Die Oxfam-Studie Wealth: Having it All and Wanting More vom 19. Januar 2015 trifft drei Hauptaussagen: Erstens, die Vermögensungleichheit in der Welt habe seit Ausbruch der globalen Finanzkrise 2007 stark zugenommen. Zweitens, für diese Entwicklung sei insbesondere die wachsende politische Einflussnahme von Interessengruppen in den Vereinigten Staaten verantwortlich. Drittens, zur Bekämpfung der steigenden Vermögensungleichheit sei ein „Even it Up“-Aktionsprogramm nötig.
Zu Recht beschreibt die Studie, dass sich eine wachsende Vermögensungleichheit vielerorts zu einem Gesellschafts- und Sicherheitsproblem entwickelt hat. Nur partiell kann man der Oxfam-Studie jedoch beipflichten, wenn sie darlegt, dass die zunehmende politische Einflussnahme von wirtschaftlichen Interessengruppen in den Vereinigten Staaten zu diesem Problem beigetragen habe; die politische Eigenverantwortung der ärmeren Staaten sollte dabei nicht gänzlich außer Acht gelassen werden. Fraglich sind hingegen die Politikempfehlungen der Studie, die nahelegen, dem Problem des „Schon alles haben und noch mehr wollen“ mit „mehr Aktionsplänen und weniger Ordnungspolitik“ zu begegnen.
Innerstaatliche Dynamiken sind das Problem
Die Oxfam-Studie vermittelt, vermutlich unbeabsichtigt, den Eindruck, dass die weltweite Zunahme der Vermögensungleichheit ein globales gesellschaftspolitisches Problem darstellt. Zwar ist es richtig, dass die Wohlstandsschere zwischen den ärmsten und reichsten Erdenbürgern zunehmend auseinanderklafft, aber genauso richtig ist, dass sich gleichzeitig in vielen Entwicklungsländern die Kluft zwischen Arm und Reich ebenfalls vergrößert hat. Diese innerstaatlichen Dynamiken sind es, die die eigentlichen gesellschafts- und sicherheitspolitischen Herausforderungen darstellen, nicht so sehr die zwischenstaatlichen Unterschiede, die die Oxfam-Studie besonders hervorhebt.
Der Umbruch in der arabischen Welt wurde primär dadurch mitausgelöst, dass junge Menschen in Tunesien, Ägypten, Syrien und Libyen innerhalb ihrer eigenen Länder zunehmend den Anschluss an den Wohlstand einer aufkommenden, oftmals vom Westen unterstützten Kleptokratie-Elite verloren haben. Der größer werdende Vermögensabstand zur Wohlstandsspitze im Westen dürfte hier eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben. Auch der dem Aufbruch folgende, sich immer mehr abzeichnende Kollaps vieler arabischer Staaten ist darauf zurückzuführen, dass es für viele Länder dieser Region kaum Perspektiven für einen schnellen, breit aufgestellten Wirtschaftsaufschwung gibt. Vielerorts geht es heute nicht darum, wie man vorhandene Ressourcen nutzt, um „Wohlstand für alle“ aufzubauen, sondern darum, wie man die noch gegebenen Produktionsmöglichkeiten vor dem Zugriff rivalisierender Gruppen schützt. Man könnte daher annehmen, dass eine stärkere Anstrengung in der arabischen Welt für eine bessere Wirtschafts- und Sozialpolitik, für mehr Chancengleichheit und Wirtschaftswachstum den derzeit stattfindenden Staatenzerfall verhindert oder zumindest eingegrenzt hätte.
Mehr Gerechtigkeit durch mehr Aktionspläne?
Wie begegnet man dem Problem der steigenden Vermögensungleichheit? Bei dieser Frage offenbart der Oxfam-Bericht seine größten Schwächen. Hier werden neun Aktionspunkte vorgeschlagen, und auf zusätzliche Aktionspläne wird in einer weiteren Studie verwiesen. Zwar sind viele Politikempfehlungen direkt auf das Problem der Vermögensungleichheit bezogen, bei anderen Ratschlägen handelt es sich jedoch um normative Universalweisheiten, die nicht nur der Verringerung der Vermögensunterschiede, sondern Hebung des menschlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsstandes generell dienen. So heißt es etwa in der Studie:
(1) Regierungen müssten im Sinne der Bürger arbeiten und das Problem der extremen Ungleichheit angehen.
(2) Die Rechte der Frauen sollten gestärkt werden.
(3) Arbeiter sollten einen existenzsichernden Mindestlohn erhalten.
(4) Das Steuersystem solle in dem Sinne gerechter werden, dass Vermögen vermehrt und Arbeit in geringerem Umfang besteuert würde.
(5) Ebenso sollten Steuerschlupflöcher gestopft werden.
(6) Das globale System der Forschung und Entwicklung von Medikamenten sowie ihrer Preise solle so verändert werden, dass alle Zugang zu angemessenen und erschwinglichen Pharmazeutika haben.
(7) Die Schaffung eines universellen sozialen Sicherungsnetzes solle vorangetrieben werden.
(8) Wirtschaftliche Entwicklung zum Zweck der Reduzierung von Einkommensungleichheiten sowie der Stärkung der Verbindung zwischen Bürgern und Regierung solle zielgerichtet finanziert werden.
Es folgt ein Verweis auf die Oxfam-Webseite „Even It Up: Time to end extreme inequality“, auf der sich weitere Aktionsideen finden.
Die Oxfam-Studie zeigt ein zunehmendes Dilemma der Entwicklungszusammenarbeit auf: Es besteht darin, dass komplexe Probleme mit einer „Aktionismusbatterie“ zu lösen versucht werden. Aktionspläne sind zwar medienwirksam, oft aber wenig hilfreich und nur selten konsequent zu Ende gedacht. Meist wirken sie wie Autoaufkleber der Art „Haltet die Globale Erderwärmung auf“, „Rettet die Meeresschildkröten“ oder „Stoppt Kinderarmut“. Und natürlich gibt es sowohl für das Problem der globalen Erderwärmung und das des Sterbens der Meeresschildkröten als auch gegen die Kinderarmut wiederum eine Vielzahl von Aktionsplänen. Das erweckt den Anschein, als ob sich nach den Vorstellungen Oxfams die Regierungen künftig nur noch mit aktionistischen Ideen beschäftigen dürften. Diese bergen ein weiteres Problem: Wenn Wirtschafts-, Gesellschafts-, Umwelt- und Sozialpolitik nur noch von dirigistischen Aktionsprogrammen bestimmt wären, dann gefährdeten sie die individuelle Freiheit. Das Ziel sollte daher sein, eine gleichmäßige Gesellschaftsentwicklung nicht mit mehr dirigistischem Aktionismus, sondern – im Gegenteil – mit mehr Ordnungspolitik zu ermöglichen.
Diese Kritik bedeutet nicht, dass die Oxfam-Studie wichtige Probleme nicht identifizieren würde. Vermögensungleichheit ist ein erhebliches und ernst zu nehmendes Problem, genauso wie die Marktmacht von einzelnen Wirtschaftssektoren. Auch stellt die Steuergerechtigkeit eine einkommens- und finanzpolitische Herausforderung dar. Allerdings sind Probleme der Vermögensungleichheit so komplex, dass sie nicht mit einfachen Formeln wie „Stoppt Marktmacht“ oder „Schafft gerechte Steuern“ angegangen werden können. Dieser Komplexität wird die Oxfam-Studie leider nicht gerecht.
Politische Einflussnahme erschwert gerechte Einkommensentwicklung
Die von wachsenden Vermögensunterschieden ausgehende Gefahr ist keineswegs neu. Schon vor Jahrtausenden bemerkte etwa Aristoteles, dass, „wenn es keine Mittelschicht gibt und die Zahl der Armen zu groß ist, Probleme entstehen und der Staat sich dann bald seinem Ende zuneigt“. Auch Adam Smith (1723 bis 1790) betonte, dass „sicherlich keine Gesellschaft blühen kann, in der die Großzahl der Menschen in Armut und Elend leben“.
In der Geschichte des politisch-ökonomischen Denkens hat sich kaum eine Schule so intensiv mit den Bedingungen für eine ausgeglichene wirtschaftliche Entwicklung beschäftigt wie der Freiburger Ordoliberalismus und der Wirtschaftshumanismus der Kölner Schule. Beide bilden heute das intellektuelle Fundament des Leitbildes der Sozialen Marktwirtschaft und folgen der Idee, die wirtschaftliche Freiheit in den Dienst einer gleichmäßigen Einkommens- und Vermögensentwicklung zu stellen. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Nationalsozialismus, der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre und der Sozialen Frage der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts wurde in der Sozialen Marktwirtschaft und Ordnungspolitik nicht nur eine Wirtschafts- und Sozialordnung erkannt, sondern ein Rahmenwerk für Sicherheit und Frieden.
Primat der Ordnungspolitik
Walter Eucken, einer der bedeutendsten Mitbegründer des Ordoliberalismus, formulierte als fundamentalen Grundsatz der staatlichen Ordnung die Notwendigkeit der Isolierung der Staatsgewalt von Partikularinteressen. Obwohl diese Einsicht nicht gerade neu ist, kann man daher dem Oxfam-Argument zustimmen, dass die Praxis der politischen Einflussnahme in den Vereinigten Staaten und in anderen Teilen der Welt ein schwerwiegendes ordnungspolitisches Problem darstellt und dem Ziel einer gleichmäßigen Einkommensentwicklung im Wege steht.
Es sind aber nicht nur die Sandkörner im Getriebe des politischen Apparates, die es zu entfernen gilt. Die Ursachen für einen Großteil der wachsenden Einkommensungleichheit liegen in den fehlenden marktkonstituierenden Grundvoraussetzungen. In vielen armen Ländern fehlt es den Menschen nicht primär an Zugang zu Umverteilungsmaßnahmen, sondern am Zugang zu wirtschaftlichen Erwerbsmöglichkeiten. Oft haben Menschen keine Eigentumsrechte an Grund und Boden und dadurch keinen Zugang zu Kapital, das wiederum Voraussetzung für den Erwerb von Bildungs- und Gesundheitsdienstleistungen ist. Ebenso verhindern Preiskontrollen, Handelsbeschränkungen, Inflation und Rechtsunsicherheit vielfach die Ausbreitung von Marktzugangsmöglichkeiten. Das Primat der Ordnungsüber die Prozesspolitik wird durch Studien wie jene der Oxfam-Gruppe leider unterminiert. Ohne einen festen Bezug zu einer marktwirtschaftlichen Philosophie, die auf Chancengleichheit und Freiheit basiert, wird jede Studie über Vermögensungleichheit Lösungen im Bereich von mehr Staatsinterventionen finden und den eigentlichen Schlüssel zum Erfolg, weniger Dirigismus und mehr sozialmarktwirtschaftliche Ordnungspolitik, übersehen.
Marcus Marktanner, geboren 1966 in Bönnigheim, Associate Professor für Wirtschaft und Internationales Konfliktmanagement, Kennesaw State University, Kennesaw (USA).