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Eindrücke eines Russlandbesuchs junger Außenpolitiker

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Wie würde es sein, in der international angespannten Situation Russland zu besuchen? Ich hatte viel darüber nachgedacht in den Tagen zuvor. Welche Sichtweisen über den Ukraine-Konflikt würden wir über die bekannten, offiziellen Positionen hinaus kennenlernen? Jetzt, im Anflug auf Moskau-Sheremetyevo, nimmt die Anspannung zu. Hier hatte Edward Snowden 2013 öffentlichkeitswirksam um Asyl nachgesucht.

Auf der Fahrt vom Flughafen ins Zentrum Moskaus wird klar, dass die Verwestlichung der russischen Alltagskultur inmitten internationaler Modegeschäfte, Fast-Food-Ketten und Kaffeehäuser weit fortgeschritten ist. Zwar mag die Ukraine-Krise als Katalysator einer wirtschaftspolitischen Hinwendung in Richtung Asien wirken, doch die russische Hauptstadt präsentiert sich europäisch. Ein Besuch im prunkvoll restaurierten Bolschoi-Theater bestätigt Moskaus kulturelle Verwurzelung im Westen. Die von Stalin zerstörte, nunmehr wieder errichtete Christ-Erlöser-Kathedrale ist das Symbol einer Jahrhunderte währenden Beziehung zu Europa. Dennoch erscheint der Ansturm auf die sonntägliche Messe als ein Kontrast zur säkularen westlichen Gesellschaft. Russlands religiöses Wiedererwachen, einschließlich propagierter Rückbesinnung auf Tolstoi und den Mythos des „Dritten Roms“, verträgt sich nur schlecht mit den Provokationen von „Pussy Riot“, auch wenn die jüngere Generation mit Kirchenbesuchen eher ein sporadisches Treffen mit Freunden verbindet, wie mir ein junger Russe versichert.

 

Russisches „Post-Versailles-Syndrom“

An die prekäre außenpolitische Situation erinnert zunächst wenig. Höchstens die Radiomeldungen während der gelegentlichen Taxifahrten gehen konkret darauf ein. Das russische Volk akzeptiert den starken Mann an der Spitze, mit Außenpolitik möchte und kann man sich nicht detailliert auseinandersetzen. Sie scheint einer kleinen, abgeschirmten Gruppe von Entscheidungsträgern vorbehalten zu sein. Selbst die Mitarbeiter der früheren sowjetischen Vorzeigeeinrichtung, des Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen (IMEMO), schätzen ihren Einfluss auf Russlands Außenpolitik als gering ein. An dem Bürogebäude nagt der Zahn der Zeit. Von den ehemals 500 Analysten globaler Außenpolitik verwalten heute noch 100 Mitarbeiter den imperialen Nachlass. Eine Europaexpertin des Instituts, die sich als Unterstützerin eines westlich ausgerichteten Russlands vorstellt, argumentiert, dass Dmitrij Medwedew im Gegensatz zu Wladimir Putin ehrlich um außenpolitische Entspannung bemüht gewesen sei. Und dennoch habe der Westen die psychologischen Bedürfnisse Russlands nie verstanden. Eine Anerkennung als gleichwertiger Partner sei lange Zeit das zentrale Ziel Putins gewesen. Die derzeitige politische Stimmung in Moskau beschreibt sie als „Pendeln“ zwischen einem „Post-Versailles-Syndrom“ und einem „Post-Weimar-Syndrom“; zwischen einer gefühlten Demütigung und der Angst, dass Russlands Schwäche innen- und außenpolitisch ausgenutzt werden könnte.

Unter der Oberfläche offizieller Kampfansagen ist wenig von Enthusiasmus und Zuversicht zu spüren. Der täglich fallende Kurs des Rubels erinnert auch Befürworter expansiver russischer Außenpolitik an den Preis, den Russland im Zuge der Ukraine-Krise zu entrichten hat. Auch sie wissen, dass Russland am kürzeren ökonomischen Hebel sitzt. Dabei entspricht der Kontrast zwischen glitzernder Konsumwelt und wirtschaftlicher sowie demografischer Stagnation den defensiv-ängstlichen Befürchtungen hinter den zur Schau gestellten Großmachtambitionen. Dennoch ist sowohl der Wille zur Behauptung eigener Standpunkte als auch die Empörung über mangelnde Anerkennung russischer Interessen die entscheidende Triebfeder nicht nur streng konservativer Kreise. Gegen die Übermacht amerikanischen Geldes zur Unterstützung pro-westlicher Eliten könne Russland nur wenig ausrichten, erklärt mir ein Professor der für die Ausbildung russischer Botschafter zuständigen Diplomatischen Akademie. Der Verweis auf die „Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes“ sei der Versuch, amerikatreuen Eliten in der Ukraine zur Macht zu verhelfen. Der Professor ist sich sicher, dass es den Vereinigten Staaten um eine Verhinderung der „Achse Berlin-Moskau-Tokio“ gehe. Russlands christlich-orthodoxe Werte seien dem moralischen Nihilismus des Westens vorzuziehen. Mit Befremden stellt der Professor fest, dass die westliche Empörung über den Umgang mit Homosexuellen und deren gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber Russland „viel extremer“ ausfalle als gegenüber Polen und Kroatien.

Eine nicht geringe Zahl junger russischer Konferenzteilnehmer spart dagegen nicht mit Kritik an der russischen Innen- und Außenpolitik. Die negative demografische Entwicklung bleibe trotz staatlicher Interventionen bestehen; die Außenpolitik Russlands sei arm an innovativen Ideen; die Versuche, sowohl die NATO als auch die Europäische Union mit eigenen regionalen Organisationen zu kopieren, seien unbeholfen. Doch auch unter diesen eher kritischen Stimmen haben die Einwände gegen den Führungsstil Putins Grenzen. Das wird besonders an der Verurteilung der „anarchischen“ Verhältnisse während der Präsidentschaft Boris Jelzins deutlich. Demzufolge wird die Zentralisierung russischer Innenpolitik unter Putin oftmals als „alternativlos“ empfunden. Einzelne Vorträge vermitteln den Eindruck, dass Russlands Außenpolitik eher einem inkonsistenten Ad-hoc-Muster folgt, das vom Westen oftmals als strategisch und offensiv interpretiert wird.

 

Hardliner machen Druck auf Putin

Die westliche Sanktionspolitik wird auch bei Kritikern russischer Außenpolitik zwiespältig aufgenommen, obwohl anerkannt wird, dass die Maßnahmen des Westens den russischen Vormarsch im Südosten der Ukraine gestoppt haben. Ein europapolitischer Experte eines pro-westlichen Think-Tanks ist überzeugt, dass die Sanktionen Putin entgegenkommen, da sie von den wirtschaftlichen Reformen der Vorjahre ablenkten. Er ist sich sicher, dass Putin von ambitionierten Hardlinern unter Druck gesetzt werde und nennt Namen wie Sergej Iwanow, Anatolij Antonow und Sergej Schoigu. Innenpolitisch bestehe daher die Gefahr, dass sich bei einer Wiederannäherung Putins an den Westen ein Vakuum am rechten Rand bilden könnte.

 

Auf Interessenausgleich setzen

Ein Konferenzteilnehmer erklärt mir gegenüber, dass er die moralische Standfestigkeit des Westens und das politische Engagement des Arbeitskreises beachtlich finde, aber merkt an, dass eine zu unflexible Haltung gegenüber Russland wenig Spielraum für Konfliktlösungen biete. Die zentrale Botschaft der russischen Konferenzteilnehmer lautet, dass „Putin nun mal da sei“ und einzig eine auf Interessenausgleich basierende Politik des Westens für die nötige Stabilität im Verhältnis zu der ehemaligen Supermacht sorgen könne – auch, weil Russlands „Paranoia“ nicht nur mit der Person Putins zu erklären sei, sondern sich aus historischen Narrativen speise, wie eine junge Mitarbeiterin von IMEMO betont. Im Hinblick auf gemeinsame Herausforderungen im Nahen und Mittleren Osten sei es zudem unabdingbar, miteinander zu kooperieren. Die Befürchtung, dass Russland sich bei anhaltenden Sanktionen in ein von der Außenwelt abkapselndes „zweites Weißrussland“ mitsamt seiner repressiven Innenpolitik verwandeln könnte, mag ein weiterer Grund für die Befürwortung eines westlichen Einlenkens sein.

Dennoch scheint die Kritik der Konferenzteilnehmer am Kurs Wladimir Putins nur wenig mediales und politisches Interesse zu wecken. Politik wird im Kreml gemacht. Und dieser wird von der russischen Volksvertretung nach Kräften unterstützt. Mit nur einer Gegenstimme sei die Ukraine-Resolution des Kreml vom Parlament angenommen worden, verkündet ein sichtlich zufriedener Duma-Abgeordneter der Partei Einiges Russland. Der Westen müsse verstehen, dass Revolutionen schlecht seien. So sei es im Oktober 1917 gewesen. Und so sei es jetzt in der Ukraine. Eine positive Ausnahme bilde dagegen die friedliche Revolution in der DDR, die er, wie auch andere Russen, mit der „Wiedervereinigung der Krim und Russlands“ vergleicht.

 

Von der Schicksalsgemeinschaft zur Isolation

Später, bei einem abendlichen Empfang russischer Universitätsprofessoren, bestätigt sich der allgemeine Eindruck, dass sowohl die politische Elite als auch die russische Bevölkerung insgesamt positiv über Deutschland, den „wirtschaftlichen Motor Europas“, denken. Es wird anerkannt, dass sich die deutsche Außenpolitik von der amerikanischen und polnischen Außenpolitik in der Vergangenheit „deutlich unterschieden“ habe. In Gesprächen zur deutschen Geschichte trennt man säuberlich zwischen „Nazis“ und „Deutschen“. Überhaupt ist der „Kampf gegen den Faschismus“ das dominierende Thema im Moskau dieser Tage. So wird der von allen Russen verinnerlichte und identitätsstiftende Antifaschismus aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges heute als pauschale Rechtfertigung russischer Außenpolitik gegenüber dem „kleinrussischen Brudervolk“ der Ukraine in Stellung gebracht. Umso enttäuschter ist man darüber, dass die deutsche Politik der gewaltsamen Revolution „ukrainischer Faschisten“ ihre Unterstützung zugesagt habe. Dabei gebe es Anknüpfungspunkte, wie Professor Nicolaj Pawlow vom Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO-Universität) nicht müde wird zu betonen. Seit Katharina der Großen hätten es Deutsche in hochrangige Positionen des zaristischen Russlands geschafft. Zusammen habe man Napoleon besiegt. Und dann seien da ja noch Kohl und Gorbatschow. Deutschland und Russland, so soll an diesem Abend deutlich gemacht werden, bilden durch ihre geografische Nähe und ihre gemeinsame Vergangenheit auch jenseits unterschiedlicher gesellschaftlicher Wertesysteme eine Schicksalsgemeinschaft. Daraus erwachse eine gemeinsame Verantwortung für den Frieden in Europa.

Bis zur Rückreise in das nur drei Flugstunden entfernte Berlin hat sich manche Befürchtung bestätigt. Obwohl es durchaus kritische Stimmen gerade auch unter jungen Russen gab, scheint eines gewiss: Russlands außenpolitische Doktrin orientiert sich trotz betonter Realpolitik nicht ausschließlich an wirtschaftlichen und militärischen Realitäten, sondern auch an seinen einstigen heroischen Siegen gegen Napoleon und Hitler. Zu Eingeständnissen eigener Fehler wird es bei einer Nation, die sich mehrheitlich als historischer Retter Europas versteht, nur schwerlich kommen. Stattdessen scheint man sich in Moskau auf eine Zeit internationaler Isolation einzurichten. „Letztlich habe Russland“, so fasste es ein russischer Konferenzteilnehmer resigniert zusammen, „nur zwei Verbündete: seine Armee und seine Marine.“

 

Ingmar Zielke, geboren 1985 in Berlin, Stipendiat und Mitglied im Arbeitskreis Junge Außenpolitiker der Konrad-Adenauer-Stiftung, Doktorand am King’s College London.

 

Die Reportage vermittelt die Eindrücke über die Konferenz des Arbeitskreises Junge Außenpolitiker der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Thema „Das deutsch-russische Verhältnis – eine strategische Partnerschaft?“ vom 1. bis 4. Oktober 2014 in Moskau und anschließenden Recherchen für die Doktorarbeit „NATO-Russian Missile Defence Diplomacy after the Cold War“ am Londoner King’s College. Die fehlende Identifizierung einzelner Quellen folgt der „Chatham House Rule“ der Konferenz.

Im Namen des Arbeitskreises Junge Außenpolitiker möchte der Autor Claudia Crawford und ihrem Team der Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau für die Organisation der Konferenz danken. Ein weiterer Dank gilt Christian Rieck für seine wertvollen Hinweise bei der Ausarbeitung des vorliegenden Erfahrungsberichts.

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