Asset Publisher

Neues vom globalisierten Auf- und Abstiegskampf

Asset Publisher

Viel ist vom Aufstieg der Schwellenländer die Rede gewesen; der wirtschaftliche Erfolg und politische Machtzuwachs des „Reichs der Mitte“ sind das Emblem dieses Aufstiegs gewesen. Sehr hohe Wachstumsraten, glitzernde Glastürme in Shanghai und anderswo sowie der internationale Gläubigerstatus lieferten den Stoff für eine große Erzählung, die Fareed Zakaria 2008 in seinem Buch The Post-American World auf den weltpolitischen Punkt gebracht hatte: Als Folge der Globalisierung verschieben sich die Gewichte in Weltwirtschaft und Weltpolitik – weg vom Westen, hin zu neuen Stars. „The rise of the rest“ beflügelte die Fantasie.

Das war eine griffige Metapher. Das inhaltlich verwandte Akronym „BRIC“ nimmt sich dazu eher jargonhaft aus. BRIC ist seit 2001 auf dem Markt der Konzepte und steht für Brasilien, Russland, Indien und China; später ist es um ein „S“ für Südafrika erweitert worden. BRICS ist sozusagen die Kurzformel eines Aufholprozesses, der nach dem Ausbruch der Finanz-, Wirtschafts- und Eurokrise in den USA und Europa unwiderstehlich zu sein schien. Der alte Westen litt, musste, wenn auch widerwillig, am Kopftisch der internationalen Wirtschaftsinstitutionen zusammenrücken und erlebte, dass nicht mehr er es war, der die globale Wirtschaft unter Dampf setzte.

 

Fettfinger an der alten Erzählung

Die Erzählung vom (unaufhaltsamen) Aufstieg der anderen und vom Niedergang, zumindest vom Bedeutungsverlust des Westens ist oft wiederholt worden, so oft, dass man meint, die Fettfinger daran erkennen zu können. Aber mehr noch: Die Erzählung hat an Glanz eingebüßt, auf einmal werden auch die Schatten wahrgenommen. Plötzlich scheint auch der Westen nicht mehr so eindeutig auf verlorenem Posten zu stehen, mögen amerikanische Haushaltskapriolen und der schleppende Gang aus der europäischen Krise das Gegenteil suggerieren. Mittlerweile wird die Zukunft der Schwellenländer weitaus nüchterner gesehen; dafür rücken finanzielle Risiken, wirtschaftliche Anpassungsnotwendigkeiten, soziale Verwerfungen, Umweltbelastungen sowie politische Fehlsteuerungen und Regierungsdefizite in den Blick. Der Traum vom Sprung Chinas und anderer Länder an die Spitze ist deswegen nicht ausgeträumt – aber als ein historischer Selbstläufer wird das Ganze von Fachleuten nicht mehr betrachtet. Dieser neue Realismus ist zu begrüßen, auch was die Chancen und das Potenzial westlicher Länder anbelangt, sich im 21. Jahrhundert zu behaupten.

Die Gründe für diesen realistischeren Blick sind offensichtlich. Beim Übergang zu einer reiferen Ökonomie erlebt China einen vergleichsweise deutlichen Rückgang seines bisherigen Wachstums. Es ist noch immer hoch und weltwirtschaftlich bedeutsam, zweistellig ist es aber nicht mehr. Chinas Exportmodell scheint an Grenzen zu stoßen; die großen inneren Disparitäten liegen offen zutage. Die soziale Ungleichheit ist immens, die Spannungen zwischen politischer Steuerung durch die Kommunistische Partei und den Flexibilitätsnotwendigkeiten der Wirtschaft werden größer.

Indien, das zum Symbol abwürgender Korruption und schädlicher Überbürokratisierung geworden ist, hat im Sommer 2013 einen beispiellosen Absturz seiner Währung erlebt – und zwar „nur“ als Folge der Ankündigung der US-Notenbank, dass sie möglicherweise von ihrer expansiven Geldpolitik abrücken werde. Ein Vertrauensvotum sieht anders aus. Das ist kein abschließendes Verdikt über die Perspektiven des Landes, offenbart aber die Schwierigkeiten, die auf dem Weg in eine strahlende Zukunft liegen. Dasselbe gilt für Brasilien, über das eine beispiellose Welle von Sozialprotesten hinweggegangen ist und das seine Infrastrukturvorhaben nicht selbst finanzieren kann (aus eigener Kraft kann es seine Ressourcen nicht ausbeuten). Das gilt nicht minder für Russland, das noch immer nicht über den Status einer Rohstoffökonomie hinausgekommen ist und in dem jenseits von Moskau und St. Petersburg viel Düsternis herrscht, von der autoritären politischen Regression ganz abgesehen. Zahlreich und hoch sind die Hindernisse – mal sind es strukturelle, mal institutionelle –, die der „Rest“ beim Gipfelaufstieg überwinden muss.

Das ändert nichts daran, dass die kommenden Jahre und womöglich auch Jahrzehnte „ultrakompetitiv“ sein werden. Trotz aller Kritik wird die Globalisierung weitergehen. Die alten Industrieländer, auf denen die Weltwirtschaft nicht mehr allein ruht, können sich nicht ausruhen. Sie stehen in einem scharfen Wettbewerb um Standorte und Talente. Sie dürfen nicht nachlassen, was Ideen und Innovation, Produktivität und Qualität der Erzeugnisse angeht. Sie müssen sich auf Wettbewerber einstellen, die etwa europäische Sozialstandards und Umweltauflagen für einen Luxus halten, den man sich noch nicht leisten kann und will, und die, was zum Beispiel Arbeitszeiten anbelangt, ganz andere Vorstellungen haben. Die Antwort des Westens auf Dynamik und Fortschrittswillen anderswo kann nicht in Risikoscheu, Lernverweigerung und Status-quo-Verwaltung bestehen. Sie liegt nicht zuletzt in der wirtschaftlich fruchtbaren Kombination von Flexibilität, Innovationsgeist und freiheitlicher Gesinnung.

 

Mehr Gemeinschaftsbildung, weniger Selbstdiskreditierung

2013 haben die Vereinigten Staaten und die Europäische Union endlich die Verhandlungen über eine transatlantische Freihandelszone, die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP), aufgenommen. Dieses ehrgeizige und umfassend angelegte Projekt kann in seiner Bedeutung gar nicht überschätzt werden. Es schafft Beschäftigung auf beiden Seiten des Atlantiks durch Ausweitung des Handelsvolumens; weil es die beiden größten Handelsmächte miteinander verbindet, setzt es in puncto Regulierung Standards, die andere Handelsmächte nicht ignorieren können. Und dann kann die TTIP die atlantischen Partner strategisch enger miteinander verschweißen: Die Funktion, die früher die NATO hatte, könnte in Zukunft der TTIP zufallen, hat ein ehemaliger amerikanischer Botschafter in Deutschland anerkennend festgestellt. Die TTIP wäre jedenfalls nichts weniger als der Einstieg in einen transatlantischen Binnenmarkt von mehr als 800 Millionen Konsumenten.

Nimmt man die (ordnungs)politische Rolle und das Selbstverständnis der USA und Europas in der Welt hinzu, entstünde so das Fundament einer Verbindung, die wahrlich „unentbehrlich“ wäre, und das nicht allein als handelspolitischer Impulsgeber. Bei den großen Themen der Weltpolitik und bei der Regelung regionaler Konflikte war und ist das Lösungsangebot der neuen Schwellenländer so konstruktiv zumeist nicht. Im Gegenteil, es war und ist oft nur darauf angelegt, zu sabotieren – und sich nicht in die Pflicht nehmen zu lassen. In diesem Sinne hat Präsident Barack Obama in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung die Welt für einen kurzen Augenblick in eine Zukunft blicken lassen, in der die Vereinigten Staaten nicht mehr so engagiert wären wie früher. Niemand ist zu sehen, der an ihre Stelle treten könnte oder wollte. Im Kern trifft das auch für die Europäer zu, denen es oft an strategischer Ambition, an Kapazitäten und an dem entsprechenden Handlungswillen fehlt.

Die USA wiederum können all jene Lügen strafen, die bereits Schmählieder auf ihren unwiderruflichen Abstieg angestimmt hatten. Sie sind es nämlich, die gerade zur Energiesupermacht aufsteigen und die, zusammengenommen, mittlerweile der Welt größter Produzent von Öl und Erdgas sind. Die amerikanische „Energierevolution“, gestützt auf neue Technologien und die Förderung etwa von Schiefergas, bringt die Vereinigten Staaten auf dem Weg zur Energieunabhängigkeit rasch voran. Die globalen energiewirtschaftlichen und potenziellen geopolitischen Konsequenzen sind immens. Und: Amerika wird dank günstiger Energiepreise eine Wiedergeburt als Industriestandort erleben. Die Vorhersage, dass denjenigen Mächten die Stunde im 21. Jahrhundert schlagen werde, die über Ideen und über Ressourcen verfügen, können die Vereinigten Staaten jedenfalls für sich gelten lassen. Und sie haben auch die „richtige“ Mentalität. Die westliche Führungsmacht wird innovatives Kraftzentrum der Welt bleiben, mögen auch andere den Sprung in eine höhere Liga schaffen. Der Westen ist nicht am Ende.

Eines darf er jedoch nicht tun: Er darf sich nicht selbst schwächen und sich nicht selbst diskreditieren. Der amerikanische Haushaltsdauerstreit zum Beispiel wirkt nach innen paralysierend und nach außen reputationsschädigend; er hat denjenigen, die ein anderes gesellschaftliches und politisches Modell verfolgen, gewissermaßen Argumente frei Haus geliefert. Und die Affäre um Ausspähaktivitäten des amerikanischen Geheimdienstes NSA lässt das Vertrauen zwischen den Vereinigten Staaten und ihren Partnern und Verbündeten gefährlich erodieren. Gerade angesichts der Notwendigkeit, gemeinsam auf diffuse sicherheitspolitische Herausforderungen zu reagieren, ist das mehr als bedauerlich. In der Europäischen Union wiederum mühen sich die Krisenländer, den Anschluss zu finden, wieder wettbewerbsfähig zu werden und solide zu haushalten. Die europäische Erfahrung einer existenziellen Krise war alarmierend; der Ruf, diese Krise schnell und beherzt zu überwinden, ertönte weltweit.

Und dennoch bleibt der demokratisch verfasste und marktwirtschaftlich ausgerichtete Westen, mit Amerika und Europa als Kern, attraktiv: Die Freiheitsstatue steht nach wie vor in New York, nicht in Peking oder Moskau.

 

Klaus-Dieter Frankenberger, geboren 1955 in Darmstadt, verantwortlicher Redakteur des Ressorts Außenpolitik, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.

comment-portlet