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picture alliance / United Archives | United Archives / kpa
Zunächst nur Duellanten mit Worten: Lodovico Settembrini (links, dargestellt von Flavio Bucci) und Leo Naphta (Charles Aznavour) in der „Zauberberg“-Verfilmung von 1982.

Die hitzigen Debatten zwischen beiden handeln von Frieden, Macht, Religion, Geschichte und der Funktion des Individuums. Wobei deutlich wird, dass aufgrund ihrer diametral entgegengesetzten Denkweisen ein Konsens auszuschließen ist: Für Settembrini lässt sich der ‚Frieden‘ nicht unabhängig von einem vernunftorientierten Fortschritt und rationalen Dialog denken; Naphta hingegen glaubt, ‚Frieden‘ könne es nur geben, wenn der Mensch sich dem Absoluten unterwirft. Dieser Disput kann zuletzt nur in einem absurden (gewaltbereiten) Schlagabtausch, einem Duell, kulminieren, den Naphta sozusagen für sich entscheidet, indem er seinem Leben selbst ein Ende setzt.

 

„Unselig ist dieser Frieden, ärger als jeder Krieg“

Was es bedeutet, wenn die ‚Einstimmigkeit‘ einer Gesellschaft nach außen hin zwar offiziell behauptet, aber von ‚innen‘ her nicht gegeben ist, hat zum Beispiel der albanische Autor Ismail Kadare in vielen seiner Werke aufgezeigt und literarisch verarbeitet. Ein hegemonial etablierter Konsens (absoluter Art), wie er etwa in autokratischen Systemen typisch ist, erlaubt, wenn überhaupt, nur einen Scheindisput zwecks eigener Machtaufrechterhaltung. Wenn öffentlicher Widerspruch nicht mehr möglich ist, wenn also Konsens und Disput nicht mehr koexistieren können, sondern radikal voneinander entkoppelt werden, wie etwa im albanischen Kommunismus der Jahre 1944 bis 1990, droht Erstarrung oder ‚kommunikative Apathie‘ (in Anlehnung an Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns). Wenn nur noch ein extremer ‚Konsens‘ das Miteinander bestimmt (im Sinne eines: so und nicht anders), verkommen Demokratien zu technokratischen Regimen, die keine (politische) Opposition mehr kennen.

In diesem Sinne kann im Werk Kadares ein Satz wie dieser fallen: „Unselig ist dieser Frieden, ärger als jeder Krieg.“ Denn der ‚Frieden‘ kann täuschen und entpuppt sich mit der Zeit mehr als eine listige ‚Ruhe vor dem Sturm‘. Wie in Kadares Roman Die Brücke mit den drei Bögen: Der albanische Mönch Gjon beschreibt im Jahre 1378 den Bau einer Brücke, die sich, wie eine alte Frau im Dorf es prophezeit, als „das Rückgrat des Teufels“ erweisen wird, weil sie, sobald sie steht, den osmanischen Soldaten die Überfahrt nach Europa ermöglicht und damit eine jahrhundertelange Okkupation des Balkans durch die Osmanen einleitet. Doch weil trotz der Besetzung noch ‚Ruhe‘ herrscht, alles beim Alten zu bleiben scheint, ziehen die albanischen Grafen, die sich konformistisch zeigen und sich zu osmanischen Vasallen machen lassen, über die Warner her: „Habt ihr nicht behauptet, sagten sie, der Türke werde uns vernichten, ausplündern, in Schande setzen? Aber wir sind noch immer die Herren über unsere Gebiete. Unsere Burgen stehen noch am Platz, unsere Wappen, unsere Ehre und unsere Güter hat man nicht angetastet.“

Vielleicht vergleichbar mit Christa Wolfs Kassandra, wo es heißt: „Wann der Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg? […] Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen.“ Durch die Ausgrenzung des kritischen Diskurses oder das Nichternstnehmen der Warner (Kassandra erkennt den drohenden Untergang Trojas, wird aber nicht gehört) kommt es zur Katastrophe. Daher, so ließe sich mit einem weiteren Zitat aus dem Werk Kadares (Doruntinas Heimkehr) abschließend sagen, ist es besser, „Unstimmigkeiten auszutragen, als sie im Zeichen der Vermeidung sichtbaren Streits zu unterdrücken, denn Zank mündete schließlich stets wieder in Versöhnung, während Hader, der gar nicht richtig zum Ausbruch“ kommt und daher unverarbeitet bleibt, „auf einen Anlass der Bekundung“ wartet, „und da sich solche Bekundungsanlässe in der Regel zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort“ ergeben, sind „die Auswirkungen wesentlich verdrießlicher als die eines gewöhnlichen Streites“. Wie wäre es also, wenn der alljährlich in der Frankfurter Paulskirche vom Börsenverband des Deutschen Buchhandels verliehene Friedenspreis um die Verleihung eines Preises an Vertreter einer würdigen Streitkultur ergänzt würde?
 

Kaltërina Latifi, geboren 1984 in Pristina (Kosovo), ist eine schweizerisch-deutsche Literaturwissenschaftlerin und Publizistin. Seit 2021 ist sie Kolumnistin für die Schweizer Wochenzeitschrift „Das Magazin“, derzeit lehrt sie als Privatdozentin am Institut für Germanistik der Universität Bern.