innenminister bemühen müssen, wenn sie beabsichtigen, Schutzsuchenden aus Drittländern, die aus sicheren Drittländern nach Ungarn kommen wollen, in ihren Einreisebemühungen zu unterstützen. Ohne eine solche Genehmigung muss mit staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gerechnet werden, die im äußersten Fall zur Auflösung der Organisation und einer Geldbuße von umgerechnet etwa 6.000 Euro führen könnten. Sofern diese Organisationen nicht nachweisen können, dass die aus dem Ausland stammenden Finanzmittel nicht der Förderung der Migration dienen, sollen diese mit einer Sondersteuer von 25% belegt werden. Diese Einnahmen sollen dann für den Grenzschutz verwendet werden. Ferner könnte Personen gegenüber ein Platzverweis in einer Zone von acht Kilometern bis zur EU-Außengrenze ausgesprochen werden, deren Aufenthalt in dieser Zone oder in ganz Ungarn den Sicherheitsinteressen Ungarns entgegensteht. Im Falle von Angehörigen von Drittländern könnte dieser Platzverweis in Form eines generellen Einreiseverbots umgesetzt werden. Ausgenommen wären Parlamentsmitglieder, Ratsmitglieder der unmittelbar angrenzenden Ortschaften, Mitglieder des diplomatischen Korps sowie Rechtsvertreter von Asylsuchenden.
Die Gesetzesinitiative wurde von einer groß angelegten Plakat- und Anzeigenkampagne der Regierung mit gleichlautendem Titel begleitet. Mit dem Namen von Soros und einem Stop-Schild wurde „Stop Soros“ intensiv beworben. Mittlerweile gehen laut jüngsten Umfragen etwa zwei Drittel der Ungarn davon aus, dass Soros bei den Wahlen tatsächlich antritt. Kritiker werfen den Regierungsparteien vor, eine Politik zu betreiben, die bewusst Feindbilder kreiere, einfache Botschaften sende und rhetorisch hochrüste. In den letzten Jahren wären die bis 2010 regierenden Sozialisten, im späteren die Liberalen, die gängigen Feindbilder der Regierung gewesen. Danach sei der Internationale Währungsfonds und Brüssel dazugekommen. Mit der Migrationskrise wären die Flüchtlinge als Bedrohung aufgebaut worden und seit etwa einem Jahr der ungarischstämmige US-Milliardär George Soros.
Die ungarische Regierung hingegen klagt Brüssel und Soros an, dass sie die Migration bewusst förderten, um die christlichen Fundamente Europas zu unterminieren und „zwangsweise gemischte“ Gesellschaften zu erreichen. Die ihnen im Wege stehenden nationalen Regierungen würden daher mit allen Mitteln bekämpft. Immer wieder wird in der Regierungskommunikation betont, dass externe Mächte die Souveränität des Landes gefährden würden. Die Ungarn müssten deshalb zusammenstehen und ihr Land verteidigen.
Politische Beobachter bezeichnen den Kampf gegen Bedrohungen und Feindbilder vor allem als ein zentrales Element der Regierungskommunikation zur permanenten Mobilisierung der Parteimitglieder und Sympathisanten. In diesem Sinne müssten auch die Aktionen und Kampagnen der Regierung, wie Nationale Konsultation, Unterschriftensammlungen oder auch das Referendum von 2016, gesehen werden. Fidesz wolle so, auch angesichts einer eher kraftlosen Opposition, einer möglichen Demobilisierung der eigenen Anhänger und Funktionsträger entgegenwirken. Diese für den externen Beobachter eher irritierende Strategie dürfe daher politisch nicht überbewertet werden, so einige Kenner des Landes. Diesbezügliche Kritik oder Belehrungen aus dem Ausland seien Wasser auf die Mühlen der Regierungskommunikation und würden die These der externen Einmischung zur Untergrabung der nationalen Souveränität nur festigen.
„Skandal“ um die in Ungarn anerkannten Flüchtlinge
Seit mehr als drei Jahren kommuniziert die Regierung, dass einerseits Ungarn keine Flüchtlinge aufnehmen wolle, aber andererseits auch, dass das Land internationales Recht achte. Mit Nachdruck weigert sich die ungarische Regierung bisher, die dem Land per EU-Quotenbeschluss zugewiesenen 1.294 Flüchtlinge aufzunehmen (s.o.). An der Grenze zu Serbien werden jedoch in einer geringen Anzahl Asylanträge von Schutzsuchenden angenommen und geprüft. Asylbewerber müssen an der Grenze in der sog. Transitzone auf ihren Bescheid warten. Im Jahre 2017 wurden rund 1.300 Schutzsuchende aufgenommen, davon eine zweistellige Zahl an Konventionsflüchtlingen, der Großteil hingegen waren subsidiär Schutzberechtigte. Dieses Verfahren ist bekannt und die entsprechenden Statistiken waren und sind auf der Website des ungarischen Immigrationsamtes abrufbar. Trotzdem hat ein Interview im Januar 2018 in der „Times of Malta“ des Außenunterstaatssekretärs Kristóf Altusz, in dem er diese Zahlen nannte, für politischen Wirbel gesorgt. Ministerpräsident Viktor Orbán sprach von Menschen, die „anständig angeklopft“ hätten und betonte, dass Ungarn über die Aufnahme dieser Menschen selbständig entschieden hätte. Die linke wie rechte Opposition attackierte die Regierung ungewohnt scharf. Sie kritisierten vor allem, dass entgegen der Regierungskommunikation, wonach keine Flüchtlinge ins Land kämen, einige dennoch „durch die Hintertür“ aufgenommen würden. Jobbik beantragte mit Unterstützung von MSZP und LMP eine Parlamentssondersitzung, die in Abwesenheit von Regierung und Regierungsfraktionen stattfand und somit mangels Beschlussfähigkeit auch umgehend beendet wurde.
Dieser Sturm im Wasserglas zeigt wieder einmal mehr die Schlüsselrolle des Themas Migration im Wahlkampf. Dass sich die linken Parteien mit ihrer Entrüstung über die im legalen Verfahren aufgenommenen Asylanten diesem Umstand nicht entziehen konnten, steht exemplarisch dafür.
In diesem Kontext versuchte sich Jobbik erneut mit seiner Fundamentalkritik an „allen Migranten, gleich ob arm oder reich“. Angegriffen wurden von der Partei die sog. Ansiedlungsanleihen. Seit 2013 ermöglichte der Kauf von ungarischen Staatsanleihen in Höhe von 300.000 Euro eine Niederlassung von Drittstaatlern und ihren Familien für 5 Jahre. Die Vergabe der Anleihen wurde 2017 beendet. Bis dato hatten rund 20.000 Menschen von dieser Regelung Gebrauch gemacht. Begründet wurde dieses Verfahren seinerzeit mit der Notwendigkeit der Finanzierung des notleidenden Staatshaushalts. Tatsache ist, dass die vom Wirtschaftsausschuss der Ungarischen Nationalversammlung eingesetzten Vermittlungsfirmen beachtliche Provisionen kassierten. Im November 2016 knüpfte Jobbik ihre Zustimmung zur 7. Grundgesetznovelle über die Festschreibung der Ablehnung der EU-Quote an die Bedingung, dass diese Anleihen unmittelbar abzuschaffen seien. Da dieser Forderung von der Regierung nicht entsprochen wurde, scheiterte die Novelle.
Für öffentliche Aufmerksamkeit sorgte eine im Januar lancierte Kampagne gegen einige „Ukrainer“. Wie die regierungskritische konservative Tageszeitung „Magyar Nemzet“ berichtete, nahmen die Bevölkerungszahlen an der Grenze zur Ukraine in den letzten Jahren rapide zu, in einigen Ortschaften um fast 100%. Es wird angenommen, dass viele Auslandsungarn mit ihrer neuen ungarischen Staatsbürgerschaft gleich einen ungarischen Wohnsitz beantragt hätten, um im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten ungarische Sozialleistungen beziehen zu können. Vor diesem Hintergrund warf der ehemalige Ministerpräsident und Vorsitzende der linksorientierten DK, Ferenc Gyurcsány, der Regierung vor, „ukrainische Rentner“ nach Ungarn zu lassen, um mit dem Geld der ungarischen Steuerzahler „Stimmen zu kaufen“. Ferenc Gyurcsány argumentierte bereits 2004 erfolgreich gegen die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft für Auslandsungarn.
Die OLAF-Meldung
Kurz vor dem offiziellen Wahlkampfauftakt berichteten die Medien über eine Meldung des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) an die ungarische Staatsanwaltschaft bezüglich der Firma Elios. Das Unternehmen dominiert den Markt für die Modernisi erung der Straßenbeleuchtung und beliefert seit 2009 ungarische Kommunen mit LED-Lampen. Elios wird vorgeworfen, bei Ausschreibungen systematisch mit den Kommunalbehörden kollusiv zusammengewirkt sowie Schein- und Tarnfirmen mit dem Ziel betrieben zu haben, die Vergabevorschriften zu umgehen. Da davon überwiegend EU-Mittel betroffen sind, empfiehlt OLAF eine Rückforderung an Ungarn über 40 Millionen Euro. In der fraglichen Zeit war István Tiborcz, der heutige Schwiegersohn des ungarischen Ministerpräsidenten, zu 50% Miteigentümer dieser Firma und Mitglied der Geschäftsführung. Der 2015 bei Fidesz in Ungnade gefallene Unternehmer Lajos Simicska gab 2013 seine Beteiligung an dieser Firma ab, István Tiborcz verkaufte seine Anteile im April 2015. Fidesz-Vertreter bewerteten den OLAF-Bericht als einen Versuch der Einmischung in den Wahlkampf. Der Vorwurf der Korruption im Umkreis der Familie des Ministerpräsidenten ist aber nicht ohne politische Brisanz.
Medienkampagne und Wahlkampfvorschriften
Die kommerzielle Wahlwerbung im Fernsehen ist in Ungarn verboten. Die Sender können aber kostenlos Sendezeit den Parteien zur Verfügung stellen. Im Sinne der Chancengleichheit ist aber allen Parteien die gleiche Sendezeit zu gewähren. Die privaten Medienanstalten RTL und ATV boten nun überraschend den Parteien Sendezeit für ihre Wahlwerbung an. Beide gelten als eher regierungskritisch. Damit bleibt die Möglichkeit der Wahlkampfwerbung im Fernsehen nicht nur auf die öffentlich-rechtlichen Sender beschränkt. Ein Fernsehduell mit dem chancenreichsten Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten wurde von Fidesz mit der Begründung abgelehnt, dass es keinen eindeutigen Herausforderer der Opposition mit einer angemessenen Unterstützung geben würde.
Die Medienlandschaft hat sich im Vergleich zu 2014 deutlich verändert. Mit der Schließung der linksliberalen „Népszabadság“ im Oktober 2016 verbleiben in Ungarn vier auf nationaler Ebene relevante Tageszeitungen: Die linke „Népszava“ erreicht eine Auflage von knapp 20.000 Stück, während die konservative, regierungskritische „Magyar Nemzet“ von Lajos Simicska gerade einmal mit rund 13.000 Exemplaren erscheint. Die beiden regierungsfreundlichen Zeitungen „Magyar Idők” und „Magyar Hírlap“ kommen nicht an die 10.000 heran. Die auflagenstarken Lokalzeitungen befinden sich weitgehend im Besitz regierungsnaher Verleger, wohingegen das Angebot an Wochenzeitungen und Internetportalen ein ausgeglichenes Bild ergibt. Die Boulevardblätter werden in der politischen Diskussion kaum wahrgenommen.
Die staatliche Wahlkampfunterstützung für die Parteien gliedert sich wie folgt: Parteien, die in allen 106 Wahlkreisen Direktkandidaten aufstellen, erhalten etwa 2 Millionen Euro. Liegt die Kandidatenzahl zwischen 80 und 105, erhalten sie ca. 1,5 Millionen Euro, bei 54-79 ungefähr 1 Million Euro. Für die Anzahl von 27 bis 53 Kandidaten werden ungefähr eine halbe Million Euro ausbezahlt. Zusätzlich zu diesen Zahlungen erhält jeder Kandidat etwa 3.200 Euro, die unter strenger Kontrolle ausschließlich für Wahlkampfzwecke verwendet werden dürfen.
Zudem wurde noch 2017 die Erstattung der Wahlkampfkosten mit den Stimmen von Fidesz-KDNP und der Opposition geändert. Eine Partei muss mindestens 1% der Wählerstimmen erreichen, sonst droht die Rückforderung der staatlichen Zuwendungen. Die Novelle soll den Missbrauch der staatlichen und stattlichen Kostenerstattung verhindern. 2014 waren insgesamt 71 Parteien angetreten, von denen nur 18 eine Landesliste aufstellten. Einige dieser großzügigen Zuschüsse landeten nach Aussage von Analysten bei äußerst unseriösen Gruppierungen. Nicht immer bewerben sich Kleinstparteien nur wegen der Wahlkampferstattung. Oftmals wollen sie nur die Existenz ihrer Partei sichern, da bei zweimaligem Nichtantreten bei Wahlen eine Löschung von Amts wegen droht. Bereits jetzt haben sich schon 104 Parteien für die Wahlen 2018 angemeldet.
Für Diskussionen sorgte eine Stellungnahme der Nationalen Wahlkommission: Sollte die Zahl der Direktkandidaten einer Partei unter 27 fallen oder mindestens 9 der 19 Komitate sowie Budapest nicht abgedeckt werden, sei die Landesliste zu streichen. Bisher galt die Vorschrift, dass diese Voraussetzung lediglich bei der Aufstellung der Liste erfüllt sein muss. Eine neue Formulierung im Wahlgesetz ließ den Zeitpunkt jedoch offen, weshalb die Klarstellung notwendig war. Die Stellungnahme der Wahlkommission war erwartet worden, denn sie sorgt für Rechtssicherheit und soll eine missbräuchliche Anwendung der Wahlvorschriften verhindern, beispielsweise wenn eine Partei 27 Direktkandidaten aufstellt, damit die Landesliste zugelassen wird, im Anschluss daran aber Wahlkreiskandidaten aufgrund von Absprachen wieder zurückgenommen werden.
Opposition und MP-Kandidaten
Im linken Parteienspektrum wiederholen sich im Wesentlichen die Gedankenspiele von 2014. Im Mittelpunkt steht dabei der ehemalige Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány (DK). Gyurcsány verfügt über eine kleine, aber sehr loyale Wählerschaft. Seine DK wird sehr wahrscheinlich ohne Probleme die 5%-Hürde überspringen. Er ist im linken Lager ein wichtiger Faktor, auch wenn seine Person hochkontrovers ist. Gemäßigte Linke, Bürgerliche oder Unentschlossene stehen ihm eher ablehnend gegenüber. Seine parteiinterne „Öszöder-Lügen-Rede“ 2006 und der anschließende moralische, politische und wirtschaftliche Niedergang des Landes haben die Zweidrittelmehrheit von Fidesz 2010 erst ermöglicht. Anders als bei den letzten Wahlen wird Gyurcsány 2018 nicht Teil der „Vereinigten Linken“ sein. DK wird alleine antreten mit Gyurcsány als Ministerpräsidentenkandidat. Vor vier Jahren ging die DK eine Listenverbindung mit der MSZP ein. Obwohl die Sozialisten sich dafür wieder stark gemacht hatten, treten DK und MSZP-PM nicht gemeinsam auf einer Liste an, sondern treffen lediglich Absprachen bezüglich der Direktkandidaten. Gyurcsány spielt wohl auf Zeit und rechnet vielleicht mit einem Niedergang der MSZP, was ihm die Führerschaft der Linken einbringen könnte.
Die MSZP hat sich mit der Partei Dialog für Ungarn (PM) und ihrem populären Ko-Vorsitzenden Gergely Szilveszter Karácsony zusammengetan und tritt nunmehr als MSZP-PM bei den Wahlen mit ihm als Ministerpräsidentenkandidat an. Mit dabei ist, ausgestattet mit einem aussichtsreichen Listenplatz, die Ungarische Liberale Partei (MLP). Karácsony ist Bürgermeister des XIV. Budapester Stadtbezirks und verließ 2013 die LMP wegen Streitigkeiten um die richtige Oppositionsstrategie. Er ist der populärste Führer der Opposition und gilt weithin als ein integrer und anerkannter Politiker. Da die Sozialisten eine bewährte Infrastruktur und auch eine solide Wählerunterstützung vorweisen können und ihr Kandidat für das Ministerpräsidentenamt Botka kurzfristig absprang, könnte eine solche Parteienkooperation für die Wähler durchaus attraktiv sein. Sollten MSZP-PM aber die für die Listenverbindung von zwei Parteien geltende 10%-Hürde nicht überspringen, droht der Partei die mögliche Implosion. Karácsony hat bereits angekündigt, dass er Bürgermeister bleiben wolle, sofern er nicht zum neuen Regierungschef gewählt würde.
Die Partei Együtt ist nicht mehr Teil der Linksallianz und zieht alleine in den Wahlkampf, ein Einzug in die Nationalversammlung scheint damit sehr schwierig. Auch die kleineren Parteien Momentum und Moma spielen bei dem Kampf um die Stimmen kaum eine Rolle.
Ein weiteres Dilemma für das linke politische Spektrum ist die richtige Wahlkampfstrategie. Im Jahre 2014 verfolgte die Linke drei verschiedene Strategien, die allesamt scheiterten. Bei den Parlamentswahlen im April trat MSZP, DK, Együtt, PM und MLP mit einer gemeinsamen Landesliste an, die Direktwahlkreise wurden aufgeteilt. Es zeigte sich wieder einmal, dass das Wählerstimmenpotential von verschiedenen Parteien nicht so einfach addiert werden kann. Bei den Europawahlen im Mai 2014 trat jede Partei getrennt auf, wodurch erste Indizien auf die tatsächliche Popularität in der Bevölkerung aufgezeigt wurden. Im Herbst 2014 wurde dann bei den Kommunalwahlen für den Posten des Budapester Oberbürgermeisters kein Mitglied dieser Parteien, sondern ein parteiübergreifender Politiker als Kandidat nominiert. Obwohl die Hauptstadt eigentlich als Hochburg des linken Lagers gilt, gewann wieder Fidesz. Nunmehr versucht die politische Linke eine vierte Strategie: Teils mit gemeinsamer (MSZP-PM), teils mit getrennten Listen, doch in den Wahlkreisen soll es zu einer „Koordinierung“ der Direktkandidaten kommen. Bei LMP und Jobbik fand in den letzten Tagen ein Umdenken statt. Eine informelle Abstimmung auf gemeinsame Wahlunterstützung für den aussichtsreicheren Kandidaten wird zumindest in den Parteien diskutiert. Dies könnte auch für einige unabhängige oder besonders populäre Kandidaten wichtig sein. Insbesondere die unabhängigen Kandidaten Zoltán Kész, der bei der Nachwahl 2015 im Wahlbezirk Veszprém 1 Fidesz-KDNP schlagen konnte, sowie der ehemalige Fidesz-Politiker Tamás Mellár in Pécs rechnen sich dementsprechend gute Chancen aus. Die neue Partei Momentum war bisher strikt gegen eine Kooperation mit den etablierten Parteien. Sie stellte nun aber drei Bedingungen für einen etwaigen Rücktritt eigener Wahlkreiskandidaten auf: Die Opposition müsse zumindest eine rechnerische Möglichkeit eines Sieges haben, der Kandidat müsse integer und glaubwürdig sein und auch die anderen Bewerber müssten ebenso zurücktreten.
Für die „grün-liberale“ LMP (Politik kann anders sein) tritt Bernadett Szél als Spitzenkandidatin an. Die kleine Partei hat eine Spaltung 2013 überlebt und liegt neuerdings sicher über der 5%-Hürde. Sie definiert sich weder als links noch rechts und hat mit der jungen Partei des bekannten Gödöllőer Bürgermeisters György Gémesi „Új Kezdet“ („Neuer Aufbruch“) eine Allianz geschlossen. Es wurde keine Listenverbindung eingegangen, sondern einige Mitglieder von „Neuer Aufbruch“ sind auf der LMP-Liste vertreten. Die Konflikte im politischen linken Lager und die realistischen Aussichten der LMP, wieder ins Parlament einzuziehen, dürften weitere Wähler dieser Partei zuführen. In bewusster Umkehrung der Regierungskommunikation tritt die LMP mit ihrem Wahlprogramm, dem „Szél-Plan“, an.
Jobbik geht es um die Führerschaft der Opposition. Der Parteivorsitzende Gábor Vona möchte als direkter Herausforderer von Ministerpräsident Viktor Orbán wahrgenommen werden. Jobbik ist jedoch nicht in der Lage, einen Großteil der Protestwähler hinter sich zu vereinigen. Die abrupte Neuausrichtung als nationalkonservative Volkspartei irritiert viele Stammwähler und ist für potentielle neue Wähler nicht glaubwürdig genug. Vona bemüht sich unterdessen weiter, durch neue, moderate Kandidaten die bürgerliche Mitte zu gewinnen. Er geht von einer Überraschung zugunsten Jobbiks bei den Wahlen aus und erklärte, dass er einer Zusammenarbeit mit LMP und Momentum sehr offen gegenüberstehe. Obwohl Jobbik nach gegenwärtigem Stand der Dinge in allen 106 Wahlkreisen Ungarns antritt, sind Rücktritte zugunsten unabhängiger Bewerber oder aussichtsreicher LMP-Bewerber daher nicht auszuschließen. Der Wahlkampf von Jobbik mit dem Slogan „Mit ungarischem Herzen, gesundem Menschenverstand und sauberer Hand“ soll den Eindruck erwecken, dass Jobbik frei von Korruption sei und für die ungarischen Interessen eintrete. Seit November 2016 – 18 Monate vor dem antizipierten Wahltermin – stellt die Partei am 18. eines jeden Monats einen Programmpunkt als sog. „Commitment“ (Verpflichtung) vor.
Die Regierungsparteien verzichten wie 2014 auf ein Wahlprogramm, stattdessen werden einzelne Themen in der öffentlichen Debatte und in den ihnen nahestehenden Medien immer wieder präsentiert. Mit der Fokussierung auf die Erfolge der Regierung, gerade im Wirtschaftsbereich und in der Familienpolitik, wurde eine Schwerpunktverlagerung in der Kommunikationsstrategie hin zu positiven Botschaften vorgenommen, doch noch immer spielen Feindbilder und die Abwehr von Bedrohungen eine elementare Rolle in dem Kontakt mit dem Wähler (s.o.). In der Tat sprechen die wirtschaftlichen Erfolge der Regierung Orbán eine klare Sprache: Im Februar 2018 betrug das BIP-Wachstum nach Angaben der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer 4,8% (im Jahr 2017 über 4%), die Staatsverschuldung konnte auf 74% reduziert werden. Die Inflation hat mit 2,1% wieder etwas zugelegt, während die Arbeitslosenquote bei 3,8% liegt. Der anhaltende Immobilien-, Beschäftigungs- und Lohnentwicklungsboom markiert eine wesentliche Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung. Ministerpräsident Viktor Orbán zeichnet aber oft ein Bild einer zukünftig von Muslimen dominierten europäischen Gesellschaft, vor der er die Ungarn schützen wolle. In diesem Kontext ist auch die „Stop Soros“-Kampagne zu verstehen. Nach allen Umfragen sehen die Ungarn in der Migration ein sie unmittelbar bedrohendes Phänomen und selbst linke Parteianhänger unterstützten die diesbezüglich rigide Politik des ungarischen Ministerpräsidenten.
Lediglich Szél und Vona bewerben sich als Direktkandidaten, wobei nur der Jobbik-Vorsitzende eine realistische Chance hat, in seinem Wahlkreis Gyöngyös den direkten Einzug in die Ungarische Nationalversammlung zu schaffen.
Eine Wahl, viele Entscheidungen – Umfragen und Ausblick
In den neuesten Umfragen über die Wahlabsichten bei den Zweitstimmen belegt Fidesz-KDNP weiterhin unangefochten den ersten Platz. Bei den acht landesweiten Meinungsforschungsinstituten kommt die Listenverbindung auf ein durchschnittliches Ergebnis von 51%. Auf Platz 2 folgt Jobbik mit 17%. Die Allianz von MSZP und PM rangiert dahinter mit 11%. DK wird bei 7% gemessen, die LMP bei 6%. Die anderen Parteien spielen so gut wie keine Rolle. Das Institut Republikon will allerdings in der Wählergunst einen Einbruch bei Fidesz festgestellt haben. Nach einer am 1. März veröffentlichten Umfrage käme Fidesz nur noch auf 48%, Jobbik und MSZP-PM würden zulegen, so das Institut.
Diese prognostizierten Listenergebnisse bei den Zweitstimmen sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das ungarische Wahlrecht ein Mehrheitswahlrecht ist und auch nach Aussage von führenden Fidesz-Politikern die Wahl in den Wahlkreisen mit der Erststimme entschieden wird. Auch sind die politischen Gegebenheiten und Stimmungen in jedem einzelnen der insgesamt 106 Wahlkreise verschieden und die Hochburgen der Parteien mit ausschlaggebend für die Erststimmenergebnisse.
Linksorientierte Intellektuelle haben mit der Bewegung „Die Zweidrittelmehrheit abbauen“ und „Bewegung Gemeinsames Land“ den Versuch unternommen, einen Konsens zwischen allen Oppositionsparteien, teilweise inklusive Jobbik, herzustellen. Die „Bewegung Gemeinsames Land“ initiierte sogar repräsentative Umfragen in 18 besonders stark umkämpften Wahlkreisen, um so den chancenreichsten Oppositionskandidaten bestimmen lassen zu können. Zudem versucht eine Gruppe ehemaliger konservativer sowie linker Politiker mit dem Namen „V18“, Grundlagen einer inhaltlichen Zusammenarbeit der Oppositionsparteien jenseits von Fidesz-KDNP zu etablieren.
Es wird sich in den nächsten Wochen entscheiden müssen, in welchen besonders umkämpften Wahlkreisen die Koordinierung hin zu einem einzigen chancenreichen Kandidaten gegen Fidesz-KDNP gelingen kann. Um erfolgreich zu sein, müsste die Opposition der Spagat zwischen Wahlrecht (für die Landesliste werden mindestens 27 Direktkandidaten einer Partei benötigt, s.o.) und Glaubwürdigkeit gelingen. Bei all den möglichen Gedankenspielen darf aber nicht vergessen werden, dass dies in dem politisch stark polarisierten Ungarn und in der verbleibenden Zeit eine enorme und kaum zu bewältigende Herausforderung für die Opposition ist.
Die politischen Querelen im Lager der Opposition und vor allem die Unfähigkeit, sich auf eine gemeinsame Wahlstrategie zu einigen, hat wohl bei vielen Beteiligten in den letzten Monaten die Erkenntnis reifen lassen, dass Fidesz und KDNP auch nach dem 8. April 2018 Regierungsparteien bleiben werden. Worin man sich aber einig scheint, ist die Mehrheit von Fidesz im größtmöglichen Ausmaß zu verringern. „Alle gegen Fidesz“ hat außerdem den Vorteil, dass die Opposition sich gegen den gemeinsamen Gegner besser verbünden und abstimmen kann, ohne faule programmatische Kompromisse eingehen zu müssen. Es geht bei den Wahlen auch um die Führerschaft der Opposition und darum, wer die stärkste Kraft im linken Parteienspektrum wird. Sollte das Wahlergebnis von Jobbik schlechter als 2014 ausfallen, wird sicherlich der Ruf in der Partei nach einem Rückmarsch aus der politischen Mitte zum rechten Rand sehr laut werden.
Den Entscheidungsträgern von Fidesz-KDNP ist bewusst, dass sie sich trotz des soliden Vorsprunges in den Meinungsumfragen nicht zurücklehnen können. Sie wollen bis zum 8. April um jede Stimme kämpfen. Die Wahl verspricht aus vielen Gründen spannend zu bleiben.