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Wie die arabischen Gesellschaften den Westen sehen

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Das Bild vom Westen in der arabischen Welt ist von Ambivalenz gekennzeichnet. Einerseits bewundert man vor allem den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt sowie die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie, die innerhalb westlicher Staaten praktiziert werden. Andererseits wird jedoch das Verhalten des Westens außerhalb der eigenen Grenzen – vor allem in der arabischen Welt – stark kritisiert und mit tiefer Skepsis beäugt.

Unter dem Überbegriff „Westen“ versteht man im Nahen und Mittleren Osten heute oft nicht allein die USA und Europa, sondern meist auch Israel. Denn die Staatsgründung Israels wurde weithin als ein Mittel des Westens interpretiert, seinen Einfluss in der Region des Nahen und Mittleren Ostens auch nach dem Ende der Kolonialherrschaft zu sichern.

Es existieren vor allem drei Deutungsweisen, die aber alle dasselbe „traumatische“ Ereignis zum Ausgangspunkt nehmen: den Verrat des Westens an den Arabern im frühen 20. Jahrhundert.

Während die Briten im Ersten Weltkrieg vorgaben, die arabische Unabhängigkeitsbewegung gegen das Osmanische Reich zu unterstützen, und zusicherten, dass nach einem gemeinsamen Sieg ein arabischer Großstaat unter Führung der Haschemiten entstehen würde, trafen sie gleichzeitig Geheimabsprachen mit Frankreich. Im Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916 teilten sie bereits vorab die arabischen Provinzen des Osmanischen Reichs untereinander auf. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zogen sie dementsprechend die heutigen Staatsgrenzen der arabischen Länder und wiesen diese auf der Konferenz von San Remo 1920 entweder einer britischen oder französischen Einflusszone zu.

Der Unabhängigkeitskampf gegen die europäischen Kolonialmächte, der darauf folgte und Mitte des 20. Jahrhunderts in die Erlangung der Unabhängigkeit aller arabischen Staaten mündete, ging als zentrales Moment in die Gründungsmythen der einzelnen arabischen Länder ein und prägt dort bis heute das nationale Selbstverständnis. Immer wieder wird auf die vermeintlich stetige Bedrohung der arabischen Welt durch den Westen rekurriert, der die Region kontinuierlich zu schwächen und zu unterwerfen suche.

 

Der Westen als wirtschaftliche Bedrohung

Nach Erlangung der vollen Unabhängigkeit wurden die vermeintlich drohende Gefahr, die vom Westen für die arabische Welt ausgehe, sowie der nötige Widerstand gegen den Westen vor allem mit ökonomischen Vokabeln ausgedrückt. Das war die Zeit des arabischen Nationalismus unter der Führung des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser. Er setzte sich zunächst mit der Verstaatlichung des Suezkanals 1956 gegen die ehemaligen Kolonialmächte zur Wehr. Die Einnahmen aus den Nutzungsgebühren bilden bis heute eine der bedeutendsten Geldquellen des ägyptischen Staates. Fortan brachte Nasser den arabischen Nationalismus – der ursprünglich vor allem die politische Unabhängigkeit vom Westen zum Ziel hatte – zunehmend auch gegen die westliche Wirtschaftsordnung des Kapitalismus in Stellung. Dies drückte sich im „arabischen Sozialismus“ aus, der beispielsweise durch die Errichtung einer Planwirtschaft und durch eine Abschottung der Märkte – zur Vermeidung einer „Überflutung“ mit westlichen Gütern – die Genesung der ägyptischen Wirtschaft herbeiführen sollte. Weitere Staaten in der Region folgten dem ägyptischen Vorbild und erzielten so zunächst einen wirtschaftlichen Aufschwung. Dieser schien zu suggerieren, dass die arabische Welt dem Westen – wirtschaftlich gesehen – bald auf Augenhöhe entgegentreten könne.

 

Furcht vor kultureller Unterwerfung

Spätestens in den 1970er-Jahren kam es in den Ländern des „arabischen Sozialismus“ jedoch zu massiven wirtschaftlichen Krisen. Nun wurden eine sukzessive Öffnung arabischer Märkte für westliches Kapital und westliche Güter sowie eine graduelle Rückkehr zur Marktwirtschaft eingeleitet. Die wirtschaftliche Öffnung gegenüber dem „alten Feind“, dem Westen, ging auch mit einer politischen einher. Nachdem die arabische Welt es nach ihrer Unabhängigkeit zunächst strikt abgelehnt hatte, sich in ihrer Außenpolitik von westlichen Interessen vereinnahmen zu lassen, kam es in den 1970er-Jahren zu einer Kehrtwende. Vorreiter war erneut Ägypten, das sich unter Nassers Nachfolger Anwar as-Sadat zu einem der zentralen Partner der USA im Nahen und Mittleren Osten entwickelte. Das basierte vor allem auf dem durch die USA vermittelten ägyptischen Friedensschluss mit Israel von 1979, der Ägypten regelmäßige, beträchtliche US-Hilfszahlungen bescherte. Während sich auf realpolitischer und wirtschaftlicher Ebene eine 180-Grad-Wende vollzog und auch einige weitere Staaten eine „pro-westliche“ Haltung einnahmen, blieb das Feindbild des Westens in den arabischen Bevölkerungen bestehen. Allerdings vollzog sich eine Umdeutung von der wirtschaftlichen auf die kulturelle Ebene. Zunächst wurde dies auch von staatlicher Seite vorangetrieben, allen voran in Ägypten, damit sich die Machthaber auch nach ihrem Kurswechsel weiterhin mit der alten Logik – als Kräfte, die dem Westen die Stirn böten – legitimieren konnten: Demnach war der Westen eine Macht, von der Werte- und Moralzerfall ausgingen. Durch den Import seiner Kultur in die arabische Welt versuche der Westen, die muslimischen Gesellschaften, ihre Kultur und ihre sozialen Strukturen zu schwächen und zu unterwerfen. Abwenden könne man diese Gefahr nur durch die Stärkung der eigenen, islamischen Wert- und Moralvorstellungen, die den westlichen klar überlegen seien. Naturgemäß kam diese – zunächst staatlich geförderte Sichtweise – den islamistischen Kräften zugute, die seit den 1970er-Jahren an Popularität gewannen und die die Sicht der arabischen Gesellschaften auf den Westen als „moralisch verdorben“ in den kommenden Jahrzehnten weiterhin prägten.

 

„Terror des Despotismus”

Um die Jahrtausendwende etablierte sich in den arabischen Bevölkerungen eine dritte Sicht auf den Westen. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der dritten Welle der Demokratisierung in den 1990er-Jahren begann die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auch in der arabischen Welt zuzunehmen und spitzte sich ab 2000 zu. Es entstanden pro-demokratische Protestbewegungen, die schließlich 2010/11 im Arabischen Frühling mündeten. Die Forderung nach einem Ende des Autoritarismus wurde dabei mit einer starken Kritik am Westen verknüpft: Der Westen habe die autoritären Regime der Region jahrzehntelang gestützt, um die Region durch den „Terror des Despotismus“ zu schwächen und um somit leichtes Spiel bei der Durchsetzung der eigenen Interessen im Nahen und Mittleren Osten zu haben. Was der Westen für die eigenen Bürger gelten ließ – Rechtsstaatlichkeit und Demokratie –, verwehre er den Menschen in der arabischen Welt. Tatsächlich verknüpfte beispielsweise die ägyptische Protestbewegung von ihren Anfängen im Jahr 2004 an innenpolitische Forderungen nach Demokratisierung explizit mit der Forderung nach einer außenpolitischen Emanzipation vom Westen, der eine Demokratisierung – ganz nach der Devise „autoritäre Stabilität für Sicherheit“ – zu verhindern schien. Zu Beginn des Arabischen Frühlings hatten sich somit nicht nur die autoritären Herrscher in der Region, sondern auch der Westen, der sie allzu lange gestützt und hofiert hatte, diskreditiert.

 

Chance für einen Neuanfang?

Nach den Präsidentenstürzen von 2010/11 war der Westen darauf bedacht, seine Befürwortung und Unterstützung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch außerhalb seiner eigenen Grenzen – und vor allem in Ägypten und Tunesien – durch finanzielle wie politische Unterstützung zu signalisieren. Prinzipiell eröffnen die politischen Umbrüche in der arabischen Welt dem Westen einen neuen Umgang mit der Region und somit potenziell auch eine Verbesserung seiner Wahrnehmung in der arabischen Welt. Für eine verbesserte Verständigung müssten sich jedoch beide Seiten aufeinander zubewegen. Während die USA und Europa in erster Linie ihre Glaubwürdigkeit als Verfechter von Demokratie und Rechtsstaat wiederherstellen müssten, so müsste die arabische Welt das stetige Heraufbeschwören von Bedrohungsszenarien hinter sich lassen. In Ägypten allerdings sieht die Realität momentan anders aus. Seit der Absetzung des Muslimbrüder-Präsidenten Mohammed Mursi durch das Militär sind ägyptische Zeitungen gespickt mit Artikeln über vermeintliche geheime Koalitionen zwischen Muslimbrüdern und den USA beziehungsweise Europa. Ihr gemeinsames Ziel sei es, Ägypten in eine islamistische Terrorwelle, in Chaos und Verderben zu stürzen. Pragmatischer müsste der Diskurs also werden – und zwar auf beiden Seiten. Denn auch im Westen müssten beispielsweise Vorstellungen darüber, dass die arabische Welt per se – entweder aufgrund des Islam oder aufgrund des oft geringen Bildungsgrads ihrer Bürger – demokratieunfähig sei, überdacht werden.

 

Annette Ranko, geboren 1980 in Bonn, Altstipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung, wissenschaftliche Mitarbeiterin am GIGA Institut für Nahost-Studien, Studienpreisträgerin 2013 der Körber-Stiftung für ihre Dissertation über die Muslimbruderschaft.

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