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Das Geschichtsbild als Machtinstrument der chinesischen Führung

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Das Jahr 2015 stand für China ganz im Zeichen historischer Erinnerung. Am 3. September beging die Volksrepublik mit der bis dahin größten Militärparade den 70. Jahrestag des „Sieges im Volkskrieg gegen die japanische Invasion und im anti-faschistischen Krieg“. Im Vorfeld des großen Ereignisses hatte die staatliche Propaganda mit einer wahren Flut von Kriegsfilmen, Dokumentationen und Augenzeugenberichten die Erinnerung an den Krieg gegen Japan 1937 bis 1945 wiederbelebt. Siebzig Jahre nach Kriegsende erschienen die Japaner in chinesischen Darstellungen wieder als die „japanischen Teufel“, als die sie in Kriegsjahren bezeichnet wurden.

„Remember History“, mahnte eine Anzeigenserie in den großen chinesischen Zeitungen. Ein Blick auf deren Illustration macht jedoch klar, dass es der Kommunistischen Parteiführung nicht um „die Geschichte“, sondern nur um ein historisches Ereignis ging, den Krieg gegen Japan. Und erinnern sollte sich neben der chinesischen Bevölkerung vor allem Japan. Der japanischen Regierung wurde gebetsmühlenartig vorgehalten, dass sie sich der Vergangenheit nicht stelle und Kriegsschuld leugne. Nur durch eine korrekte Einstellung zur Geschichte könne die Zukunft positiv gestaltet werden, ertönte es aus Peking in Richtung Tokio.

Ein solcher Appell zum wahrheitsgemäßen Umgang mit der Geschichte klingt aus dem Mund der chinesischen Parteiführer wenig glaubwürdig. Denn was die chinesische Führung von Japan fordert, ist sie selbst nicht willens zu leisten. „Remember History“ – das gilt nicht für die Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und ihrer Herrschaft, denn an die vielen dunklen Phasen kommunistischer Herrschaft und die Verbrechen, die die KPCh am chinesischen Volk verübt hat, soll sich niemand in der Volksrepublik China erinnern; sie sollen aus dem offiziellen Gedächtnis gestrichen werden, ihre öffentliche Diskussion ist tabu.

„Remember History“ gilt nicht für die Dekade der chinesischen Machtübernahme, bei der durch Bodenreform und von oben verordnete sozialistische Umgestaltung Millionen umkamen. „Remember History“ gilt auch nicht für den 1957 von Mao Zedong angeordneten „Großen Sprung nach vorn“, mit dem die Volksrepublik schlagartig industrialisiert werden sollte. In der Folge kamen in einer Hungersnot bis 45 Millionen Chinesen ums Leben. „Remember History“ gilt auch nicht für die Kulturrevolution (1965 bis 1975), die von Mao Zedong angeheizt war und die China an den Rand eines Bürgerkriegs brachte. Millionen verloren durch Terror, in Umerziehungslagern und bei Arbeitseinsätzen ihr Leben. Und schließlich soll sich niemand mehr an die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung im Jahr 1989 durch die Volksbefreiungsarmee erinnern.

 

Nationalistische Erziehung

Zur Geschichte hat die KPCh ein ganz besonderes Verhältnis: Sie schreibt sie um, interpretiert sie neu oder verschweigt, je nach dem aktuellen politischen Bedarf. Die Wächter der Partei-Ideologie haben dazu starke Mittel in der Hand. Sie wachen über die Lehrpläne der Schulen, Debatten in den Medien und akademische Veröffentlichungen. Durch die effektive Internetzensur kann erreicht werden, dass die Diskussion über und die Erinnerung an bestimmte Zeiten und Ereignisse der Geschichte unterdrückt oder in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Unter der Leitparole der „Patriotischen Erziehung“ wird in ganz China eine Geschichtsauffassung verbreitet, die nationalistisch ist und die Leistungen der KPCh unkritisch verherrlicht.

Die Ideologen der Partei versuchen aber auch, Interpretationen der chinesischen Geschichte international zu monopolisieren. Nicht zufällig trat die Volksrepublik im Kriegsgedenkjahr 2015 als Gastgeberin des Welthistorikerkongresses auf, der zum ersten Mal in Ostasien tagte. Das wurde von den offiziellen chinesischen Medien als eine „Abkehr vom Eurozentrismus“ gefeiert. Eines der Hauptthemen des Kongresses war „China aus der globalen Perspektive“. Aus der Vielzahl der akademischen Diskussionen wurden in chinesischen Medien hauptsächlich jene hervorgehoben, die Chinas Rolle in der Weltgeschichte würdigten. Das passt gut zu Parteichef Xi Jinpings Vorhaben der „Wiederbelebung der großen chinesischen Nation“. Xi Jinping sagte dann auch in seinem Grußwort, die Historiker sollten Einsichten für diese Wiederbelebung Chinas vorlegen.

Als amerikanische Historiker vor Kurzem mit der „New Qing History“ eine neue Theorie zur Geschichte der letzten chinesischen Kaiserdynastie der Qing (1616 bis 1911) und eine Diskussion um die Rolle der Mandschuren in der Qing-Geschichte anstießen, hatte dies wahre Hassausbrüche und Schmähungen chinesischer Historiker zur Folge. Diese reagierten höchst empfindlich besonders darauf, dass die Historiker der „New Qing History“ daran erinnerten, dass die Kaiser der Qing-Dynastie viele Gebiete eroberten, die vorher nie zum Territorium Chinas gehört hatten. Diese „Neue Qing-Geschichte“ diene dazu, Chinas Anspruch auf die Herrschaft über Gebiete wie Tibet, Xinjiang und Taiwan zu schwächen, schimpften chinesische Historiker. Diese Art der Geschichtsschreibung sei nur eine neue Form des amerikanischen Imperialismus. Sie diene dazu, Chinas Aufstieg aufzuhalten und dem heutigen China Expansionismus vorzuwerfen.

Für die chinesische kommunistische Führung war die Geschichte schon immer ein Mittel der politischen Auseinandersetzung. Die Partei zieht aus der Geschichte die Legitimation ihrer Herrschaft. Zu einer Zeit, da die marxistisch-leninistische Lehre keine Anziehungskraft mehr in China hat und als Ideologie für das de facto kapitalistische China nicht herhalten kann, versucht die Kommunistische Partei Chinas jetzt, ihren Anspruch auf die Herrschaft über China mit ihren historischen Leistungen zu begründen; dazu gehört vor allem, dass die Partei für sich beansprucht, die japanischen Invasoren besiegt und damit China von einem Jahrhundert der Demütigung gerettet und die moderne chinesische Nation begründet zu haben.

 

Sieger über Japan?

Dass dies den historischen Tatsachen nicht ganz entspricht, stört sie dabei nicht. So haben nicht die versprengten und schlecht ausgerüsteten kommunistischen Truppen, sondern die Truppen der damaligen nationalchinesischen Regierung unter Tschiang Kai-schek den Großteil des Kampfes gegen Japan geführt und die meisten Verluste erlitten. Die Soldaten der chinesischen Nationalisten verloren im acht Jahre währenden Krieg gegen die japanischen Invasoren 3,2 Millionen Soldaten, die Kommunisten nach offiziellen Schätzungen 450.000. Ebenso wurde während der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Kriegsendes an keiner Stelle erwähnt, dass es letztlich die von der offiziellen chinesischen Propaganda geschmähten Amerikaner waren, die die Japaner im Zweiten Weltkrieg besiegten und damit auch China von der japanischen Besetzung befreiten.

Trotz aller offiziellen Versuche der Geschichtsklitterung gibt es auch in der Volksrepublik viele, die wissen, dass die Geschichte, wie sie von der KPCh präsentiert wird, nur ein bearbeiteter Ausschnitt ist. Die älteren Chinesen haben die jüngste Geschichte noch miterlebt und können die offizielle Darstellung mit ihren Erinnerungen vergleichen. Einige wenige historisch Interessierte erhalten in kleinen privaten Museen etwa die Erinnerung an die Kulturrevolution lebendig. Zwar unterliegen Übersetzungen ausländischer Geschichtswerke der Zensur, chinesische Historiker, Studenten und gebildete Leser können jedoch durch Schlupflöcher im Internet historische Publikationen anderer Staaten lesen. Für die, die nur der chinesischen Sprache mächtig sind, gibt es Publikationen von Historikern in Taiwan und Hongkong, die historische Forschung ohne ideologische Verbote verfolgen können.

 

„Historischer Nihilismus“

Auch in den Internetblogs und in Diskussionen der sozialen Medien tauchen immer wieder historische Themen auf, doch auf diese richtet die Zensur ein wachsames Auge. Zu Beginn dieses Jahres löschte die Zensur eine Reihe von WeChat-Konten wegen „Verfälschung der Geschichte der Partei und des Staates“. Und selbst die Aufklärung ihrer Bürger im Ausland versucht die Volksrepublik China zu stören. So protestierten die chinesischen Behörden in diesem Jahr bei Reiseveranstaltern in Taiwan dagegen, dass chinesischen Touristengruppen im demokratischen Taiwan historische Dokumentarfilme gezeigt wurden, die die Geschichte des chinesischen Kommunismus und Mao Zedongs anders darstellten, als es die offizielle kommunistische Geschichtsschreibung tut.

Die Partei sieht unabhängige historische Forschung als Herausforderung für ihren Herrschaftsanspruch. Die Volkszeitung kommentierte dies kürzlich mit deutlichen Worten: „Es ist einfach, die Regierung eines Landes zu stürzen, indem man die Geschichte infrage stellt.“ Mit anderen Worten: Wenn etwa 450 Millionen WeChat-Nutzer anfangen würden, über die Geschichte zu spekulieren und die historischen Erfolge der Partei infrage zu stellen, könnte daraus ein Unsicherheitsfaktor werden. In der Parteizeitschrift Suche nach Wahrheit wird jetzt Kritik an der offiziellen Geschichtsschreibung als „Historischer Nihilismus“ kritisiert. Die Geschichte der Partei sei insgesamt glorreich, heißt es da. Wenn jetzt Historiker die Geschichte der chinesischen Revolution und der Partei verfälschten, müsse man dem entschieden entgegentreten. Der „Historische Nihilismus“ habe zum Ziel, die Herrschaft der KPCh und das sozialistische System Chinas zu unterminieren.

 

Petra Kolonko, geboren 1955 in Rheinberg, Korrespondentin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in China.

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